Raphaela Edelbauer: Routinen des Vergessens
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 10.01.2025
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Raphaela Edelbauer: Routinen des Vergessens. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 144 Seiten. ISBN 978-3-7681-9808-0. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Mit „Routinen des Vergessens“ sind nicht etwa kulturkritische Versatzstücke vorgetragen, mit denen der schlechten Wirklichkeit beigekommen werden soll. Hier geht es um das sehr vertrackte Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktionalität. Dabei rückt der Prozess des literarischen Schreibens in den Fokus der Betrachtung und mit diesem die Methoden und Techniken der Textproduktion. Raphaela Edelbauers hier publizierten Texte, die anlässlich ihrer ersten Poetikdozentur in Wiesbaden entstanden sind, machen transparent wie die Autorin in der Sprache arbeitet, ja mehr noch in ihr lebt und dadurch Erfahrungsräume freischaufelt, die an der Schnittstelle von Wahrheit und Fiktion situieren. Ihre Ausführungen und Reflexionen machen dafür Anleihen bei der Kunstgeschichte, (Analytischen) Philosophie sowie insbesondere beim naturwissenschaftlichen Denken und weichen so – ganz bewusst – die über Jahrzehnte eingeübten akademischen Fachgrenzen auf.
Die Autorin ist für ihr Werk mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden und gibt z.T. intime Einblicke in die Entstehungspraxis ihrer eigenen Romane.
Inhalt
Das Werk umfasst insgesamt drei Texte mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierungen, alle adressieren allerdings das Vergessen als Grundmodus literarischer Praxis (vgl. S. 70).
Das erste Stück umkreist eine Fiktionalitätstheorie. Hier wird der Gedanke entwickelt, „dass das, was wir normalerweise als Realität bezeichnen, nur eine sehr spezielle und privilegierte Form der Fiktion ist“ (S. 10). Hinter der Fiktion verbirgt sich der Begriff der Realität, den Edelbauer vom Realismus (als meist scheiternde Nachahmung der Wirklichkeit) abgrenzt und als Möglichkeitsraum definiert. Ein Möglichkeitsraum, der eine „Kohärenz von Naturgesetzen“, d.h. die Vollständigkeit einer in sich stimmigen Welt birgt, was am Beispiel des Nintendo-Spieleuniversums erläutert wird (vgl. S. 13 f.). Das spiegelt sich wider in literarischen Sätzen, die ausschließlich an sich selbst und an dem sie umgebenden Text zu überprüfen seien. Ausgedrückt ist damit ein selbstreferentieller Begriff von Wahrheit, zumal im Sinne Freges „Sinn und Bedeutung“, d.h. „Satzgehalt“ und „Wahrheitswert“ zusammenfallen (S. 17.). Edelbauer geht daran anschließend der Frage nach, warum wir trotz dieser Selbstreferentialität etwas „Tatsächliches“ aus literarischer Fiktion lernen können, was u.a. damit zusammenhänge, dass der „epistemologische Kern eines literarischen Textes (.) durch seine Struktur auf eine tatsächliche Wahrheit, die in der sogenannten ‚Welt‘ gilt“, verweise (S. 18). Oder anders und im Sinne Freges gesprochen: Der „Wahrheitswert“ eines literarischen Textes „ist bereits in der Äußerung enthalten“ (S. 21), sodass Kontingenz (im Sinne von Zufälligkeit) in Literatur eigentlich nicht existent sei und ein literarischer Text nicht lügen könne. Vielmehr trete durch die Fähigkeit der Dichtung zu „fiktiver Anschauung auf abstrakte Prinzipien“ hinter dem konkreten und unmittelbar sichtbaren Erzählstrang eine „Idee als Form“ auf, eine Metapher, was Edelbauer an „Groß-Einland“ in ihrem Roman „Das flüssige Land“ exemplifiziert (S. 22).
Erkenntnis fordere also Fiktion (vgl. S. 32), so pointiert die Autorin weiter, und argumentiert, dass das literarische Schreiben, ähnlich wie die Naturwissenschaften, mit Modellen zu arbeiten pflegt (vgl. S. 25 ff.), Modelle, die sich auch auf Zukunft beziehen, womit sie etwas repräsentieren, „was noch gar nicht da ist“ (S. 26). So ließe sich ein Modell für etwas kreieren, „das man selbst noch nicht versteht und das wiederum als Werkzeug für andere Phänomene herangezogen werden kann“ (S. 34). Edelbauer geht es hier allerdings nicht um eine reine „Anwendung“ von Modellkonzeptionen auf die literarische Textproduktion, sondern Möglichkeitsräume einer Realität stehen zur Disposition, „ein kataboler Prozess“, der auf das „Wegfallen von Limitationen“ zielt und damit die „Universalität einer Erfahrung hervorhebt“ (S. 37). So fragt Edelbauer nicht zu Unrecht, ob denn nicht etwa Kafkas „hochgradig phantastische Verwandlung als ‚echtere‘ Beschreibung einer menschlichen Erfahrung“ bezeichnet werden könne als ein „Text des französischen Realismus“ (S. 36, vgl. auch S. 54).
In Anlehnung an das „Sprachspiel“ Wittgensteins (S. 42) und der Schlegelschen „Idee der Ironie“ (S. 46) entwickelt Edelbauer ihre eigene literarische Modellbildung, die als Dreischritt daherkommt: Das „Setzen“ meint „das Erschaffen einer Versuchsanordnung im Kunstwerk, eines fiktiven, verdichteten Modells, und der Frage, die man an es stellen will“. Das „Aus-Sich-Heraustreten als eine Art „Schwebezustand“, dass das Implementieren eines Imaginären einschließt „als wäre es bereits Teil der Wirklichkeit“. Darauf folge das „In-sich-Zurückkehren, das dem Überführen in den nicht-imaginären Zustand und dem Tilgen von Hilfskonstruktionen“ gleichkomme (S. 46). U. a. unter Zuhilfenahme dieser literarischen Form des Schreibens ließe sich zu „tieferen“ Wahrheiten vorstoßen, die einen „gewissen Grad an Generalisierung“ mit sich führen (S. 50). Diese grundlegenden Prinzipien seien allerdings nicht in der Lage, sich in der sinnlichen Welt als sie selbst zu manifestieren: „Da sie unendlich viele Einzelinstanzen in sich fassen, können sie selbst nicht als Einzelinstanz greifbar werden. Sie können aber“, und darauf kommt es Edelbauer an, „wohl in Phänomenen durchscheinen, deren Prinzip sie sind (.)“ (S. 50 f.). Das bildet sich in Texten ab, die auf „abstrakte[n] Prinzipien“ beruhen, die auf etwas referieren, was über die eigentliche Schilderung hinausginge (S. 52, 54). Essentiell sei es, „die Handlung als potentiell austauschbare Materie zu betrachten“ (S. 52). Dem tradierten wissenschaftlichen Blick wird so der unmittelbare und zusammenfassende Zugriff auf den Inhalt verunmöglicht, eben weil „das, was darin erklärt werden soll, ursprünglicher ist als die Erklärung selbst“ (S. 53).
Der zweite Hauptabschnitt vermittelt „Grundlegendes zur Praxis“. Nach Edelbauer heißt Schreiben „nicht allein (.) in der Sprache zu arbeiten, sondern vor allem an der Sprache“ (S. 56). Damit ist verwiesen auf eine Praxis des Schreibens, die stets mit Problemlösungen zu tun hat (vgl. S. 61). Die Autorin optiert für eine „katabole“ Form der Problemlösung, um eine Perspektivenverschiebung anzustoßen. Katabol meint hier „Prozesse der Abtragung, des Verlernens, des Herunterreißens von Schichten“, eben jene „Routinen des Vergessens“, Methoden, „die oft damit arbeiten, dass etwas systematisch aus einem Sprechvorgang subtrahiert wird, das auf den ersten Blick elementar erscheint“ (S. 63 f.). Das Vergessen selbst wird als genuin produktiver und nicht pathologischer Akt verstanden. Wer bspw. für einen Moment vergesse, dass ein Geländer zum Festhalten gedacht sei, so ließe sich darauf balancieren (vgl. S. 66). Das ist durchaus progressiv gemeint. Der tägliche Kampf im Schreiben bestünde darin, zuallererst die uns eingeprägten und „verknöcherten Sprachstrukturen (.) Stück für Stück zu verlernen“ (ebd.), was Edelbauer im Folgenden sehr detailliert auch mit zahlreichen Passagen aus ihrem persönlichen und eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Arbeitsjournal darstellt (vgl. S. 67 ff.). Konzeptionell zentral sei das Etablieren einer „Basislinie des Normalen – und zwar allein deshalb, damit sie durch das Magische zerstört werden kann“ (S. 68). Diese Basislinie wird allerdings nicht zum vollständigen Verschwinden gebracht, sondern schimmere als „erste Vorstellung“ weiterhin noch durch, obwohl es durch ein neues Paradigma ersetzt wurde. „Ich sammle“, so Edelbauer, „etwa Verben aus neurologischen Fachlexika oder solchen über Informatik, dann trage ich die eigentlichen Vorgänge ab und transplantiere jene, die formähnlich sind“ (ebd.).
Indem das Entfernte „formgebend“ wirke, lässt sich die Technik des Vergessens zudem als Fragmentierung realisieren, um so „das Ungesagte“ in den Mittelpunkt zu rücken (S. 69 f.). Und auch die „chirurgisch[e]“ Entfernung, die „Amputation“ des Besonderen, die dazu führt, „mehrere Personen in ein und demselben Gesicht“ erkennen zu können, führen zu dem „Überraschende[n]“, dass, nachdem man die ganze Welt aus der Sprache herausgekürzt hat, noch immer eine Menge übrigbleibt“ (S. 70, 72).
Um also durch literarisches Schreiben „zum Wesentlichen zu gelangen“, bedarf es eines Lernprozesses, der die produktiven Praxen des Vergessens fruchtbar macht (S. 73). Auf den darauffolgenden Seiten geht es um einige weitere technische Aspekte der Arbeit in und an der Sprache, wobei die Autorin Themenfelder für sich entdeckt und für ihre Sache nutzbar macht, die scheints abseits der literarischen Produktion stehen. So, wenn sie hinsichtlich des Plots auf Videospiele bzw. auf das Gamedesign mitsamt dem dahinterliegenden „MDA-Modell“ rekurriert (S. 74 ff.) und zu dem Resümee kommt, ein „dramaturgischer Bogen“ könne sich nicht nur in dem, „was passiert“ abspielen, „sondern auch innerhalb der Form“ (S. 79). Diese Tatsache angenommen zusammen mit der Ansicht, dass das Schreiben vor allem als „Innovation“ (im Sinne einer selbstwirksamen Herstellung und Verwendung der eigenen Werkzeuge) verstanden wird (S. 93), eröffnet einen „Möglichkeitssinn“, der den „Status quo der Sprache“ unterminiert (S. 92). Vor dem Hintergrund eines Innovationsbegriffs, der Möglichkeiten erschaffen soll, „indem man sie aufsucht“, lehnt Edelbauer denn auch brüsk die Aussage ab, dass schon alles gemacht worden sei (S. 92 f.). Stattdessen schließt sie: „Der Kern der Praxis ist, dass sie keine Peripherie und kein Zentrum hat und dass wir Schichten um Schichten von ihr abschälen können, ohne je an ein Ende zu gelangen“, wobei „der Lohn für die Lösung eines Rätsels (.) nur weitere Rätsel [sind]“ (S. 94).
Den inhaltlichen Abschluss des Buches bilden „Anmerkungen zur Metapher“ (S. 95). Darin werden zwei Hauptthesen diskutiert. Die erste eruiert die Grundannahme, „dass jede Äußerung auf einer Skala des Metaphorischen stattfindet“ (S. 96), was Edelbauer einbettet in Überlegungen zur „Eigentlichkeit“ und „Übertragung“ (S. 97 ff.). Anders als Nietzsche, fasst sie das „Bild von der Metapher“ nicht als „verbrauchtes Material“, „bewusstes Täuschungsmanöver“ oder zivilisatorisch vermittelte Verdrehung seiner eigentlichen Bedeutung, sondern vielmehr als „epistemologisches Werkzeug, als Erweiterung der Sprache“ bzw. „kreatives Formwerkzeug“ (S. 104 f.). Entlang der Autoren Giambattista Vico und Aristoteles spürt Edelbauer der „Bedeutungskonstitution“ (S. 108) der Metapher nach, um zu einem eigenen Standpunkt zu gelangen, der die Dynamik einer „zweiseitigen Metapher“ verficht (S. 116), also eine „wechselweisen Interpretation“, bei der es „keinen eindeutigen Herkunfts- und Zielbereich mehr, kein genuin Übertragenes und kein Gemeintes [gibt]“ (S. 117). Konkret meint dies ein dauerndes „Umschlagsverhältnis“, „wo der eine Bereich für den anderen [gilt]“, „Aufschluss [leistet] über diesen und hilft, einen Begriff zu schärfen, der im nächsten Schritt wieder eine neue Allegorese motiviert“ (S. 116).
Die Ausarbeitung der zweiten These zur Metapher stößt eine ganze Gedankensammlung an und nimmt u.a. Bezüge zur bildenden Kunst auf. Mit Piet Mondrian werden jene Routinen des Vergessens ergänzt und variiert. Gefragt wird, wie ein Bild, „wenn ich Details wegnehme, genauer werden [kann] statt ungenauer?“ Die Antwort von Edelbauer: „Indem ‚genau‘ anders verstanden wird: als Charakterisierung des Wesens eines Dings, nicht eines individuellen Gegenstands“ (S. 122). Gemeint ist hier eine Generalisierung, die sich herstellt, indem Kunst auf jene Strukturelemente und Kräfte abstellt, die überhaupt erst zu einer größeren Formung führen (vgl. ebd.). Auch dahinter steckt ein „radikale[s] Minimieren von Eigenschaften“, um zu den eigentlichen „Grundkräften“ durchzustoßen (S. 132 f.).
Diskussion
Literatur sei nicht erfunden oder erlogen, vielmehr könne sie auf einer viel tieferen Ebene wahr sein als das, was uns täglich widerfahre (vgl. S. 54). Diese Einsicht – Kantianer mögen jetzt angestrengt weghören – ist so oder so ähnlich bereits von vielen anderen ausgesprochen worden, auch von denjenigen, die auf der anderen Seite stehen und einen wachsenden Überdruss am und im institutionellen Gefüge der Wissenschaftsproduktion entwickelten. Erinnert sei hier an den (leider) etwas in Vergessenheit geratenen Hans Speier, erster Promovend bei einem gewissen Karl Mannheim, und, wie Edelbauer, ebenfalls Grenzgänger insofern, als er den Sozialwissenschaften ins Stammbuch schrieb, sie verstünden viel weniger vom Leben als Künstler und Schriftsteller. Er sei zudem der Ansicht, „dass man von bedeutenden Romanciers zuweilen mehr über das Leben erfahren und mehr Menschenkenntnis erwerben könne als aus soziologischen oder psychologischen Monografien und Textbüchern“. Was Speier hier als „Autobiografische Notiz eines Soziologen“ kundtat, womit er den produktiven Trübsinn nicht nur des Wissenschaftsbetriebs, sondern den der gesellschaftlichen Reproduktion im Allgemeinen traf, erhielt in einem anderen Aufsatz über Shakespeares „Der Sturm“ eine schärfere Wendung. Im Mittelpunkt der Kritik steht nun die „Engstirnigkeit“ der Naturwissenschaften, deren Opfer wir seien. „Wenn wir“, so Speier, „die Natur erforschen, wird unsere Ungeduld nur noch von unserer Schlauheit übertroffen. Wie Wilde, die ein Geheimnis von einem Gefangenen erpressen wollen, sagen wir zur Natur: Wir werden dich foltern, enthülle dein Geheimnis, sonst kreuzigen wir dich“. Allerdings seien wir nicht in der Lage, die Natur wirklich zu kreuzigen, stattdessen kreuzigen wir diese symbolisch im Dichter. „Wir ergreifen den Dichter, den wir nicht verstehen, und Dichtermord wird ein wissenschaftliches Ritual, das wir nur unterbrechen, wenn wir erschöpft sind“. Doch „[w]er ist der Dichter? Wir wollen nichts davon hören, dass er das vergessene Du und Ich ist, das die Natur kannte, bevor sie gefoltert wurde“. Auch hier, so ließe sich argumentieren, geht es um Routinen des Vergessens. Ein Vergessen, das im Verhältnis von Natur und ihrer gewaltsamen Aneignung durch den Menschen situiert, und die durch Aufklärung lancierte umgekehrte Frage ins Verborgene drückt, inwieweit Natur eigentlich nicht „Pädagogin des Menschengeschlechts“ sein könnte (Carl Gustav Jochmann, „Politische Glossen“). Dass die an Natur angelegten „Modelle“ nicht einfach neutral-beschreibend daherkommen können, vermag die wissenschaftliche ‚Vernunft‘ nicht einzusehen, da sie, in romantischer Manier, nicht in der Lage ist, im naturwissenschaftlichen Denken mehr zu sehen als eine Produktivkraft und damit Bereitstellungsraum für Mittel und Vorlagen eigener (literarischer) Produktivität. Erdreistet sich ein Dichter an diesem Ritual zu rütteln, den Schleier vorgeblich neutraler Expansion von Erkenntnis (und literarischer Produktion) für einen Moment zu heben, um so die Hybris des Menschen als ‚Schlauheit‘ zu ironisieren, so kann er sich der Rache gesellschaftlicher Institutionen gewiss sein, die ihn bis zur eigenen Erschöpfung foltert. Sie foltert ihn, weil er innerhalb dieser Institutionen und ihrem artifiziellen Verhältnis zur Natur an etwas Wahrem rührte, das im Koordinatensystem uneingestandener Ausbeutung und zu diesem Zweck verfügbar gemachter Natur zu verorten wäre. Speiers Nebensatz ‚bevor sie gefoltert wurde‘ spreizt zudem einen Zeithorizont auf, mit dem auf die unheilvolle gesellschaftliche Einbettung von Naturwissenschaft als entwicklungsgeschichtliches Faktum verwiesen ist.
Wenn der Verlag nun im Klappentext bewirbt, naturwissenschaftliches Denken und literarischer Erkenntnisdrang griffen ineinander, ja Naturwissenschaften, Literatur und Philosophie seien Kehrseiten ein und derselben Medaille und demzufolge mit „ähnlichen Methoden“ erschließbar, dann sieht diese, die Poetikvorlesungen grundierende These von jenen Zusammenhängen erstmal ab (im Unterschied bspw. zu den Frankfurter Poetikvorlesungen eines Alexander Kluge aus dem Jahr 2014). Während, um ein letztes Mal Speier zu bemühen, der Wissenschaftler voller Ernst arbeite, „bis er im Laboratorium seinen Geist aufgibt“, bezieht sich Edelbauer überwiegend affirmativ auf Naturwissenschaft und versucht ihre Modellkonstruktionen fruchtbar zu machen für die eigene literarische Textproduktion. Dies nährt den Verdacht, dass der Realitätsbegriff durch Fiktionalität nicht gebrochen, sondern ungebrochen hingenommen wird. Die Realität hat keine Schwere, trägt keine Trauer, keine Melancholie mehr in sich, sondern ist produktives Vehikel für diverse Satzkonstellationen der Fiktion, solange nur jene ‚Kohärenz von Naturgesetzen‘, ‚die Vollständigkeit‘ einer in sich stimmigen Welt annähernd erreicht ist (s.o.). Mehr noch und mit der alten aber sicher nicht veralteten „Theorie des Romans“ von Georg Lukács gesprochen: „das Formbestimmende und das Inhaltgebende der Dichtung“ ist nur noch schwer mit dem „Symptom des Risses zwischen Innen und Außen, [dem] Zeichen der Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, der Inkongruenz von Seele und Tat“ zu verbinden. Aber warum? Das Vergessen darf nach Edelbauer nicht dem Wortsinn nach verstanden werden. Denn im Abschneiden, Determinieren, Herausmontieren hebt sich das Minus im selben Augenblick durch ein Plus wieder auf. Komme was wolle, die Subtraktion findet sich durch Addition bereits wieder egalisiert, das Gleichgewicht (im Sinne einer in sich geschlossenen Gesetzmäßigkeit) ist im selben Moment wiederhergestellt und zwar ganz gleich, an welchem gesellschaftlichen Ort sich der literarische Ausdruck befindet. Die Technik schließt nahezu immer (oder mit hoher Wahrscheinlichkeit) besagten Möglichkeitssinn (s.o.) auf. Allein die ‚falsche‘ Anwendung eines Modells, eine schiefe, eine subjektive Unachtsamkeit könnte diesen Akt vereiteln. Edelbauers Methode ist, in Anlehnung an die Romantik Schlegels (die, nebenbei, anschlussfähig ist an die Logik des Pragmatismus) expansiv, ja gemahnt im Subtext (Stichwort ‚Innovation‘, s.o.) gar an Schumpeters „schöpferische Zerstörung“, die im Wirtschaftsprozess neue ‚Kombinationen‘ perpetuieren soll – ungeachtet dessen, dass konkrete Menschen einen Preis dafür zu zahlen haben. Der Logik nach aber ist diese Expansion, so schöpferisch sie auch sein möge, vielleicht etwas zu rein, zu bruchlos konzipiert und vorgetragen. Nicht in die Reflexion geht ein, dass die ‚Routinen des Vergessens‘ als reine Methode des Schreibens selbst Träger einer anderen Art des Vergessens sein könnten. Ihrem Prinzip nach nicht zulassen dürfen sie das „Nicht-vergessen-Können“ (Lukács), welches sich dem Text gewaltvoll einzeichnet, einzeichnen könnte. Das meint, allgemein, eine gesellschaftlich vermittelte Widerspruchserfahrung, die der Produktivität einen Strich durch die Rechnung zu machen droht, den produktiven Anbau verweigert, den Möglichkeitssinn vorab restringiert. Konkreter ist darunter verstanden die Erfahrung von Zwängen, die sich nicht abblenden lassen und als Erinnerungsrest in einem sich noch so frei dünkenden Schreiben aufmerken. Wenn Jules Vallés mit einer schönen Wendung in „Les Réfractaires“ schreibt, es gehöre ein „grimmiger Mut dazu, sich in dieses Leben hineinzuwagen, das das Elend gesiegelt hat“, dann ist der Leser der ‚Routinen‘ von der Erfahrung dieses illusionslosen Eintritts, den der Literat als geprügelter Hund mit jedem neuen, alten Tag zu praktizieren hat, dispensiert. Diese Form des Überdrusses, der Beschwerlichkeit, die er mit etwas größerem, nämlich einer an sich selbst leidenden Menschheit teilt, da sie es nicht schafft, gesiegeltes Elend aufzubrechen, affiziert die ‚Routinen des Vergessens‘ nicht. Freilich, auch diese haben zu kämpfen, aber die Kämpfe dort liegen im Feld technischer Modellierung. Das „Nicht-vergessen-Können“ hingegen liegt auf einer anderen Ebene, die über literaturwissenschaftlich verbriefte Technik des Schreibens hinausgeht, was jedoch durch die Realisierung jener Routinen im literarischen Gedächtnis aktiv überschrieben wird. Als Möglichkeit in Betracht gezogen wird nicht, was Adorno am Beispiel Becketts (Versuch, das Endspiel zu verstehen) exemplifizierte, nämlich dass im „Akt des Weglassens (.) das Weggelassene als Vermiedenes [überlebt]“. Dieses Vermiedene, selbst gesellschaftlichen Ursprungs, kann bei Edelbauer nur schwer als Lebendiges mit eigenem Anspruch in die Erinnerung aufrücken. Indem es sich protestlos mit der Amputationssäge abtrennen ließ, relativiert sich die dort erfahrene Gewalt. Das Vermiedene figuriert als ein zum Schweigen gebrachtes Mittel, das sich für den prospektiven Möglichkeitssinn zu prostituieren hat. Das Potenzial literarischen Aufbegehrens ist an dieser Stelle kaltgestellt, der „Erzählraum des Nichterzählten“ (Kluge) als „transzendentaler Ort“ (Lukács), auf den Edelbauer ja ebenfalls zielt, begriffslos geschaltet. Indem Reflexion da nicht heranreicht, macht sich die literarische Textproduktion des willkürlichen Sprachspiels anheischig oder zu mindestens verdächtig. Sie kappt die Verbindung zur Historizität, stellt sich außerhalb ihrer, indem sie sich besonders tief in ihr beheimatet durch das Anklammern an sich erneuernde Formen von (naturwissenschaftlich vermittelter) Technologie, die die Aktualität des eigenen Textes gratis mitzuliefern versprechen. Oder anders und ungehobelter: Der literarische Augenblick wird technisch erlebt und instanziiert, nicht real erlitten.
Jene „Unheilbarkeit des Jahrhunderts“, die noch Hölderlin so derb aufs Gemüt schlug, muss Edelbauers literarische Praxis nicht mehr zwingend enervieren. Die Fiktionalität als Form einer geschaffenen, in sich geschlossenen Sinnrealität, verliert, so unser Argument, an einer frappanten Stelle den Kontakt zur ‚materiellen‘ Wirklichkeit, womit ein Spalt zur literarischen Selbstreferentialität aufgerissen ist, durch den Edelbauer natürlich nicht durchschlüpfen möchte. Allein die Gefahr besteht, ein schlechtes Erbe der Analytischen Philosophie, die Sinn und Bedeutung widerspruchslos zu einer Identität zusammenschrumpft (vgl. S. 21), womit der Wahrheitswert immer schon in der Äußerung enthalten sei (s.o., ebd.). Zwar spricht Edelbauer an selbiger Stelle davon, dass der „Wahrheitsanspruch der Methode (.) die vordergründige Handlung transparent werden [lässt], um den Blick auf dahinterliegende größere Bewegungen, gesellschaftliche Zustände oder Ideen zu lenken“ (S. 21 f.). Aber wie diese Brücke geschlagen sein soll, ist dann nicht weiter begründet. Stattdessen gelangt die Dichtung „qua Anschauung“ auf diese „abstrakte[n] Prinzipien“ (S. 22). Der modellbildenden Anschauung ist es, so will es jedenfalls scheinen, mit der Muttermilch mitgegeben, von sich aus, d.h. anstrengungslos auf etwas Größeres als sie selbst sein kann, zu verweisen. Das entlastet natürlich ungemein, zumindest, wer innerhalb der bildenden Kunst in Richtung (gesellschaftlicher) Objektivität schielt. Dagegen einwenden ließe sich, dass es doch Aufgabe von guter Literatur sei, sich von der Realität (ergo: dem ‚schlechten‘ Realismus des 19. Jahrhunderts) freizumachen, kein dürres Abziehbild der elenden Wirklichkeit zu sein, um eben andere Möglichkeitsräume zu eröffnen, durch die etwas wie auch immer geartetes Neues entstehen könne. Hier wäre erneut mit Adorno (Rede über Lyrik und Gesellschaft) zu präzisieren: „Die höchsten lyrischen Gebilde“ seien „die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird“. Letztere wiederum, als „Medium der Begriffe“, stelle „die unabdingbare Beziehung auf Allgemeines und die Gesellschaft [her]“. „Lyrik“, so Adorno weiter, zeige sich dort „am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte“. Bestenfalls ist Literatur – in der Tat – kein unmittelbares Sprachrohr der Realität. Ihre Aufgabe besteht darin, einen Balanceakt zu vollziehen. Ohne dem Gesellschaftlich-Allgemeinen zu viel Konzessionen zu machen, hat sie das, was daran Wahrheit sein könnte, mit dem Objektivitätsanspruch von Sprache zu vermitteln. Das impliziert, diese nicht als reines Werkzeug zu missbrauchen, sondern ihr ihren eigenen Raum zuzugestehen, der sich, in einem freien Akt künstlerischer Gestaltung, zu einer Unverfügbarkeit abhärtet. Unverfügbarkeit meint einen Augenblick, wo die Sache selbst auftritt, ohne sich integrieren lassen zu müssen durch das, was da außer ihr harrt und was sie in sich verobjektiviert hat. Eine literarische Objektwelt also, die sich aktiv, d.h. durch die begriffliche Spannung des Ausdrucks entzieht und gemein (identisch) macht weder mit der ‚äußeren‘ Wirklichkeit noch mit der Selbstreferentialität oder Selbstvergessenheit des Subjekts – gleichwohl mit der unbekannten Ahnung, dass sich nicht alles in Sprache münzen lässt. Erst indem Sprache dazu angehalten wird, ihr Nichtbegriffliches preiszugeben, wird schemenhaft erkennbar, wohin sie ‚von sich aus möchte‘. Das ist bspw. auf den Romancier Gustave Flaubert zu übertragen. Dieser verfocht einen Stil, der, wie sein Schüler Maupassant ausplauderte (Über Gustave Flaubert), unpersönlich war und dessen Qualität sich rein an der Qualität des Gedankens zu bemessen hatte. Flaubert sei besessen gewesen von dem unbedingten Glauben, „dass es nur eine einzige Art gibt, eine Sache auszudrücken (.). So war sein Schreiben für ihn etwas Furchtbares, reich an Qualen, Gefahren und Ermüdungen. Er setzte sich mit Furcht und Verlangen zu dieser geliebten und peinigenden Aufgabe an seinen Tisch. Stundenlang verharrte er so regungslos, an seine grausige Arbeit geschmiedet wie ein geduldiger und gewissenhafter Riese, der aus den Kugeln eines Kinderspielzeuges eine Pyramide errichtet“. Diese z.T. ins Anekdotische gleitenden Beschreibungen Maupassants, die mittlerweile selber dem festen Kanon klassischer Literatur angehören, gemahnen an einen Objektivitätsanspruch, der über die Sinnrealität des eigenen Textes hinausgeht. Im hartnäckig gesuchten finalen Adjektiv oder Verb setzt der Schriftsteller einer Wahrheit nach, die sich als literarischer Fixpunkt kristallisiert und nur auf diese eine Art ausgedrückt werden kann. Eine Sache auf eine Art versuchen auszudrücken heißt jedoch, der willkürlichen Kontingenz der Wirklichkeit zu entsagen, ihr mühevoll einen Wahrheitsmoment abzuringen, der ihr sonst nicht zu Bewusstsein käme. Das ist mehr als jenes im Raum stehende und bereits abrufbereite „Ungesagte“ (S. 70), worum sich Alltagsgespräche in Form von diversen Eiertänzen drücken (S. 70). Die Wahrheit, auf die Flaubert zielt, ist stattdessen eine, die sich nicht so leicht in die Tasche stecken lässt. Sie ist Begriff und Nicht-Begriff zugleich und bewegt sich auf dem Boden einer Epiphanie, in Worte zu fassen, was sich nicht in Worte fassen lässt (vgl. John Williams, „Stoner“). Dieser Widerspruch macht sich im Schreiben als Erfahrung schmerzhaft geltend. In einem Brief an Louise Colet (7./8. Juli 1853) reflektiert Flaubert seinen eigenen Schreibprozess so: „Das Relief gewinnt man durch eine tiefe Einsicht, durch Durchdringung, durch Objektivität; denn die äußere Wirklichkeit muss, wenn wir sie gut wiedergeben wollen, so in uns eindringen, dass wir fast aufschreien“. Kein persönlicher Spleen des Autors drückt sich hier aus und auch kein äußerliches Herantreten an Form und Inhalt des eigenen Werkes. Vielmehr haben wir es zu tun mit einem literarischen Akt, der wahrlich erlitten wird. Das Schreiben birgt etwas zutiefst Körperliches. Das meint eine sich bewusst, aber auch notwendig zur Sache selbst hinwendenden Fläche und Tiefe, durch die (gesellschaftliche) Objektivität wie ein Blitz schmerzhaft hindurchjagt. Hinter dem ‚Beinahe-Aufschrei‘ verbirgt sich dann das Nichtbegriffliche. Und zwar im Sinne einer Grenze, die den literarischen Übertritt in zwei Richtungen garantiert und auf der Flaubert zu stehen gezwungen ist. Sie markiert die drohende (und gesuchte) Überwältigung durch jene Objektivität und deren künstlerische Rationalisierung – ein literarischer Drahtseilakt. Die belangvolle Frage, wann etwas literarische Wahrheit beanspruchen kann, lässt sich begrifflich nicht eindeutig festmachen. Stets bleibt eine nicht rationalisierbare Sphäre übrig, die sich am Material, d.h. am Körper des Autors stichelnd vergeht und als Wendepunkt in die eine oder andere Richtung aufscheint. Indem dieser Wendepunkt als literarische Erfahrung ausgesprochen und als Komposit in die Figuren des Romans eingestanzt wird, kann das objektive Moment an der Wahrheit vor den Augen des Lesers vorübergehend fixiert werden. Die Angst vor dem einen Wort zu viel, das diesen fragilen Moment vernichten könnte, ist dann selbst schon Ausdruck dieser Wahrheit. Auf diese Ebene des Schreibens sind die ‚Routinen des Vergessens‘ allerdings nicht zu stellen. Die Angst vor dem Überflüssigen muss ihnen in dem hier vorgetragenen Sinne abgehen. Weil der Akt des Determinierens nicht wegnimmt, sondern per se hinzufügt, tragen sie das Überflüssige als Viabilität, als intendierten Möglichkeitsraum unreflektiert in sich und überlagern so eine Schicht von Wahrheit, die als widerspruchsvoller Erfahrungszusammenhang keinen Erinnerungswert mehr besitzt. Dem ist durch naturwissenschaftlich induzierte Schreibtechnik oder Sprachspiel nicht beizukommen. Trotz des großen und imponierenden modellbildenden Aufwands, lässt sich, so der vermittelte Eindruck, der „Wahrheitsanspruch des Fiktionalen“ (S. 22) allzu schnell einholen. Ein Satz könne eben „gleichzeitig denotieren und exemplifizieren“ (S. 42) – unabhängig von der Sache selbst. Indem etwas erzeugt werde, würde es zugleich wahr (ebd.). Aber ‚wahr‘ in Bezug auf was? Auf die ungebrochene Faktizität der Realität? Dann zählte wahrlich allein die nominalistische Nützlichkeit der Worte für das eigene Sprachspiel. Der objektive Wahrheitsgehalt würde einer fiktionalen Sinnrealität, ihrer in sich abgeschlossenen, naturgesetzlich visierten ‚Stimmigkeit‘ geopfert und zwar insofern als die Form gesellschaftlich vermittelter (eben objektiver) Wahrheit als Kategorie der Erfahrung nicht mehr literarisch begründungspflichtig ist. Sie ist ja bereits sichtbar und als Material zur Hand – eine Hybris, die sich unbemerkt aus dem naturwissenschaftlichen Denken einmengt. So jedoch ist die Grenze zwischen dem ‚Möglichkeitssinn‘ und einem Konventionalismus, der auf das Konto gesellschaftlicher Reproduktion einzahlt, nicht zu erhellen.
Dass diese Grenze nicht mehr einsehbar ist, mutet als Preis dafür an, den Kern literarischer Praxis ohne Peripherie und Zentrum auskommen zu lassen, das Schreiben als schichtabtragendes Instrument zu konzipieren, „ohne je an ein Ende zu gelangen (s.o., S. 94). Die ‚Routinen‘ wollen „intuitiv UND analytisch“ (ebd.) sein, also einer Win-win-Situation das Wort reden. Doch indem der ‚Lohn für die Lösung eines Rätsels‘ darin liegt, weitere Rätsel zu erhalten (s.o.), während alles Rätselhafte eigentlich bereits durch die Form der Technik(en) enträtselt ist, wird dieser Gewinn in produktiven Schleifen simuliert. So entsteht nach Beenden der Lektüre der weitere Eindruck, alle Geheimnisse sind den ‚Routinen‘ bereits entlockt. Literatur gerät in eine Praxis hinein, die im wahrsten Sinne nicht mehr abzustellen ist und ihre innere Seite nach außen kehrt. Weder das Ästhetische noch das Schöne können in dieser Transparenz ihren Anker werfen. Und die Rationalität der Naturwissenschaft kam ohnehin schon immer ohne diese Kategorien zurecht. Erliegt Literatur dann noch unbeabsichtigt ihrem eigenen Sprachspiel, zieht sie sich Kritiken aus zwei Richtungen zu. Mit Nietzsche gesprochen („Die fröhliche Wissenschaft“, Aphorismus 84 „Vom Ursprung der Poesie“) läuft die Nützlichkeit des „Rhythmus“ Gefahr, zum Selbstzweck heraufbeschworen zu werden, obwohl Poesie mit dem Anspruch auftrat, sich gerade der weltlichen Nützlichkeitslogik vollends zu entsagen. Deshalb könne der „Weisestete“ gelegentlich „zum Narren des Rhythmus [werden], sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt“. Inwiefern die Praxis fiktionaler Sinnrealität es ähnlich mit uns treiben könnte, indem die ‚Routinen des Vergessens‘, ihre Determinationstechniken zu einem solchen ‚göttlichen Hopsasa‘ beitrügen, wäre zu hinterfragen vor allem hinsichtlich der These, ob denn die Fiktionalität nicht auch gesellschaftlichen Verdinglichungsprozessen unterliegt. Verdinglichungsprozesse mit denen jene, in die materielle Wirklichkeit hineinragenden Mechanismen der Exemplifikation unterbunden und damit auf ihre Selbstbezüglichkeit zurückgesetzt werden.
Das führt zum Schluss zu Heinrich von Kleist. In einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 15. August 1801 schreibt er: „Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius‘, Voltaires stehen, denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinen Abgrund entgegeneilt? O hätten alle, die gute Werke geschrieben haben, die Hälfte von diesem Guten getan, es stünde besser um die Welt“. Auch wenn Literatur sich nicht einspannen lassen darf von einem Praxisbegriff, der auf unmittelbare Wirkung und Nützlichkeit zielt: Beide Denker machen zum Thema, dass sich literarisch konservierte Widerspruchserfahrung als ‚transzendentaler Ort‘ (s.o.) nur selten emanzipativ in den Korpus ihrer Rezipienten übersetzt. Das rührt von einer Ohnmacht, die den immer noch nicht beendeten „Flegeljahre[n] der Völker“ (Carl Gustav Jochmann, „Die Sprachreiniger“) als eine Zeit, „in der ein überfülltes Gedächtniß mit einer erfahrungsleeren Urtheilskraft“ konvergiert, scheints nur Marginales entgegensetzen kann, ohne das große Ganze zum Besseren zu wenden. Bei Kleist tritt aber noch weiteres hinzu, sein Einwand wiegt darum schwerer als der Nietzsches. Implizit baut sich den Literaten eine Drohgebärde auf, eine besondere Form ‚nackter‘ Realität. Die darin sich historisch eingeschliffenen Manifestationen von Gewalt wissen ganz genau darum, über welches Schriftstück sich die Achseln zucken lässt oder was von einer ästhetisch induzierten Protesterfahrung zeugt, die die herrschende Ordnung subversiv irritieren könnte. Legt Literatur, über die das geschichtliche Urteil fällt, ihre Wahrheit nicht in diese Wunde, nährt sie ihre eigene Marginalisierung und macht sich schlimmstenfalls zur konsumfertigen Vergnügungsliteratur. Die ‚Routinen des Vergessens‘ brauchen sich hingegen dadurch nicht beunruhigen lassen. Ihr Verdienst ist es u.a., die „antiseptische gegenseitige Abdichtung zwischen Wissenschaft und Kunst“ (Alfons Söllner) aufgeweicht zu haben – das ist wahrlich nicht wenig und aller Ehren wert.
Fazit
Mit „Routinen des Vergessens“ erhält man einen intimen Einblick in die Schreibwerkstatt einer Autorin, die, mutig und geistig anregend, eine vielschichtige Gedankensammlung zum literarischen Schreiben vorlegt. Dass Edelbauer hier stets als Grenzgängerin unterwegs ist und disziplinübergreifende Anleihen macht, ist ihren Poetikvorlesungen ebenso hoch anzurechnen, wie die stilistische Leichtigkeit, mit der sie komplexe Sachverhalte auf gut lesbare Argumentationsstränge zu komprimieren versteht.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 10.01.2025 zu:
Raphaela Edelbauer: Routinen des Vergessens. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-7681-9808-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32822.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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