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Harry Lehmann: Ideologiemaschinen

Rezensiert von Arnold Schmieder, 19.02.2025

Cover Harry Lehmann: Ideologiemaschinen ISBN 978-3-8497-0545-9

Harry Lehmann: Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2024. 147 Seiten. ISBN 978-3-8497-0545-9. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR.
Reihe: Update gesellschaft spezial.

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Thema

Ideologien sind laut Lehmann „Sprachspiele mit begrenzter Rede- und Gedankenfreiheit.“ (S. 14) Solche Sprachspiele manifestierten sich „in einer Konstellation politischer Kernbegriffe“ und garantierten „ihre eigene Unbestreitbarkeit nicht nur durch logische Schlüssigkeit und kulturelle Anlehnungskontexte“, wodurch und worin „auch die internen Machtmechanismen einer Gruppenpolarisierung wirksam werden.“ (S. 134) „Macht“ braucht man vor allem, um „die politische Sprache ‚kontrollieren‘ zu können.“ (S. 19) Doch Ideologien sind nicht nur „Sprachspiele“ (wie bei Freeden, auf den der Autor sich kritisch beruft), sondern, so die These, eben auch „Machtinstrumente, welche in die Sprachspiele eingebaut sind. Dieses Machtmoment zeigt sich allerdings weniger in der statischen Form von Ideologien als in der dynamischen Form von Ideologisierungsprozessen.“ (S. 21) Dabei liege es in der „Logik von Ideologien, dass sie ihren eigenen ‚unbestreitbaren‘ Geltungsanspruch nicht nur mitkommunizieren, sondern ihr Sprachspiel absolut setzen und Kritik eliminieren.“ So dulden sie „keinen Zweifel“. (S. 29f)

Im Sinne dieser nach Aussage des Autors „weiterentwickelten Ideologietheorie“ handele es sich bei der „Cancel Culture um die Durchsetzung eines politischen Sprachspiels mit eigenen Sanktionsmechanismen“, was so neu nicht sei, „sondern das Dominantwerden politischer Kommunikation in Sphären“ anzeige, „in denen es eigentlich um ganz andere Werte – um Werte wie Wahrheit, Bildung oder Kunst – geht.“ (S. 32) Im Fortgang der Argumentation zeigt sich, dass Lehmann sich auf das „Gesetz der Gruppenpolarisierung“ von Cass Sunstein bezieht und das „Modell der Ideologiemaschinen“ in der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann „veranker(t)“. (S. 135) Digitale Kommunikation überfordere systematisch Institutionen, wozu auch die „Möglichkeit einer ungebremsten Politisierung“ gehöre. Die digitale Revolution stelle die „Autonomie ihrer Funktionssysteme und damit auch das Prinzip der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft infrage“, und zwar (auch) dadurch, dass man „viel erfolgreicher als bisher von außen in diese Systeme hineinkommunizieren und Bürokratien zum Handeln zwingen“ kann, was sich „(p)olitische Aktivisten“ zunutze machen können für „unendlich viele Empörungsanlässe und Interventionsmöglichkeiten“, die als politische Botschaften mit „starken Netzwerkeffekten“ verbreitet werden. Hier komme ein komplementierendes „Machtelement“ ins Spiel, das aus „Gruppenpolarisierung“ kommt. Es sind „Gruppenpolarisierungsprozesse (…), welche sich in einer digitalen Medienwelt exponentiell verstärken.“ (S. 35ff) Lehmann folgt Lukianoff und Schlott, wo es heißt, die Cancel Culture sei entstanden, „‚als die sozialen Medien es ermöglichten, dass sich von einem Augenblick auf den anderen Empörungsmobs bilden können.‘“ (zit. S. 40) Allerdings habe die „neue digitale Transparenz“ auch „Exklusionsstrategien“ und „Identitätsmarker“ ins öffentliche Bewusstsein gebracht und zu neuen sozialen Bewegungen geführt.

Jedoch in einem „Klima der Angst, des Verdachts und der erzwungenen Rede“ können sich infrage kommende Institutionen in „Ideologiemaschinen verwandeln: in Maschinen, die nicht länger an ihrer Funktion orientiert sind, sondern anstelle von Kunst, Wissenschaft oder Bildung beginnen, Ideologie zu produzieren. Vor dieser selbstgenerierten institutionellen Politisierung bietet auch das Grundgesetz keinen Schutz“, so Lehmann. Doch der Autor sieht ein Bollwerk und hält es für ein „Zeichen von politischer Klugheit, systematisch Ideologieunterbrecher in jene Institutionen einzubauen, die sich allzu leicht politisieren lassen“ (S. 42 f), wozu er am Ende seines Buches ausführlicher ausholt.

Der Autor

Dr. Harry Lehmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg. Seine Schwerpunkte sind Kunst- und Musikphilosophie, Ästhetik und KI-Ästhetik.

Inhalt

Nach seinem Vorwort und nachdem er auf Ideologien als Sprachspiel und Machtinstrumente eingegangen ist und was unter dem Begriff „Ideologiemaschinen“ zu verstehen ist, kommt Lehmann zunächst auf ein „komisches Beispiel“ zu sprechen, um dann dezidiert und ausführlicher „Erklärungsmodelle der Cancel Culture“ vorzustellen und kritisch zu würdigen. Beim komischen Beispiel handelt es sich um eine „identitätspolitische Tragikomödie“ aus Deutschland (zum allergrößten Teil bezieht der Autor seine Beispiele aus der „Anglosphere“) (S. 44): Mit einem Kommentar im Netz hatte ein Schauspieler eine von ihm selbst in Anführungszeichen gesetzte politisch unkorrekte Bemerkung veröffentlicht, was ihm am Theater angekreidet wurde. Mit seinem Kommentar hatte er das „Terrain des ideologischen Streits betreten, wo man nicht nur keinen Widerspruch duldet, sondern wo auch kein Platz für Ironie, Blödsinn und pure Spekulation ist“. Der Autor merkt an: „Was sich in der Kneipe problemlos sagen lässt, löst am virtuellen Stammtisch Kommunikationskaskaden aus.“ (S. 45 ff.) Das Problem ist: „Praktisch lässt sich in einem viralen Shitstorm die private Meinung des Einzelnen von der Haltung der Institution, die ihn beschäftigt, nicht mehr trennen.“ (S. 52)

Die Vorstellung der Erklärungsmodelle der Cancel Culture beginnt mit dem philosophischen Modell, wobei sich der Autor besonders auf die „‚angewandte Postmoderne‘“ bezieht und darlegt, dass die „politische Lektüre (…) die Philosopheme dem Spiel der Dekonstruktion entzogen und sie zu Theoremen verfestigt (hat), die sich selbst nicht mehr dekonstruieren lassen.“ (S. 56 f.) (Anzulasten sei dieser Philosophie auch, eine „Verdrängung der Würdekultur durch eine Opferkultur“. [S. 129]) Auf dieser Folie zeichne sich ab, „dass die Wissenschaft und ihre Institutionen nur dem Anschein nach Erkenntnisinteressen verfolgen, aber eigentlich ein Instrument zur Durchsetzung von Machtinteressen sind.“ (S. 60) Im psychologischen Modell konzentriert sich der Autor auf die Generation Z und hebt hervor, dass deren „Verlust der Kindheit (…) paradoxerweise das Erwachsenwerden verzögert“ (S. 63), was er mit Befunden untermauert. Im soziologischen Modell zeichne sich ab, dass eine „moralische Kultur entstehe, in der das Diskriminiertsein zu einem positiven Wert mutiert und die Opferrolle als etwas ‚Wünschenswertes‘ angestrebt wird.“ Es verschöben sich die „Definitionsgrenzen dessen, was ein Missbrauch oder eine Belästigung ist (…), bis sie im Konzept der Mikroaggression kulminieren.“ (S. 65 f.) Unter dem pädagogischen Modell hält der Autor fest, dass sich (in den USA) die „Eliteuniversitäten“ in „moralische Erziehungsanstalten“ verwandeln. (S. 68) Im vorgestellten ökonomischen Modell bezieht sich Lehmann ebenfalls auf die USA. Universitäten sehen primär ihre Funktion nicht mehr darin, „Wissen und Bildung zu vermitteln, sondern Zertifikate auszustellen, welche den Absolventen den Zugang zu gut bezahlten Spitzenjobs mit viel Sozialprestige verschaffen.“ (S. 67) Beim juristischen Modell ist bemerkenswert resp. „verblüffend“, „dass die Ausbreitung der Wokeness und Cancel Culture in den USA nicht etwa die Folge besonders restriktiver Gesetze ist, sondern sich aus einer Rechtspraxis entwickelt hat, die es vermeidet, Rechte klar zu definieren.“ Grundlegend dadurch wird dann der „Kipppunkt“ zur „Wokeness“ erreicht, womit ein „konformistischer Kommunikationsstil gemeint (ist), der allen Mitgliedern eines Unternehmens oder einer Institution gleichermaßen abverlangt wird.“ (S. 77 ff.) Unter der Zwischenüberschrift „Anglosphere und Eurosphere“ argumentiert Lehmann zunächst, dass mit der Verfügbarkeit der neuen digitalen Medien vor knapp zehn Jahren „sich genau jene kommunikativen Feedbackschleifen in Institutionen ausbilden (konnten), die zu diesem Zeitpunkt zu einer Eruption der Cancel Culture führten.“ (S. 82) Der Autor prognostiziert, dass sich das Cancel-Culture-Syndrom in Europa „weniger aggressiv als in der Anglosphere ausbreiten wird“; selbst wenn sich in Europa die „Institutionen in Ideologiemaschinen verwandeln, so fehlt diesen Ideologiemaschinen doch das juristische Fundament aus der Anglosphere.“ (S. 85) Am religiösen Modell macht der Autor (auch unter Rückbezug auf Hitler und Stalin) auf die Relevanz von „Sinnversprechen“ und „Transzendenzbezug“ aufmerksam. (S. 90) Dass und wie sich radikale Ideologien „in einer rhetorischen Festung“ verbarrikadieren, wird im rhetorischen Modell erörtert. Werden Diskussionen in einem „homogenen Wertemilieu“ geführt, komme es wegen befürchteter „Reputationsschäden“ zu „Gruppenpolarisierungseffekten“, wobei der „Konformitätsdruck“ von der „Beschaffenheit des politischen Sprachspiels“ abhänge. (S. 92) Dass in seinem Buch gegenüber der linken Cancel Culture, an der das genannte Phänomen festzumachen sei, die rechte Cancel Culture weniger Aufmerksamkeit bekommen habe, liegt laut Lehmann daran, dass die rechte Cancel Culture „keine Theorie“ braucht; „sie beruht auf einer simplen rhetorischen Festung und bildet, zumindest bislang, keine Ideologiemaschinen aus“ – was sich jedoch schnell ändern könne. (S. 98)

Für Systemtherapie, so der Titel des letzten Kapitels, müssen „Resonanzunterbrecher für politische Kommunikation in Institutionen“ eingebaut werden. Wesentliches wie „Redefreiheit“ und „Meinungsfreiheit“ dürfte auch dann nicht beschnitten werden, selbst „wenn sich in innerhalb der Universität eine Mehrheit findet, die das aus moralischen oder rationalen Gründen befürwortet.“ (S. 99 ff.) Wichtiger noch als „‚Respekt‘“ (ein „Code der Moral“) sei „Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Identitäten“, was nicht heiße, „dass man sie in irgendeiner Weise ‚gut‘ finden muss, sondern, dass man sie erträgt und erduldet und nicht gewaltsam zu unterdrücken versucht.“ Doch gebe es in „vielen Institutionen (…) bislang kein Problembewusstsein für die Kollateralschäden einer digital verstärkten politischen Kommunikation auf die eigenen systemspezifischen Operationen“, und es könne kaum verhindert werden, „dass inzwischen viele Entscheidungsträger in Institutionen durch die Online-Kampagnen politischer Aktivist:innen zu radikalen politischen Positionen gedrängt werden.“ (S. 105 ff.) Es komme darauf an, „Bedingungen zu schaffen, in denen sich eine Cancel Culture gar nicht erst ausbilden kann: nämlich in einem Klima von politischer Diversität.“ Der Autor verweist auf eine „depolitisierende Ethik, die aber allen Beteiligten ein Höchstmaß an Selbstreflexivität und Argumentationskultur abfordert.“ (S. 119) Sinnvoll wäre es (u.a.), „Netzaktivitäten“ zu „authentifizieren“. (S. 126 f.) Was unter dem Strich bleibt, ist, „dass nicht nur einzelne Institutionen und Funktionssysteme eine Art von Systemtherapie durchlaufen müssten, sondern auch das Gesellschaftssystem als Ganzes.“ (S. 131)

Diskussion

Ideologiekritik seitens nicht affirmativer Wissenschaft und emanzipatorisch intendierter Politik war vor nicht allzu langer Zeit im Schwange, eine Domäne derer, die sich als ‚links‘ verstanden oder so etikettiert wurden. Lehmann beschäftigt sich „primär mit linker Cancel Culture“ (S. 98) und es stellt sich die Frage, inwieweit in den jeweils prominent gemachten Thematiken trennscharf identifizierbare Ideologeme aufscheinen, die sich in einer Ideologie verankern lassen. Vorab kann oder könnte man sich darauf verständigen: Ideologien wirken als Denkhemmungen. Die Frage ist dann, ob das auf die Gegenstandsbereiche, in die sich die Cancel Culture verbeißt, auch zu wenden ist.

Lehmann ist Stichwortgeber: Die „neue digitale Transparenz vermag bislang verborgene Exklusionsstrategien, die Identitätsmarker wie sex, race oder gender benutzen, ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, und hat zu neuen sozialen Bewegungen wie #Me Too geführt.“ Folge dieser „Transparenz“ sind dann aber auch „schwer kalkulierbare und nicht intendierte Nebenfolgen für die betroffenen sozialen Systeme.“ (S. 40) Hält man bei #Me Too bspw. inne, werden demokratisch und liberal gesinnte Teile der Bevölkerung in ‚moralischen‘ Schulterschluss mit den empört protestierenden Frauen gehen. Ob man sich dabei an historisch erste deutliche Empörungen erinnert, sei mehr bezweifelt als bloß dahingestellt. Der Name Clara Zetkin steht bspw. für etliche andere Frauen (und auch Männer), welche all das Unrecht gegenüber Frauen und deren – verschärfte – Knechtung zwar nicht expressis verbis im Patriarchalismus, wie er auf die Erfordernisse der bürgerlichen Gesellschaft zugeschneidert war, sondern im ‚System‘ verorteten, in einer kapitalistischen Ökonomie, was durch Analyse offenzulegen war (und ist), und eben nicht aus einer Ideologie quillt und sich nicht in ein Narrativ mantelt. Bei #Me Too späht man vergeblich nach analytischer Sättigung der hochgradig gerechtfertigten Empörung. Es ist (oder wäre) zu erörtern, ob und wie man diese Messlatte gleichsam als Parameter an das anlegen kann, was in durch sich inhaltlich (demokratisch-)wertorientiert empörende Cancel Culture hochgespielt wird und atemberaubend schnell viral geht, was besinnungslos macht, weil keine Zeit für Besinnung bleibt und sie auch nicht vorgesehen ist; etwa auf u.a. die Analysen von Zetkin, die dem Problem auf den Grund gehen.

Der Autor behält mit seiner Kritik, die aus Beschreibungen schöpft, recht, und angesichts der erzeugten und in der Tat für ein (sogar radikal-)demokratisches Politikverständnis gefährlichen Wirrnis durch Cancel Culture scheinen die vormaligen Gebote einer political correctness geradezu betulich, wiewohl sie an Institutionen wie Universitäten interessiert sortierte Maulkörbe in ihrem Bauchladen hatten. (Dass [u.a.] Wissenschaften vielfach Legitimations- und Affirmationsleistungen erbracht haben und erbringen, steht auf [k]einem anderen Blatt; mit übrigens prekären Folgen für etliche Wissenschaftler:innen, wie sie inzwischen gehäuft aus der Cancel Culture metastasieren.)

„Resonanzunterbrecher“ (s.o.) sollen laut Lehmann Abhilfe schaffen. Ihre Aufgabe bestünde auch darin, „den Faden unablässig wieder aufzudröseln, aus dem die Gesellschaft ihre Narrative spinnt“ (eigentlich nach Lehmann „Tagwerk der Kunst“). (S. 49) Kommen in Narrativen gesellschaftlich dominante Interessen, politische, ökonomische, rechtliche etc. Anschauungen elaboriert zum Ausdruck, fallen sie unter den Sammelbegriff Ideologie, die demnach nebst den Inhalten der Narrative als solche zu kritisieren wäre. Insofern ist dem Autor auch dann zuzustimmen (wenn man ihn so verstehen will), dass das „Gesellschaftssystem als Ganzes“ eine Art von „Systemtherapie“ brauche. Das Feuerwerk der Cancel Culture scheint auf dem Boden einer intellektuellen Erstarrung von Demokratie entzündet, die ihre Ideologie zeitgemäß umzufrisieren antritt. So gesehen müssten die „Resonanzunterbrecher“ ihr Disruptionsarsenal ungemein auffüllen, und zwar gegen mehr als die vielen (und oftmals unsinnigen) viral explodierenden ‚Aufreger‘, infolge derer sich Institutionen bei Strafe des Imageverlustes oder gar eines ‚Schleifens‘ gehalten bis gezwungen sehen, das ein oder andere Versatzstück aufzunehmen und so zu „Ideologiemaschinen“ (s.o.) werden. Dass der Philosoph Lehmann nicht über Symptombekämpfung schon ältere kurative Vorschläge zumindest am Rande bedenkt, verwundert. Wie wäre es, fragt sich, den Vernunftbegriff der Aufklärung aus seiner Beisetzung in instrumenteller Vernunft und Rationalität zu exhumieren und in Stellung zu bringen (wenngleich Kant in philosophischen Instituten einen schweren Stand gegenüber den Erbschaften Wittgensteins hat), über die idealistische Beweisführung hinaus und analytisch gewappnet das Ansinnen von Marx einer ‚Umwälzung‘ anzuvisieren (Lehmanns „Systemtherapie“?), dabei zur Seite des Ideologischen berücksichtigend, dass „die herrschenden Gedanken (…) weiter Nichts (sind) als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse“. So kommen die „Nebelbildungen im Gehirn der Menschen“ zustande, die „notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses“ sind. Was hier eher lakonisch von Marx und Engels gesagt wird, mehr noch die philosophische Argumentationskette von Kant zu Marx und weiter zur Kritischen Theorie nach Adorno, Horkheimer und auch Marcuse wird von Philosoph:innen weitergeführt, die im Mainstream der Institution Universität (noch?) sehr randständisch sind. In dieser Weise vergewissert sich Lehmann nicht. Weil es Schnee von gestern ist? Weil es jenes besagte weite Feld ist, das zu betreten nicht opportun ist? Gleichwohl möchte man dem Autor diese scheint’s philosophische Reminiszenz empfehlen, um die von ihm favorisierten „Resonanzunterbrecher“ dann doch ideologiekritisch zu wappnen und jenen zu stärkenden Ideologie- und Resonanzunterbrechern (die es noch gibt) nicht leichtfertig zu verzichtende argumentative Hebel an die Hand zu geben, eben weil „politische Kommunikation immer schon auf Ideologien beruht“. (S. 8) Man folgt der Kritik der Postmoderne resp. ihrer neueren Varianten ohne substanziellen Einspruch; allerdings sucht der Autor eher theoretischen Flankenschutz bei Wittgenstein und Luhmann, dessen Systemtheorie als Bezugspunkt selbst in der Soziologie schon länger zu verblassen beginnt. Nota bene kann man den Eindruck gewinnen, dass Lehmann zu politikwissenschaftlichen Argumentationen tendiert.

Jenes „sapere aude!“, was meint: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant), scheint sich an der Cancel Culture den Kopf einzurennen, an der – gar nicht mal so neuen – Delegitimierung unerwünschter Positionen und Meinungen, an der Nicht-Duldung von Widerspruch, der Immunisierung gegen oder Ächtung von Kritik u. v.a. m. Wenn Institutionen in Zugzwang gebracht werden und zu „Ideologiemaschinen“ verkommen, gehen mit ihnen die basalen Werte, die als Errungenschaften der Demokratie gelten und stets aufs Neue zu verteidigen und weiterzuentwickeln sind, den geschwätzigen Bach der Cancel Culture runter. Cancel Culture ist inzwischen ein Reizwort und sollte trennschärfer definiert werden. Das gilt auch da, wo Kritik als Cancel Culture kontextualisiert wird. Es bleibt allerdings dringend geboten, Humanismus und das Festhalten an Aufklärung gegen Hetze, Intoleranz und Diskursverweigerung zu verteidigen, um demokratischer Errungenschaften willen – auch und gerade gegen eine rechte Cancel Culture. Der digitale Shitstorm wirkt wie virenähnliche Streumunition, die Restbestände von Verstand und Vernunft infizieren. Es ist kaum vergleichbar und etwas anderes als selbst barsche Empörung, wie sie aus der Alltagssprache und analogen Medien bekannt ist. Die Zahl der Menschen ist Legion, die ihre emotional aufgeladenen Hasstiraden ins Netz pfeffern, was nichts mehr mit dem literarischen Zorneswort oder dem Charme des Spitzzüngigen gemein hat, sondern von individuellen Gefühlsausbrüchen kündet und sich mit infantilen Desavouierungen in Szene setzt. Hehre Werte werden umgemodelt. Cancel Culture heißt im Subtext dann auch: Eine Zensur findet statt. Ganz offensichtlich wird sie ausgeübt von Bürger:innen, die in demokratisch verfassten Staaten leben und etwas interessiert missverstehen. „Freie Rede braucht auch offene Ohren.“ (T. G. Ash) Könnte es sein, dass allzu viele Ohren verstopft sind? „History is not the past. It is the present. We carry our history with us.“ (J. Baldwin) Kann es sein, dass ‚Ideologie‘, die gesellschaftliche Ordnung überschreibt und ‚versteckte Zensur‘ birgt, so ein ganz normaler Pfropf ist? Dann bleibt wohl doch allererst dieses „sapere aude“ – und eben Ideologie- sowie Gesellschaftskritik, die dann auf die scheint’s feinere Art totgeschwiegen werden können.

Fazit

Harry Lehmann stellt kenntnisreich die vielfältigen Einfallstore der Cancel Culture vor und warnt mit überzeugenden Argumenten vor ihren Folgen. Wie ihr nach seinem Vorschlag Einhalt zu gebieten ist, dürfte ebenso kritische wie konstruktive Diskussionen und daraus folgendes politisches Engagement provozieren, was überfällig ist. Im Hinblick auf die Cancel Culture und ihre Folgen ist nicht zuletzt Soziale Arbeit herausgefordert.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245