Christina Spaller, Andrea Tippe: Einführung in die Rangdynamik
Rezensiert von Dr. phil. Karl Schattenhofer, 28.03.2025

Christina Spaller, Andrea Tippe: Einführung in die Rangdynamik.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2024.
122 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0549-7.
D: 18,95 EUR,
A: 19,50 EUR.
Reihe: Carl-Auer compact.
Autor
Karl Schattenhofer, Dr. phil., Diplompsychologe, Trainer für Gruppendynamik (DGGO), Supervisor (DGSv), freiberuflicher Berater, Sachbuchautor, www.tops-ev.de
Entstehungshintergrund
Wer kennt sie nicht, die Rede von den Alphas und den Omegas? Was meist sehr trivialisierend als Rollen- oder Typenlehre dargestellt wird, dem liegt das Modell der Rangdynamik von Raoul Schindler (1923 – 2014) zugrunde.
Der Wiener Psychiatrieprofessor, Psychoanalytiker und Mitbegründer der angewandten Gruppendynamik in Österreich hat es in den 1950er und 1960er Jahren ausgehend von seinen klinischen Erfahrungen in der Gruppentherapie entwickelt und dann auf andere Felder und Arten von Gruppen übertragen.
Die beiden Autorinnen Christina Spaller und Andrea Tippe sind, neben vielen Qualifikationen als Hochschullehrerinnen und Beraterinnen, gruppendynamische Trainerinnen im ÖAGG, dem Österreichischen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, dessen (Mit-) Gründer Raoul Schindler 1959 war. Sie sind Mitherausgeberinnen eines 2016 erschienenen Sammelbandes von Orginaltexten Schindlers unter dem Titel „Das lebendige Gefüge der Gruppe“. Ausgehend von den vielfältigen, etwas sperrigen und teilweise widersprüchlichen Texten Schindlers haben die beiden Autorinnen jetzt eine „Einführung in die Rangdynamik“ geschrieben, um das Modell für alle, die mit Gruppen praktisch zu tun haben, leichter und vor allem weniger trivial zugänglich zu machen. Es ist in der Einführungsreihe des Carl-Auer-Verlags erschienen.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel werden die Wurzeln der Rangdynamik beschrieben, die in der Behandlung schizophrener Patient:innen im Rahmen der dort entwickelten „bifokalen Familientherapie“ gründen. Die Erkrankten wurden mithilfe der Therapiegruppe in ihrer Ich-Entwicklung und ihrer Emanzipation vom Familiensystem gefördert. Zugleich wurden ihre Familien in einer parallelen Gruppe darin unterstützt, das erstarrte Familiensystem (die Rangordnung) zu lockern und realitätsgerechter zu gestalten. Einem Rückfall in den alten Zustand sollte vorgebeugt werden. Hier wurde die rangdynamische Grundformel entwickelt: Danach bildet sich in jeder Familie und in jeder Gruppe eine dynamische hierarchische Ordnung mit fünf Grundpositionen aus: Die Rangdynamik.
Das Modell der Rangdynamik umfasst zwei Grundthesen, die im zweiten Kapitel ausführlich und nah an den Texten Schindlers beschrieben werden.
Nach der ersten (weniger bekannten) Grundthese des Modells lassen sich vier „Zustände kollektiver Bezogenheit“ unterscheiden: Die Menge (im Wartezimmer), der pägruppale Zustand (erste Versuche gemeinsamen Tuns), der gruppale Zustand (dynamische Rangpositionen und gemeinsame Bewegungsrichtung) und der institutionelle Zustand (fixierte Rangstruktur). Die Zustände sind nicht chronologisch aufsteigend zu verstehen, sie sind auch nicht in besser oder schlechter einteilbar, sie unterscheiden sich vor allem darin, ob und wie eine innere Rangstruktur ausgebildet wird. Bevor man also in einer Gruppe nach einer Rangdynamik sucht, ist darauf zu schauen, wie die beteiligten Menschen aufeinander bezogen sind.
Die zweite Grundthese des Modells beinhaltet das „rangdynamische Positionsmodell“, die „Positionsformel“: Jede Gruppe, die sich einem gegenüber einem Gegner, einer Aufgabe, einer Herausforderung, einem Ziel zusammenschließt, bildet vier unterscheidbare Rangpostionen aus, nämlich Alpha, Beta, Gamma, Omega und die Position G des Gegenüber.
Erst der Zusammenschluss der Personen für oder gegen etwas (auf jedenfalls etwas „Entgegenstehendes“) führt zur Ausbildung der Rangstruktur.
Die Alphaposition nehmen Personen nicht aus sich heraus ein, etwa weil sie von ihrer Natur aus Alphatypen sind, sondern weil ihnen die anderen Gruppenmitglieder (auf der Gamma Position) Gefolgschaft leisten. Diese ermächtigen die Person, auf dem Weg zum Ziel voranzugehen und bringen sie damit in die Alphaposition.
Die Gammaposition nehmen die Personen ein, die den Vorschlägen der Alphas, das Ziel zu erreichen, folgen. Dabei können sie von unterschiedlichen Motiven geleitet sein (inhaltlich überzeugt, sich die Entscheidung abnehmen lassen, anonym bleiben können etc.) und sich aktiv oder eher abwartend bis zögernd oder distanziert verhalten.
Die Omega-Position nimmt die Person ein, die sich zuletzt der eingeschlagenen Bewegungsrichtung der Gruppe anschließt, die am längsten gezögert hat, mitzumachen. Das Zögern wird als Entgegenstehen gegen die Gruppe wahrgenommen, das die Gruppe auf ihrem Weg zum Ziel schwächt. Deswegen wird die Person auf der Omegaposition „in dieser Auseinadersetzung unterliegen, darin liegt ihre dynamische Bedeutung. Indem sie scheinbar unterliegt, gibt sie der Gruppe, was diese für den eingeschlagenen Weg braucht, um voranzukommen. Das Besiegen kann verschiedentlich zum Ausdruck kommen: Beispielsweise durch Witze und Humor, durch Fürsorge, eine Herablassung oder direkte Ablehnung bis hin zu Ignoranz und Aussschluss.“ (S. 59).
Das ausführliche Zitat soll verdeutlichen, dass der Omegaposition eine besondere Bedeutung in diesem Modell zukommt: Ohne Omega keine (Rang-) Dynamik! Das bedeutet auch, dass nach diesem Modell jeder Gruppe eine Dynamik innewohnt, jemanden zum Sündenbock oder Prügelknaben zu machen.
Die Betaposition kann sich bilden, ist aber nicht notwendig für das dynamische Geschehen. Wer sich auf ihr einfindet, unterstützt die Alphaposition durch Sachwissen und Beratung, ohne eigenen Führungsanspruch und ohne in das affektive Geschehen zwischen den anderen Positionen eingebunden zu sein.
Diskussion
Die beiden Grundthesen des Modells leiten und erweitern den Blick von Leiter:innen, Berater:innen, Trainer:innen auf die Prozesse in Gruppen, die zwischen den einzelnen Beteiligten ablaufen und das Geschehen in der Gruppe prägen: Wer oder was ist das Gegegenüber der Gruppe? Welche Positionen sind besetzt, welche nicht? Wie flexibel können Positionen gewechselt werden? Welche emotionalen Folgen haben die Positionen für ihre Inhaber:innen? Wie sind sie affektiv miteinander verbunden? Welche Ängste und Wünsche sind mit den jeweiligen Positionen verbunden? Um nur einige Blickwinkel zu nennen, die das Modell ermöglicht.
Mit den neuen Perspektiven eröffnen sich neue Interventionsmöglichkeiten: Wie wird aus einem prägruppalen Zustand ein Gruppaler? Welche Position wird mir als Leiter:in zugeschrieben? Wie ermögliche ich anderen einen Positionswechsel? Wie mit Menschen auf der Omegapostion umgehen? Wie kommt Bewegung in institutionalisierte Rangstrukturen etc.
Diese Analyse- und Interventionsmöglichkeiten werden in einem Abschlusskapitel erörtert und mit Praxisbeispielen veranschaulicht. Davor kommt – sehr verdienstvoll – ein kurzes Kapitel zur Verwendung der Begriffe, weil in dem Modell Worte wie Rolle, formale Rolle, Position, Funktion, Status unterschiedliche Bedeutungen haben.
Modelle des Sozialen laufen immer Gefahr, die Wirklichkeit dem Modell anzupassen. So wie sie Blickwinkel eröffnen, so sorgen sie oft an anderer Stelle für neue blinde Flecken. Deswegen habe ich Hinweise auf die Begrenzungen des Modells und seine Übertragbarkeit vermisst. Das Verhältnis der Rangdynamik zu anderen gruppendynamischen Modellvorstellungen wäre auch ein kleines Kapitel wert gewesen.
Fazit
Insgesamt ist die Einführung in die Rangdynamik ein sehr zu empfehlendes Buch. Wer nicht nur auf die einzelnen Personen in einer Gruppe schauen, sondern einen Blick und ein Gespür dafür entwickeln will, was zwischen ihnen geschieht, wer Gruppenprozesse mit dem Modell der Rangdynamik verstehen und gestalten will, die:der sollte es lesen.
Literatur
Raoul Schindler (2016) Das lebendige Gefüge der Gruppe – Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Christina Spaller, Konrag Wirnschimmel, Andrea Tippe, Judith Lamatsch, Ursula Margreiter, Ingrid Krafft-Ebing und Michael Ertl. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rezension von
Dr. phil. Karl Schattenhofer
Dipl.-Psych.; Studium der Psychologie, Pädagogik und Soziologie in München und Würzburg, Promotion in München. Trainer für Gruppendynamik in der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik (DGGO), Supervisor (DGSv – Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching), Lehrsupervisor, psychologischer Psychotherapeut. Langjähriger Leiter der Sektion Gruppendynamik im DAGG. Trainer und Berater in freier Praxis für Profit- und Non-Profit-Organisationen, Lehraufträge an Hochschulen, Leiter von TOPS München-Berlin e.V. (2002–2017), einem Zusammenschluss von gruppendynamischen Trainerinnen und Trainern, die gemeinsam gruppendynamische Fortbildungen anbieten und Supervisoren und Supervisorinnen ausbilden. Veröffentlichungen zum Thema Gruppendynamik, Gruppe und Team, Selbstorganisation und Selbststeuerung.
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