Susanne Strittmatter, Matthias Strittmatter et al.: Fallende Sterne
Rezensiert von Prof. Dr. Bernhard M. Hoppe, 26.03.2025

Susanne Strittmatter, Matthias Strittmatter, Yaron Windmüller: Fallende Sterne. Chronologie eines unplötzlichen Kindstods. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2024. 144 Seiten. ISBN 978-3-7455-1182-6. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR.
Thema
Das Thema der Publikation ist das Leben von Maurice Windmüller (1942-1944), Cousin des Autors Yaron Windmüller. Maurice wurde Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung in den von den Deutschen besetzten Niederlanden. Er wurde nur knapp neunzehn Monate alt.
Autor
Yaron Windmüller wurde 1956 in Israel geboren, er ist Opernsänger und lebt seit 1979 in Deutschland. Seit 1997 ist er Professor an der Hochschule für Musik Saar, von 2001–2006 war er daneben Leiter des Opernstudios an der New Israeli Opera in Tel Aviv. 2010 traf er die Entscheidung, selbst keine Konzerte mehr zu geben, sondern sich ganz der Ausbildung junger Sänger zu widmen (https://www.hfmsaar.de/personen-details/​yaron_windmueller).
Die Mitautorin Susanne Strittmatter wurde 1971 in Lübeck geboren und arbeitet nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften jetzt in Saarbrücken im sozialen Sektor als Lehrkraft. Der Mitautor Matthias Strittmatter wurde 1962 in Mannheim geboren. Er studierte Humanmedizin in Freiburg und ist jetzt als Chefarzt für Neurologie und Ärztlicher Direktor in Merzig tätig. Ihm sind mutmaßlich die instruktiven Einordnungen in entwicklungspsychologische und neurologische Zusammenhänge zu verdanken (https://athena-verlag.de/autorinnen/).
Entstehungshintergrund
Die Verlegung eines Stolpersteins für Maurice in Emden war für Yaron Windmüller Anlass, sich näher mit dem Leben seines Cousins zu befassen, der in der Familiengeschichte vorher nur am Rande präsent war. Daneben wird aber wiederholt deutlich, dass auch die derzeit stärker werdenden antisemitischen Tendenzen in der Gesellschaft Anlass für das Schreiben des Buches waren.
Aufbau und Inhalt
Der Erzählung des Lebens von Maurice Windmüller ist ein Vorwort des Autors Yaron Windmüller vorangestellt. Darin berichtet er von seinen Recherchen und den Schwierigkeiten, ein Kinderleben von 19 Monaten „zu verstehen“ (Seite 11) – ein Terminus, der an dieser Stelle des Hinterfragens würdig ist. Darüber hinaus wird ein Bezug auch zur Gegenwart und insbesondere zum Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hergestellt.
Im Hauptteil erzählt Maurice als Ich-Erzähler sein eigenes kurzes Leben in 47 größtenteils kurzen Kapiteln.
Er stellt einen Prolog voran, in dem er berichtet, dass sein Leben in einer langen Tradition stand, auch wenn er selbst nur knapp neunzehn Monate alt geworden sei. Es sei ein kurzes Leben gewesen, aber mit vielen Erfahrungen: „Ich bin Maurice. Ich bin mehr als ein Stolperstein. Mein Leben währt neunzehn Monate. Es reicht für hundertneunzig Jahre“ (Seite 18).
Maurice wird am 14.7.1942 in Groningen geboren, die Wurzeln seiner Familie liegen aber in Emden. Maurices Eltern, Ruth Windmüller-Kornblum und Salomon Windmüller, werden am 12.11.1942 in dem „Polizeilichen Judendurchgangslager Westerbork“ inhaftiert, von dort aus werden sie am 30.11.1942 nach Auschwitz deportiert. Die Mutter wird am 3.12.1942 ermordet, der Vater stirbt an „Entkräftung“ am 31.3.1943. Maurice bleibt bei den Pflegeeltern Leo Weersing und dessen Partnerin in Groningen. Die auch im Buch (Seite 77) abgebildeten Fotos einer Familienidylle dieser Familie sind nach Aussage des Autors möglicherweise der Anlass einer Denunziation. Jedenfalls wird Maurice am 29.4.1943 in das Lager Westerbork gebracht, in dem vorher bereits seine Eltern inhaftiert waren. Dort lebt Maurice zehn Monate in einer Baracke für Waisenkinder. Aus dieser Zeit zeigt eine Fotografie (Seite 112) eine Chanukka-Kerzenzeremonie mit dem Lagerinsassen Leo Blumensohn, der sich um die Jugendlichen kümmert. Er hat überlebt und ist später nach Israel emigriert. Im Lager begegnet Maurice auch Etty Hillesum (1914-1943), die als Tagebuch- und Briefeschreiberin im deutschsprachigen Raum, vor allem unter dem Titel „Das denkende Herz der Baracke“ (erste deutsche Ausgabe 1983) das Bild des intellektuellen Lebens in der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Niederlanden prägte. Maurice erinnert sich: „Etty ist wohl das, was man einen guten Menschen nennt, einen herzensguten Menschen“ (Seite 90).
Für kurze Zeit scheint Maurice einen Ausweg zu erkennen: Clara Asscher-Pinkhof (1896-1984) will ihn in eine Gruppe von jüdischen Kindern aufnehmen, die sie nach Palästina in Sicherheit bringt. Die Rettung scheitert aber am Einspruch des Roten Kreuzes. Clara Asscher-Pinkhof hat später in ihrem Buch „Sterrekinderen“ (1946) auf die Leidensgeschichte jüdischer Familien in den seit 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzten Niederlanden aufmerksam gemacht. Die erste deutschsprachige Ausgabe ist 1961 unter dem Titel „Sternkinder“ im Cecilie Dressler Verlag in Hamburg mit einem Vorwort von Erich Kästner erschienen. Darin stellt er den Dokumentarwert des Buches neben den des Tagebuches der Anne Frank. Es wurde 1962 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Die „Sternkinder“ haben die Autoren des vorliegenden Bandes ganz offensichtlich inspiriert, insbesondere in der Erzählattitüde, die weniger das Leiden und die Opferrolle in den Mittelpunkt stellt, sondern die trotzdem aufkommende Lebensfreude der Kinder und der Jugendlichen.
Am 8.2.1944 wird Maurice deportiert, am 10.2.1944 erreicht der Zug Auschwitz, jede fünfte Person in dem Zug ist ein Kind. Am 11.2.1944 wird Maurice in der Gaskammer in Auschwitz ermordet: „Knapp eine Million Menschen stirbt in Auschwitz im Giftgas in den Jahren 1942 bis 1944. Einer dieser Menschen bin ich“ (Seite 128).
Die vorgestellte Lebensgeschichte von Maurice wird immer wieder durch zeitgeschichtliche Bezüge in ihren historischen Kontext gestellt, zum Beispiel zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, zur Sportpalastrede von Joseph Goebbels am 18. Februar 1943, zur Großrazzia unter der jüdischen Bevölkerung in Amsterdam am 20. Juni 1943 und zur Posener Rede von Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943.
Den Abschluss bilden ein Epilog, ein „Abspann, den Blick in das zukünftige Heute“ und eine Genealogie der Familie, in der berichtet wird, dass die Familie, die einen Schlachtereibetrieb führte, bereits 1937 nach dem Verbot des Schlachtens nach dem jüdischen Ritual von Emden nach Groningen übergesiedelt war.
Zahlreiche Fotografieren, darunter eine des Stolpersteins in Emden (Seite 11), der Anlass zu der dem Buch zugrundeliegenden Recherche war, und Reproduktionen von Archivalien tragen viel zum Verständnis des Berichteten bei. Darüber hinaus wird der Text mit einer wiederkehrenden Zeichnung eines Dreidels, eines Kreisels mit hebräischen Schriftzeichen auf vier abgeflachten Seiten, illustriert.
Diskussion
Die Stärke des Buches sind die Personalisierung und Individualisierung eines Schicksals der in den Lagern des Komplexes Auschwitz-Birkenau von 1940 bis 1945 ermordeten rund 1,1 Millionen Menschen. Damit trägt die Erzählung viel dazu bei, diese zunächst sehr abstrakt scheinende Zahl insbesondere für den Bildungsprozess anschaulich zu machen.
Die Entscheidung, die Lebenserzählung in der Ich-Form wiederzugeben, erscheint auf den ersten Blick vielversprechend und originell. Im Lauf der Erzählung werden aber die engen Grenzen dieser Erzählperspektive deutlich: Zwangsläufig und sehr zu Recht werden Bilder, Texte und intertextuelle Bezüge zur Erklärung und zur Vertiefung herangezogen, von denen Maurice nichts wissen und die er erst recht nicht reflektieren konnte. Dies führt immer wieder zu einem Bruch des Narrativs, der zu Inkonsequenten führt. Obwohl diese Schwierigkeit wiederholt reflektiert wird, zum Beispiel auf Seite 22 als allgemeines Problem und auf Seite 24 zur Einbeziehung eines Fotos als Quelle der Erzählung, drängt sich dem Rezensenten die Frage auf, warum nicht in einer neutralen auktorialen Erzählperspektive oder in der Perspektive der Eltern oder der Großeltern das Geschehen vorgestellt wurde.
Literarisch liegt dabei die Besonderheit des Textes vor allem darin, veranschaulichen zu können, wie treffend jenseits der traditionellen Metapher der „Sternkinder“ für frühverstorbene Kinder, aber auch für den Zwang, den Judenstern zu tragen, die Vanitasmotive und die Motive der vermeintlichen Vergeblichkeit existenzialistischer Konzepte in der Lyrik bei Rainer Maria Rilke (fallende Sterne, die/quer wie Pferde durch die Himmel sprangen/über plötzlich hingehaltene Stangen/​unsrer Wünsche, Fallende Sterne, 1924) und Ingeborg Bachmann (An langen Tagen sät man uns ungefragt/in jene krummen und geraden Linien,/und Sterne treten ab, Sterne im März, 1953) individualisiert auf die Geschichte der Shoa übertragen werden können.
Fazit
Der Verdienst des Buches ist die ebenso instruktive wie auch emotional anrührende Darstellung des Lebens von Maurice Windmüller und deren Einbettung in die Zeitgeschichte. Gerade in einer Zeit, in der Zeitzeugen nur noch in geringem Umfang zur Verfügung stehen und der zeitliche Abstand zur Generation der Täter und der Opfer das Geschehen im familiären Gedächtnis zu verblassen scheint, ist eine über den rein faktischen Rahmen hinausgehende Darstellung eines Einzelschicksals eindrucksvoll. Ob aber die Erzählform der Ich-Erzählung eines Säuglings die wirklich angemessene Form darstellt, muss dahingestellt bleiben.
Rezension von
Prof. Dr. Bernhard M. Hoppe
Hochschule Mittweida und Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
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