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Andreas Reckwitz: Verlust

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 08.11.2024

Cover Andreas Reckwitz: Verlust ISBN 978-3-518-58822-2

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne | Die erste umfassende Studie zum zentralen gesellschaftlichen Thema Verlust. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. 463 Seiten. ISBN 978-3-518-58822-2. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 42,90 sFr.

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Thema

Ob der Fortschrittsanspruch der westlichen Moderne angesichts der inzwischen spürbaren Verluste aufrecht erhalten werden kann.

Autor

Andreas Reckwitz ist Professor für allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin und veröffentlicht seit Jahren zu sozialen und politischen Themen: »Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel in der Moderne«, »Das Ende der Illusionen. Politik. Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne«, »Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne« und (mit Hartmut Rosa) »Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?«.

Entstehungshintergrund

Hintergrund für den vorliegenden Titel ist das Grundproblem der Moderne: Der Verlust.

Aufbau

Der Autor beschäftigt sich im ersten Teil mit den Verlusten der Moderne beschreibt im zweiten die Verlustparadoxie der Moderne (Fortschrittsimperativ und Verlust) und im dritten die schubweise Verlusteskalation der Moderne.

Es folgt ein Ausblick: Die Moderne reparieren?

Inhalt

Einleitung

Nach dem Scheitern eines unrealistischen ungebremsten Fortschrittsglaubens (Kapitalismus und Wirtschaftswachstum auf Kosten von…?) mehren sich die Verlusterfahrungen begleitet von Gefühlen wie Trauer, Angst und Scham bis hin zu Wut Empörung und Verbitterung. Es findet eine Fokussierung auf Verluste statt, aber auch eine Verlustinvisibilisierung. Wie kann es weitergehen, wenn Verlust und Fortschritt aus dem Gleichgewicht geraten?

Erster Teil: Was sind und wie wirken Verluste?

Im Extrem bricht im Verlust eine ganze Welt zusammen, und mit ihr das Selbst. Zentrale Bedeutung haben bei Verlusten Zeitlichkeit, Narrativität und Affektivität.

Verlust als soziales Phänomen

Reckwitz beschreibt soziale Praktiken (Verschränkungen von Akteuren und Strukturen), ihre Vergänglichkeit, die Normalität des Verschwindens und das soziale Vergessen je nach negativer oder positiver Bindung, da eine emotionale libidinöse Bindung die Voraussetzung für eine Verlusterfahrung ist. Praktiken im Umgang mit Verlust (rechtlich oder künstlerisch-ästhetisch, politisch, privat oder psychologisch) werden beschrieben. Die moderne Bezogenheit auf das Selbst verführt die gesellschaftliche Form (z.B. Verlustgemeinschaften) zu übersehen. Verlustnarrative, auch soziale wecken und unterstützen Affekte. Verlusttypen sind Verlust von Menschen, Dingen, Räumen, Status, Kultur, Heimat (bis zur transzendentalen Obdachlosigkeit) und wecken ein Gefühl von Scheitern und Niederlage.

Zeitstrukturen, Emotionen, Arenen

Es folgen Überlegungen zu Erinnerung und Gedächtnis, Verlustantizipation und Zukunftsverlust, zu – auch sozialen – Emotionen und Affekten (Trauer, Angst, Wut, Empörung, Scham, Verbitterung und Ambivalenz).

Zweiter Teil: Die Verlustparadoxie der Moderne

Der Umgang mit Verlusten ist zu allen Zeiten eine menschliche Aufgabe.

Der Fortschrittsimperativ und seine Folgen

Der Fortschrittsglaube (Marx, Weber, Durkheim) mit seiner Logik der konsequenten Optimierung entpuppt sich nach Bourdieu als eine naive grundlegende Illusion (nach Löwith ein profanes ‚Heilsgeschehen‘). Verankert in Wissenschaft und Technik, in Ökonomie, Politik und Staat, kollektiv weitergegeben über Narrative, enthält er eine Kombination von Dynamik und Stabilitätsglaube; das Verlustsubjekt hingegen erlebt sich als im Kern verletzbar.

Zwischen Verlustreduktion und Verlustpotenzierung

Die Moderne hemmt und steigert Verluste durch Reduktion und Invisibilisierung, die zu Verlustpotenzierung und mangelnder Verarbeitung führt. Strukturell werden Verlusterfahrungen zunehmen durch Obsoleszenz (mangelnde Haltbarkeit), sozialen Wandel, die Vermarktlichung des Sozialen, Zunahme der Komplexität und systematischer Ausübung staatlicher Gewalt. Verlustsensibilisierung entwickelt sich in Erwartung der Zukunft emotional stärker als rational; Singularitätsprozesse widersprechen der Logik der Ersetzbarkeit.

Wie die Moderne die Verluste unsichtbar macht

Invisibilisierung und Relativierung von Verlusten findet durch Narrative statt (z.B. Kollateralschäden, Ausnahmeerscheinung, vorübergehendes Phänomen). Es gibt eine strukturelle Neigung zum Vergessen, eine soziale Exklusion der ‚Verlustunwürdigen‘ und eine Logik der Ersetzbarkeit, ein Stigmatisierung von Verlierern und Opfern und eine Sanktionierung negativer Emotionen.

Wie die Moderne die Verluste bearbeitet

Es gibt eine große Bandbreite des ‚doing lost‘; die Verlustverarbeitung antwortet auf die Verlustpotenzierung. Nostalgisch werden Verluste in ästhetische Formen übersetzt und religiös werden in der Diaspora Verluste kollektiv bearbeitet. Im Handel werden sie mit dem Risiko ökonomisiert (Bsp. Seehandel). Fortschritte und Verluste werden in der modernen Gesellschaft politisiert (Verlustpolitik): Die Unverfügbarkeit und Irreversibilität wird relativiert durch Konservatismus gegen drohenden Verlust (Schutz vor Verlusten durch Versicherungen) und Opfer-Politik. Auch eine ‚(Psycho-)Therapeutisierung‘ der Verluste findet statt: Der Verlust ist irreversibel, reversibel ist aber der Umgang mit dem Verlust. Von Geburt an muss eine ‚Balance zwischen Loslösung, Individuation und Bindung‘ gefunden werden. In der Diaspora führt der Heimatverlust zur Gemeinschaftsbildung und in der Religion wird Trost in der Transzendenz gesucht.

Dritter Teil: Verlusteskalation in der Spätmoderne

Die Doppeldeutigkeit der Moderne – Fortschrittsversprechen und Verlusterfahrung – hat seit den 1970er Jahren zu einer Verlusteskalation geführt: Das Fortschrittsnarrativ erodiert auf der kollektiven Ebene, während auf der individuellen die ‚Subjektivierung des Fortschritts floriert‘.

Fortschrittsverlust

Ölschock, Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung – 1972 erscheint „Die Grenzen des Wachstums“, und es entsteht eine politische, kulturelle und ökonomische Fortschrittsskepsis bis zum Ende der 80er Jahre. Dem ‚depressiven Intermezzo‘ folgt in den 90er Jahren ein euphorisches und eine Ernüchterung nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center 2001. Fortschritt ist Teil einer Systemlogik (Medizin, Umwelttechnologie, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz). Die Vergangenheit wird partiell als Last gedeutet und zum positiven und negativen Erbe. Die Gegenwart bekommt einen eigenen Wert gegenüber der Zukunft: Dystopie anstelle von Utopie. Das Modell des Kipppunkts beschreibt eine exponentielle Steigerung in eine katastrophale Entwicklung: Technik-, Ökonomie- und Staatsskepsis (Vertrauensverlust und ein negativer Erwartungshorizont). Noch unbekannte Risiken verstärken den Raum des Riskanten (Grenzen des Wissens). Kollektives Glücksversprechen wird verwandelt in ein subjektives (Selbstoptimierung).

Verlustschübe

Beispiele sind Übergänge von der ständisch-traditionalen zur bürgerlich-modernen Gesellschaft, die Industrialisierung, Kolonialismus und nach 1945 die staatlich regulierte Industriegesellschaft und der liberalisierte Postindustrialismus mit der Illusion eines verlustfreien Fortschritts (Massenkonsum: Massenstrukturen als Form des Sozialen). Sechs Verlustschübe werden beschrieben: Die Verlierer des liberalen Postindustrialismus, Der Klimawandel, Politische Regressionen, Artikulation historischer Wunden, Emotionales Selbst und Verlustsensibilisierung, Alternde Gesellschaft; und Reslienzinsgesamt eine heterogene historische Situation mit einer wechselseitigen Steigerung von Negativität., politischer Entgrenzung, löcheriger Verlustreduktion, Fortschrittssubjektivierung und Versuchen einer Unsichtbarmachung.

Doing loss

Jedes Subjekt und jede Gesellschaft ist verwundbar. Praktiken der Verlustbearbeitung sind: Bewahrung (kulturelles Erbe), Anerkennung (Authenzität), Vergeltung, Coping und Transformation (Nostalgieökonomie). Restaurativ kann die Anerkennung der Opfer gegen Negativität wappnen; auch Risikobereitschaft und Prävention können eine Chance sein.

Populismus bedeutet ‚eine verlustbezogene Politik, die mit verlustbezogenen Identitäten und Verlustaffekten arbeitet‘ (Verlustunternehmertum). Ein Verzicht (Neoaskese als freiwilliger Verlust) kann ein Gewinn für kommende Generationen sein. Anstelle von Trauerarbeit (S. Freud) und Abschied wird das Verlorene in die Lebenspraxis integriert. Die Suche nach Verantwortung für Verluste kann zu Anerkennung der Opfer und Rache am Täter führen.

Im Abschnitt ‚Moderne Reparieren’ schlägt Reckwitz vor, entwicklungsbedingte Gewinner und Verlierer nicht sofort in Täter-Opfer-Kategorien zu verwandeln. Da man der Verlustgeschichte nicht entkommen kann, muss die Fortschrittsidee modifiziert werden, indem die Möglichkeit von Verlusten realistisch anerkannt wird.

Diskussion

Reckwitz stellt dem modernen Fortschrittsimperativ die ‚Verluste‘ und deren Bearbeitung gegenüber, die bereits zu Beginn auch mit der von S. Freud beschrieben ‚Trauerarbeit‘ verglichen und gleichzeitig politisch einer Revision unterzogen werden. Für mich war von Anfang an die Frage, inwieweit der sehr persönliche Verlust von vertrauten und liebevollen engen Beziehung überhaupt gleichgesetzt werden kann, mit Verlusten, die mit einer Desillusionierung – unbegrenzter Fortschrittsglaube – zu tun haben. Denn das ist vor allem ein Grund, über Selbsttäuschungen – individuell und sozial – nachzudenken, über unreflektierte Größenphantasien, Ausbeutung von Ressourcen und Zerstörungen von Natur und Umwelt. Wenn man sich das ehrlich eingesteht, ist eher ein Affekt von Scham zu erwarten als einer von Trauer, Scham z.B. über die Größenphantasie, schrankenlos über lebensnotwendige Ressourcen verfügen zu können und die Umwelt, insbesondere die Natur, in ihren eigenständigen Bedürfnissen und die Grenzen ihrer Verfügbarkeit nicht anzuerkennen, mit der Folge dass inzwischen Menschen gemachte Umweltkatastrophen das Leben auf diesem Planeten zunehmend gefährden.

Diese Erkenntnis ist ein Abschied von ‚pubertären Phantasien und Illusionen‘, von Größenwahn und Überheblichkeit, die noch längst nicht bei allen angekommen ist. Ein destruktives ‚Weiter-wie bisher‘ bedroht nicht nur schon heute viele Menschen, vor allem aber kommende Generationen.

Trotz dieser kritischen Überlegungen habe ich das Buch, das in seinen Verweisen auf Politik, Wirtschaft, soziales Zusammenleben, in den zahlreichen und anregenden Hinweisen auf Literatur und Kultur – trotz einiger Wiederholungen – mit großem Interesse gelesen und empfehle es, da es zu eigenen kritischen Überlegungen anregt. Gesellschaftlich zwingt es, von (kindlich unreifer) gottähnlicher Allmacht und umfassender Verfügbarkeit Abschied zu nehmen und endlich erwachsen zu werden. Man könnte die dargestellten Fakten auch als eine ‚soziale und politische Adoleszenzkrise‘ verstehen, die die Chance zu regressivem Scheitern, aber auch zum Erwachsenwerden bietet.

Fazit

Ich empfehle sich Zeit für dieses Buch zu nehmen, das hilfreich ist, seine eigene Position angesichts des ‚Fortschrittsanspruchs der Spätmoderne‘ zu überdenken.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 124 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 08.11.2024 zu: Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne | Die erste umfassende Studie zum zentralen gesellschaftlichen Thema Verlust. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. ISBN 978-3-518-58822-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32773.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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