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Jörg Martens, André Niggemeier (Hrsg.): Soziales neu gestalten - Antworten auf aktuelle Herausforderungen

Rezensiert von Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, 26.03.2025

Cover Jörg Martens, André Niggemeier (Hrsg.): Soziales neu gestalten - Antworten auf aktuelle Herausforderungen ISBN 978-3-8497-9074-5

Jörg Martens, André Niggemeier (Hrsg.): Soziales neu gestalten - Antworten auf aktuelle Herausforderungen. Lösungsmöglichkeiten aus der Praxis für die Praxis. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2024. 227 Seiten. ISBN 978-3-8497-9074-5. D: 25,95 EUR, A: 26,70 EUR.
Reihe: Systemische Forschung im Carl-Auer Verlag. Personal- und Organisationsentwicklung.

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Thema

Es gleicht fast der Quadratur des Kreises, bei einem abnehmenden Arbeitskräftepotenzial und gleichzeitig steigenden Anforderungen an den Arbeitsplatz als Folge von Digitalisierung und Transformation durch komplexere Anforderungen, veränderte Einstellungen der Beschäftigten wie überhaupt gestiegenen Belastungen am Arbeitsplatz nicht nur Nachwuchs zu akquirieren, sondern solche neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diesen vermehrten Anforderungen nicht nur entsprechen, sondern ihnen auf Dauer auch gewachsen sind. Der Markt habe sich von einem Arbeitsmarkt hin zu einem „Arbeitnehmermarkt“ entwickelt (S. 141), will sagen: Heute bestimmen die Arbeitssuchenden sehr viel stärker als früher die Konditionen der Suche nach neuen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dieses konfligiert allerdings mit den Herausforderungen gerade an soziale Unternehmungen, die sich verstärkt mit neuen gesellschaftlichen Leitbildern, mit neuen sozialen Ausgrenzungsprozessen und mit von der Politik eingeforderten Umgangsformen konfrontiert sehen.

Wie, so fragen die vorliegenden Beiträge, sind diese konfliktbesetzten Herausforderungen zu meistern? Ihre durchgängige Antwort: durch Qualität – im Akquise-Prozesse, bei der Arbeitsplatzgestaltung, in der Binnenstruktur zwischen Leitung und Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern, insgesamt in einer qualitativ ausdifferenzierteren Unternehmenskultur. Traditionelle hierarchische Strukturen stoßen nicht nur an ihre Grenzen, sie sind schlicht ineffektiv. Gefordert sind dagegen Kommunikation, Teamfähigkeit bei allen Beteiligten, Empathie und Vorsorge im Umgang mit sei es somatischen und/oder psychischen Blockaden bzw. Fehlentwicklungen.

Wenn denn Soziale Arbeit und Arbeit im Gesundheitswesen in der Zukunft weiter qualitativ statthaben soll und kann, dann bedarf es reflexiver, gestaltender und praktizierter Umorientierungen in den Einrichtungen selbst. Dieses benötigt aus sich heraus ein Mehr an Einsatz – seitens der Beschäftigten ebenso wie seitens der Führung. Dieses ist aber nur dann zu leisten und letztlich einzufordern, wenn die Arbeit und auch die Leistung Selbstwirksamkeitserfahrungen beinhaltet und die Arbeitswelt insgesamt als positiv gestaltet erlebt wird. Eine wichtige Aufgabenstellung – eine Quadratur des Kreises? Nur was ist die Alternative? Es bleibt die Herausforderung, Leitbildorientierung und Arbeitsleistung im Sozialen aufeinander abzustimmen, sodass letztlich beide – Mitarbeitende, die sie erbringen, und Klientinnen und Klienten, die dadurch unterstützt werden – ein Plus auf ihrem Konto verzeichnen, ansonsten droht Regression.

Herausgeber

Prof. Dr. phil. Jörg Martens lehrt an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld mit dem Schwerpunkt Personalmanagement und Organisationsentwicklung. Er studierte Theologie, Pädagogik, Personalmanagement. Er hat zahlreiche Publikationen zu Themen der Personalentwicklung, des Service Design und zu Candidate Experience verfasst.

Prof. Dr. phil. PhDr. André Niggemeier ist Beratungswissenschaftler. Er ist Lehrkraft für Soziale Arbeit & Management sowie wissenschaftlicher Studienortleiter an der Internationalen Berufsakademie (iba) in Münster. Er ist Alumnus der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.

Aufbau

Der Band nähert sich der Themenstellung in fünf Schritten. Die Herausgeber bieten mit diesem Band „Fach- und Führungskräften in Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens praktische Einblicke und Lösungsansätze für die Gestaltung und Umsetzung sozialer Innovation.“ (Kapitel I, S. 14) Dem folgen vier Schritte.

Kapitel II arbeitet analytisch neue Ansätze und Herausforderungen in der Arbeitswelt heraus. Dieses betrifft erstens neue Ansätze des Lernens am Arbeitsplatz unter Zuhilfenahme digitaler Kommunikationsangebote. Daneben entwirft dieses Kapitel Elemente einer „New Work Culture“, ordnet also die veränderten Arbeits- und Lernanforderungen einer sich ändernden Organisationsentwicklung zu.

Kapitel III untersucht, wie Herausforderungen gemeistert werden können, die sich aus neuen gesetzlichen Regelungen ergeben. Ein von außen an die soziale Organisation herangetragener Paradigmenwechsel fordert von Organisation und Arbeitseinsatz eine Umstrukturierung, die mit tradierten Haltungen und Methoden konfligieren, zugleich aber auch eine sinnvolle Herausforderung im Sinne einer am Menschen orientierten Sozialen Arbeit darstellt. Dieses alles hat Folgen für die Mitarbeitenden selbst, deren somatische und wie später dargelegt wird, psychosomatische Reaktionen und Verarbeitungsformen. Letztlich geht es darum, in den Organisationen selbst die Gesundheitskompetenz zu verbessern. Am Beispiel eines besonders herausfordernden Gebiets der Sozialen Arbeit, der Betreuung psychisch erkrankter Straftäter, wird dargelegt, dass und wie soziales Handeln sich neuen gesetzlichen Regelungen anpassen muss.

Kapitel IV fragt nach Herausforderungen für Leitungsaufgaben im Sozial- und Gesundheitswesen. Dieses führt zu Fragen, wie denn neues Personal sinnvoll gewonnen werden kann, etwa durch ein strukturiertes Personalauswahlverfahren. Doch über die Mitarbeiterakquise hinaus kommt es bei der Zielsetzung gelingender Arbeitsprozesse in der Sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen auf eine Unternehmenskultur an, die partizipativ ist und einen kooperativen Führungsstil pflegt.

Das letzte Kapitel V wendet sich psychoanalytischen Reflexionen zu, um so sinnvolle Schritte hin zur sozialen Transformation in der Organisationsentwicklung aufzuzeigen. Es gilt „innere Bilder“ der Beteiligten zu nutzen, um Fehlstrukturen und Widerstände konstruktiv zu wenden.

Inhalte

Nach der Einleitung der Herausgeber und deren knappen Hinweisen zu den nachfolgenden Beiträgen geht Teil II auf die strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt und die daraus abgeleiteten Folgen ein.

Jörg Martens zeigt auf, dass und wie die Herausforderungen durch New Work (Digitalisierung und Transformation) zur Wiederentdeckung des Lernens am Arbeitsplatz geführt hätten. Angesichts „einer abnehmenden Halbwertszeit des beruflichen Wissens“ bedürfe es eines verstärkten „bedarfsorientierte(n) ‚ just-on-demand-Lernens am Arbeitsplatz“ (S. 18 f.). Angesichts der Tatsache, dass schon zuvor 60–80 Prozent des Handlungswissens auf informellen Lernprozessen am Arbeitsplatz basiere, komme es nun darauf an, in einer „lernförderlichen Unternehmenskultur“ eine Verbindung zwischen Arbeitsplatz und selbstorganisiertem Lernen zu ermöglichen (S. 23). Digitales Lernen am Arbeitsplatz könne durch Lernvideos, Podcasts, Webinare verstärkt werden. Lernprozesse würden so sowohl individueller, zugleich unterstützter und auch vernetzter am konkreten Arbeitsplatz. Diese Entwicklung fordere und fördere die „Selbstorganisationsfähigkeit der Lernenden“ (S. 21), die Verantwortung verschiebe sich auf die Lernenden selbst, auch und gerade, weil sie neue Formen selbstorganisierter Lerngruppen digital eröffne.

Im zweiten Beitrag in diesem Kapitel fragt Thorsten Löhring nach Strukturen und Herausforderungen für eine Kultur im Rahmen von New Work, die gekennzeichnet sei durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Die Arbeitswelt stehe vor großen Herausforderungen struktureller Art, nämlich Globalisierung, zunehmender Individualisierung und dem demografischen Wandel. Sichtbar wird es konkret im Fach- und Führungskräftemangel. Eine „lernende Organisation“ (S. 43) müsse Arbeit anbieten, „die den Menschen Freiheit und Sinn schenkt. Arbeit, die den Menschen erfüllt. Arbeit, die Menschen wirklich wollen.“ (S. 49) In einem Unternehmen müsse der Mensch im Mittelpunkt stehen, gefordert sei eine „aktive(.) Lernkultur“ (S. 52), die weiß, positiv auch mit Fehlern umzugehen. Es bedürfe Netzwerkstrukturen statt starrer Hierarchien. Diese setze eine „fundierte Personalauswahl“ voraus (S. 56), in der eine Passung zwischen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten mit den spezifischen Anforderungen gesucht werde. Indem sich ein Unternehmen dieser Herausforderungen stelle und ihre Kultur darauf ausrichte, Raum für die Entfaltung individueller Wünsche und eine gemeinsame Lernkultur schaffe, erscheint Arbeit als sinnvoll und selbstwirksam und steigere, so der implizite Schluss, seine Attraktivität für neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Soziale Arbeit und Gesundheitssorge unterliegen steten Veränderungen, auch seitens des Gesetzgebers. Teil III befasst sich mit drei unterschiedlichen rechtlichen Neuregelungen, um daran sinnvolle Schritte hin zu einer Veränderung aufzuzeigen.

Julia Feldewerth untersucht Herausforderungen und Umsetzung der Neuorientierung des Bundesteilhabegesetzes vom Fürsorgeprinzip zur Personenzentrierung. Einleitend werden die neuen Möglichkeiten zu mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen herausgestellt, zugleich hervorgehoben, auf welche Beharrungstendenzen diese gesetzlich geschaffenen Möglichkeiten stoßen, auch bei den Kundinnen, insbesondere bei älteren und multimorbiden Menschen mit Behinderungen, aber auch zwischen den Ämtern. Die vormalige Sozialministerin, Andreas Nahles, zitierend, beschreibt die Autorin die mit dieser Umsetzung befasste Einrichtung als „lebendes System“ (S. 74), das einen enormen Schulungsbedarf, Teamsitzungen und Supervision leisten müsse. Die Mitarbeitenden müssten durch erfahrene und gut geschulte Führungskräfte eingebunden werden, es gelte die „Kommunikationskompetenz“ und die „Selbstverantwortungskompetenz“ zu fördern und aktiv einzusetzen (S. 83). Den Mitarbeitenden werde so bewusst, „welche Leistungen täglich erbracht werden und wie zeitaufwendig diese sind.“ (S. 82) Netzwerke seien gefordert, innerbetrieblich, aber auch übergreifend zwischen unterschiedlichen Unternehmen, etwa bei Maßnahmen der Fortbildung. Denn: „Der Kostendruck, der auf den Leistungserbringern liegt, wird als große Belastung gesehen.“ (S. 87) Zugleich wird die Notwendigkeit einer Spezialisierung der Einrichtungen herausgestellt. Doch Teilhabe könne über soziale Einrichtungen allein nicht verbessert werden, es bedürfe der gesellschaftlichen Unterstützung, sei es durch den sozialen Wohnungsbau und eine „Lobby für Menschen mit herausforderndem Verhalten“, zu denen neben Menschen mit Behinderungen auch ehemalige Straffällige und Suchterkrankte zu zählen seien (S. 89).

Christian Hennig untersucht im Rahmen der Eingliederungshilfe die Anforderungen an die Leistungserbringer auf dem Gebiet der Gesundheitssorge. Das Bundesteilhabegesetz sichere durch seine dort verankerte Personenzentrierung mehr Autonomie des Einzelnen bei der Gesundheitssorge. Persönliche Eigenverantwortung allerdings bedürfe, so der Autor, oft der „Unterstützung durch das primäre oder sekundäre soziale Netzwerk“ (S. 99) Dieses betreffe zunächst und vor allem die Entwicklung von Gesundheitskompetenz. Dabei sei Unterstützung im und durch das komplexe Gesundheitssystem nötig. Träger der Gesundheitssorge müssten die Anforderungen an die Leistungserbringer ermitteln, dokumentieren und nachprüfen. Leistungen seien zu vereinbaren, zugleich deren Wirkung und Wirksamkeit zu überprüfen. Zentral sei, dass es über die Vermittlung neuer Kompetenzen bei allen Beteiligten in dieser notwendigen sei es qualifizierten, sei es unterstützenden Assistenz zu einer Neubestimmung ihrer Haltung komme. Neben kurzfristigen Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung bedürfe es also langfristiger Maßnahmen bezogen auf die Haltung, für die Organisationen und ihr Mitarbeitenden stünden, denn nur so könne eine gute Prozess- und Ergebnisqualität sichergestellt werden.

Der dritte Beitrag in diesem Unterkapitel wendet sich einem weiteren Gebiet zu, für das neue rechtliche Regelungen geschaffen wurden, nämlich das neue Unterbringungsgesetz für psychisch erkrankte Straftäter. Maria Pidde ordnet dessen Umsetzung zwischen Gefahrenabwehr und Hilfeleistung ein. Das auch hier notwendige Change-Management ist eng gekoppelt an ein Risikomanagement, gilt es doch stets den Schutz der Allgemeinheit und die Besserung im Sinne der (Re-)Sozialisierung gegeneinander abzuwägen. Diese Aufgabe stelle eine enorme Herausforderung an die Mitarbeitenden und an die Leitung dar. Letztlich gehe es um ein Management aller beteiligten Akteure („Steakholdermanagement“, S. 129), was die Träger, die untergebrachten Personen und das multiprofessionell zusammengesetzte Team der Mitarbeitenden umfasse. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne: die konkrete Arbeit im Alltag einerseits und die Widerstände unterschiedlicher Art andererseits, die nicht artikuliert werden. Deshalb bedürfe es eines Sowohl- als auch: „sowohl das Bestehende zu optimieren als auch Neues aufzubauen“ (S. 131) – nicht zuletzt durch „Empowerment und Partizipation“ der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (S. 125) Die Autorin veranschlagt den Zeitraum dieser Umstellung auf das neue Gesetz auf ein Jahr.

Kapitel IV wendet sich den Leitungsebenen im Sozial- und Gesundheitswesen zu. Manuel Pietsch entwickelt Kriterien und Umsetzungsmöglichkeiten für ein strukturiertes Personalauswahlverfahren. Er wählt als Beispiel das strukturierte Einstellungsinterview. Um dem Mangel an Arbeitskräften, genauer an Fachkräften, entgegenzutreten, bedürfe es einer gründlich reflektierten Personalauswahl, die im Einstellungsverfahren gerade prognostisch die langfristige Validität der getroffenen Entscheidung im Blick hat. Strukturierte Einstellungsinterviews könnten kritische Ereignisse aufnehmen und die Reaktion der Probandinnen und Probanden auf mögliche schwierige Situationen abfragen. Dabei könnten, je nach Antwort, durchaus auch biografische Elemente einfließen, etwa die Frage nach krisenhaften Ereignissen in der eigenen Biografie. Doch neben dieser Zugangsform könnten auch weitere valide Methoden treten und mit diesen zusammengeführt werden. Das implizite Fazit: Angesichts der Entwicklung hin zu einem „Arbeitnehmermarkt“ (S. 141) dürfe es nicht zu einer Rücknahme von Erwartungen an neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen, sondern nach wie vor müssten Herausforderungen der Arbeit und persönliche wie fachliche Kompetenzen gesucht und letztlich als Kriterium für die Besetzung einer Stelle dienen.

Neue gesetzliche Regelungen, zunehmende Herausforderungen, Schwierigkeiten bei der Personalakquise – dies alles fordert die Institutionen im Sozial- und Gesundheitswesen heraus, denn Arbeit beinhalte eben nicht nur Licht-, sondern auch Schattenseiten. Gefordert ist eine gesundheitsorientierte Führung. Der Beitrag von Iris Dörscheln sieht in Gesundheit ein Handlungspotenzial, das Teil der Unternehmenskultur sein müsse. Letztlich gehe es um die Alternative zwischen „einer Kultur der Angst, des Misstrauens und Kontrolle oder einer Kultur der verantwortungsvollen Kooperation aufgrundlage gemeinsamer Überzeugungen, Werte und Regeln“. (S. 171) Die Autorin befragt Studierende, die berufsbegleitend an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld studieren, nach ihren Vorstellungen von einer guten, gesundheitsorientierten Unternehmenskultur. Quintessenz: „Ein ausgewogenes gesundheitsorientiertes Selbstführungskonzept von Führungskräften wirkt sich vorbildhaft auf die Mitarbeitenden aus und lässt einen achtsamen Umgang mit Belastungen als Teil der Unternehmenskultur zu.“ (192) Und weiter: „Als Eigenschaften gesundheitsorientierten Führens werden ein wertschätzender und sozialer Umgang, Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zu Empathie, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit im Umgang mit Mitarbeiten „hervorgehoben.“ (S. 195)

Diesem Blick auf eine gesundheitsorientierte, zugleich partizipative Organisationsentwicklung wendet sich auch das letzte Kapitel zu, indem es psychoanalytische Reflexionen anstellt und Perspektiven der sozialen Transformation aufzeigt. André Niggemeier sieht in helfenden Organisationen „Brenngläser gesellschaftlicher Verhältnisse“ (S. 204), existenzieller gesellschaftlicher Krisen, mit denen Mitarbeitende konfrontiert werden. Diese müssten „alphabetisiert“, also synthetisiert und kommuniziert werden. Gelinge dieses nicht, bestehe die Gefahr einer „Quasi-Alphabetisierung“, also einer problematischen mentalen Umsetzung. Mitarbeitende bedürften deshalb spezieller Formen der Unterstützung: Supervision, Intervision, Monitoring. Denn das Problem bestehe darin, dass Mitarbeitende nicht nur ihre Sinnwahrnehmungen verarbeiten müssten, sondern auch die ihrer Klientinnen. Anders als in der Psychoanalyse, wo individuelle Träume verarbeitet würden, gehe es im institutionellen Bereich um die „Matrix Sozialer Träume“ (S. 210). Bilder stünden im doppelten Kontext von Organisation und persönlicher Wahrnehmung. Es entstünden „innere(.) Bilder“ (S. 211), die den Zugang zur Interpretation des Gesamtbildes zuließen. Exemplarisch führt der Autor ein Systemmodell zum Thema „Haltung in Organisationen“ an, das Studierende der Fachhochschule ideografisch entworfen haben und das der Autor analytisch deutet. Dabei entstehen, so der Schluss, „ein Spannungsfeld, Antinomien, die vielleicht nicht aufgelöst werden können und deshalb ausgehalten werden müssen. Haltung braucht schließlich immer auch eine gewisse körperliche Anspannung (gerader Rücken, erhobener Kopf.“ (S. 222 f.). Doch gerade darin liege das Problem mit der Folge einer „weit verbreitete(n) Abwehr von sozioanalytischen Methoden“, weil man, mit den Worten von M. Lohmer und H. Möller, der „Destruktivität mancher organisationalen Realität“ [1] ausweichen wolle. (S. 223)

Diskussion

Von einer Quadratur des Kreises war oben die Rede, und dieses Bild drängt sich nach der Lektüre des gesamten Buches immer wieder auf, zumal es den Anspruch formuliert, „Lösungsmöglichkeiten aus der Praxis für die Praxis“ anzubieten. Der jeweils breit dargelegte wissenschaftliche Diskussionstand zu den einzelnen Fragestellungen fundiert diese Beiträge überzeugend. Es entsteht ein Spannungsbogen von dem konkreten Ansatz veränderter Bedingungen des Lernens am Arbeitsplatz über Fragen zur Organisationskultur, die persönliche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit ihrer Mitarbeitenden ins Zentrum stellt. Herausforderungen durch veränderte Rahmenbedingungen etwa gesetzlicher Art werden zum Anlass genommen, Strukturen eines Change-Managements mit der Frage zu verbinden, wie hier die Mitarbeitenden, aber auch die Kundinnen mitgenommen werden können und welche Auswirkungen auf die Belastungen am Arbeitsplatz entstehen. Damit kommt der Band zur zentralen Frage nach der „Haltung“, also der Fundierung in einer ethisch am Menschen ausgerichteten Organisationskultur. Abschließend werden die Möglichkeiten der Alphabetisierung von erfahrbaren und erfahrenen Krisenerscheinungen in der Gesellschaft in der Rezeption von Klientinnen und Mitarbeitenden mit der Realität abwehrenden Verhaltens kontrastiert, weil nicht wenige es so genau gar nicht wissen wollen, was in und durch die Organisation geschieht.

Die Leser und die Leserinnen fragen sich allerdings, wie dieser Ansatz praktisch werden kann. Die beiden ausführlich aufgenommenen Hinweise „aus der Praxis“ sind dieses nur partiell: Die hier als Repräsentanten der Praxis gewählte Gruppe von Studierenden hat zwar praktische Berufserfahrungen, befindet sich aber auf einem selbstgewählten Reflexionspfad der akademischen Weiterbildung. Sie überdenken ihre Praxis mehr, als dass sie aus der Praxis direkt berichten. So werden wichtige Bezüge zur Praxis auch nur gestreift, vor allem die Refinanzierung sozialarbeiterischer und gesundheitsfördernder Maßnahmen. Denn es gibt nicht nur Gesetze, es gibt auch einen steten Kampf um eine angemessene Refinanzierung. Die Forderung nach Supervision, Intervision, nach digitaler Weiterbildung, die Forderung einer Tätigkeit, die Selbstwirksamkeit beinhaltet, muss umgelegt werden – in Euro und Cent, nicht nur, aber auch. Sicher können Organisationen auch innerhalb des im Regelfall eng gesetzten Finanzrahmens ‚lernen‘, aber ein Blick in die Realität sozialarbeiterischer Tätigkeiten etwa gegen soziale Ausgrenzung verweist in hohem Maße auf Effekte des „Creaming the poor“, von „Dokumentationen“, die mehr der Nachbewilligung dienen, vielleicht auch der Selbstvergewisserung, dass nicht alles umsonst ist. Das beschreibt zwar nicht die Praxis, wohl aber nicht unwichtige Teile der Praxis. Man fragt sich, was wäre herausgekommen, wenn die beiden hier angeführten Meldungen statt von Studierenden mit Berufserfahrung von praktisch Arbeitenden im täglichen Arbeitsstress und angesichts stets zu knapper Refinanzierung erstellt worden wären.

Soziale Arbeit und Gesundheitsförderungen stehen in einem wichtigen, notwendigen wechselseitigen Theorie-Praxis-Transfer. Studierende erleben, so das on dit, nach dem Studium meist einen „Praxisschock“. Ein ehemaliger Student der Sozialarbeit rechtfertigte sein geringes Interesse am Studium mit dem Hinweis, das ‚Eigentliche‘ werde er sowieso erst in der Praxis lernen. Jörg Martens bestätigt, dass 60–80 Prozent des Handlungswissens auf informellen Lernprozessen am Arbeitsplatz basierten. Nur, wie kommt dieses Handlungswissen zustande? Der im Studium begonnene bzw. in der Weiterbildung fortgesetzte Umgang mit Theorie erfährt in der Praxis eine Präzisierung, die im Austausch in Einrichtungen der Erst- und Weiterbildung auf die Theoriebildung zurückwirkt. Dabei gibt es zeitliche Verschiebungen, Ungleichzeitigkeiten. Insofern sind die in diesem Band angeführten Konkretionen ‚aus der Praxis‘ schlüssig.

Deutlich wird: Auf Veränderungen in der Gesellschaft und damit auf dem Arbeitsmarkt sollte nicht mit einer Reduktion der Ansprüche auf qualifizierten Nachwuchs, lernende Organisationsstrukturen, gesundheitsfördernde Kultur und die Selbstvergewisserung der eigenen Haltung im Hilfeprozess verzichtet werden. Dieses wäre keine Lösung, es würde die Krisenerscheinungen nur noch weiter zum Teil der eigenen Arbeit werden lassen. Nur man kann und darf dieses auch nicht ignorieren, weil sonst genau das passiert, was Maria Pidde als „Hinterbühne“ beschreibt. Doch dieses ist kein ausschließlich innerorganisatorisches Problem, sondern eines, das nicht zuletzt in den gesamtgesellschaftlichen Verteilungsprozessen begründet liegt. Rente, Gesundheit, Arbeitslosigkeit sind die großen sozialpolitischen Themen, über die öffentlich gestritten wird und an die sich letztlich niemand herantraut, wirklich zu kürzen, von Korrekturen abgesehen. Bei den zigtausend dezentralen sozialen Einrichtungen aber wird herumgekürzt und unzureichend refinanziert, weil erstens die Kundinnen arbeitsmarktfern und zweitens die Organisationen eher verhandlungs-friedlich eingestellt sind. Dieses schlägt sich auch und gerade in der Besoldungsstruktur in diesen sozialen Bereichen nieder. Die Finanzknappheit ist nicht das einzige, aber ein zentrales Problem der Praxis. Dieses müsste gerade in einem Band für die Praxis dargelegt werden. Sicher bestehen Abwehrmechanismen, wie von André Niggemeier angeführt, gegen allzu gründliche Kenntnisse der inneren Verfassung von Organisationen, aber mindestens so sehr besteht eine weitgehende Abstinenz konfliktorientierter Auseinandersetzungen mit öffentlichen Finanziers, obwohl doch das, was soziale Organisationen bearbeiten, nicht von diesen selbst verursacht worden ist, sondern als „Brennglas gesellschaftlicher Verhältnisse“ Fehlentwicklungen zu korrigieren versucht, die extern entstanden sind.

Fazit

Soziale Arbeit braucht Theorie, die praktisch werden muss, um wirken zu können. Theorie wird sich korrigieren müssen, aber nicht, um sich Restriktionen in der Praxis anzupassen, sondern um die „gesellschaftlichen Krisen“ in sich aufzunehmen, zugleich um ihre auf den Menschen und dessen Selbstwirksamkeit ausgerichtete Haltung zu schärfen. Der vorliegende Band gibt wichtige theoretische Anstöße für die Praxis, damit dem Votum des Soziologen Werner Hofmanns folgend: „Und ohne die großen Ideen gibt es kein wirkliches Fortschreiten auch in der praktischen Welt.“ [2]


[1] M. Lohmer und H. Möller 2019. Psychoanalyse in Organisation. Einführung in die psychodynamische Organisationsberatung, Stuttgart

[2] W. Hofmann 1970, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin, S. 275

Rezension von
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster
Evangelische Hochschule RWL Bochum und Justus Liebig-Universität Gießen
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Es gibt 8 Rezensionen von Ernst-Ulrich Huster.

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ISSN 2190-9245