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Theres Germann-Tillmann, Bernadette Roos Steiger et al. (Hrsg.): Naturgestützte Interventionen

Rezensiert von Prof. i. R. Dr. Werner Michl, 21.02.2025

Cover Theres Germann-Tillmann, Bernadette Roos Steiger et al. (Hrsg.): Naturgestützte Interventionen ISBN 978-3-608-40179-0

Theres Germann-Tillmann, Bernadette Roos Steiger, Renée Vroomen-Marell (Hrsg.): Naturgestützte Interventionen. Grüne Therapien, naturnahe Aktivitäten, nachhaltige Prävention. Schattauer (Stuttgart) 2024. 384 Seiten. ISBN 978-3-608-40179-0. D: 36,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Entstehungshintergrund

Die klassische Psychotherapie findet im Raum statt, in der Psychoanalyse (Sigmund Freud) liegend, sitzend in der Individualpsychologie (Alfred Adler), der analytischen Psychologie (Carl Gustav Jung) und der Verhaltenstherapie. Viktor Frankl (1975), der Begründer der Logotherapie, war bis ins hohe Alter ein begeisterter Kletterer und hat den Begriff der Höhenpsychologie geprägt. Die Bedeutung von Bewegung, Natur und Sport hat er erkannt, aber nicht konsequent in seiner psychotherapeutischen Praxis verfolgt. Schon bald wurde die Umgebung geändert. Der Schweizer Lehrer und Kinder- und Jugendpsychotherapeut Hans Zulliger ((1961) berichtet von therapeutischen Spaziergängen. Der Verhaltenstherapeut Helmut Schulze (1971) hat das „Prinzip Handeln in der Psychotherapie“ begründet und war mit Patienten auf Bergtouren, auf Berghütten und sogar mit dem Segelflugzeug unterwegs.

Herausgeberinnen

Theres Germann-Tillmann, u.a. Fachfrau für Tiergestützte Therapie, Bernadette Roos Steiger, Fachärztin für Psychiatrie, und die Expertin für Tiergestützte Therapie, Renée Vroomen-Marell haben jetzt ein umfangreiches Buch zu „Naturgestützte Interventionen“ herausgegeben. Im Geleitwort von Pierre Ibisch, Professor für Sozialökologie der Waldökosysteme – was das sein soll, verstehen nur ausgewiesene Experten – an der Hochschule Eberswalde, wird vieles bestätigt, was Erlebnispädagoginnen und Naturpädagogen bewegt: „die Naturvergessenheit“ der modernen Gesellschaft, Naturschutz und Nachhaltigkeit, die heilende Wirkung von Natur und grüne Städte. „Die Natur tut uns gut“ (S. 6) – aber nur solange, wie sie uns nichts tut, wie es Jean Jacques Rousseau einmal formulierte.

Aufbau und Inhalt

Das Buch, das eine „Taxonomie naturgestützter Therapien, Pädagogik, Aktivitäten und Coaching“ (S. 15) skizzieren will, gliedert sich in 11 Kapitel. Nach jedem Kapitel werden, wie aus einem guten Lehrbuch für Didaktik, die „Kernaussagen“ zusammengefasst.

Im ersten Kapitel sollen die „Herausforderungen im 21. Jahrhundert“ dargestellt werden. Dazu gehören die weltweiten Kriege, Autokraten wie Trump und Diktatoren wie Putin, Energieversorgung und Müllprobleme u.v.a.m. Da das offensichtlich nicht gemeint ist, müsste der Titel präzisiert werden.

Zudem besteht das Kapitel nur aus zwei Unterthemen: Einleitung und Entfremdung. Im nächsten Abschnitt geht es um Definitionen und Begriffe.

Im dritten Kapitel werden die „Indikationen für naturgestützte Interventionen“ (z.B.: Zielgruppen, Fachbereiche, Medizinische Indikationen) beschrieben. Dann geht es um die Ziele naturgestützter Unternehmen, wie Gesundheit, Lebensqualität, Nachhaltigkeit und Prävention und um die Gesundheit des Planeten (Planetary Health) und des menschlichen Individuums (One Health).

Die Kapitel 5 und 6 widmen sich der Ethik und dem wissenschaftlichen Hintergrund von naturgestützten Interventionen.

Das umfangreiche siebte Kapitel zeigt die Vielfalt der Aktivitäten, Therapien, Coachings und pädagogische Konzepte mit Tieren, Pflanzen, Landschaft und Landwirtschaft, Wald und Natur auf. Dann folgt ein Abschnitt über Green Care, also über die Wirkungen der Natur, um Menschen zu fördern und zu heilen.

Im 9. Kapitel, umfangreich und zentral, sollen Fallbeispiele mit verschiedenen Zielgruppen (Jugendliche, Erwachsene, Senioren) und Medien (Hunde, Pferde, Gärten, Wald, Wiese, Landwirtschaft) die Wirkungen von Green Care anschaulich machen. Kapitel 10 bietet einen Ausblick und mit Kapitel 11 „Anhang“ endet eine lange und ergiebige Lesereise.

Diskussion

Diese Veröffentlichung eignet sich sicherlich auch dafür, nicht ein, sondern in einem Buch zu lesen, also einige Kapitel zu überlesen und manche genauer zu studieren. Also greifen wir einige Beispiele heraus. Im ersten Kapitel wird zurecht die Entfremdung von der Natur beklagt, die in einer sehr anschaulichen Abbildung (S. 29) visualisiert wird. Ohne Zweifel gibt es in schriftlosen Kulturen mehr Naturnähe, aber die Massai (S. 29) eignen dafür nicht als Beispiel. Sie sind Hirtennomaden und gelten in der Ethnologie als eher kriegerisches Volk. Auch die indigenen Völker Nordamerikas (S. 35), die sicherlich viele Verbrechen, man auch sagen den Völkermord, durch weiße Siedler und Soldaten erleiden mussten, haben, als traditionelle Kriegswaffen durch Gewehre ersetzt wurden, die riesigen Büffelherden überdeutlich dezimiert.

Bernadette Roos Staiger erklärt, dass der Buchtitel „Naturgestützte Interventionen“ der treffende Sammelbegriff für eine Vielzahl von pädagogischen und therapeutischen Angeboten ist. Diese Vielfalt wird in zwei Taxonomien abgebildet (S. 50), die, geordnet nach Professionen und nach Naturbereichen, einen vorzüglichen Überblick bieten. Leider fehlen hier und vor allem im späteren Text die Erlebnistherapie (z.B. erlebnistherapie, 2025; Lukowski, 2017; Mehl, 2017) und die Visionssuche (Koch-Weser & Lüpke, 2009). D

ie von der gleichen Autorin im nächsten Kapitel genannten pädagogischen Fachbereiche „Agogik/Pädagogik/​Sozialpädagogik/​Arbeitsagogik“ (S. 54) gelten für die Schweiz, im deutschsprachigen Raum sind sie eher unbekannt. Sie werden aber im laufenden Text schlüssig erläutert. Wichtig zum Verständnis der vielen Fachbegriffe ist auch das 4. Kapitel, in dem wichtige Stichworte erklärt werden wie z.B. Gesundheit, Resilienz, Spiritualität, alternative, komplementäre und evidenzbasierte Medizin, Wohlbefinden, Nachhaltigkeit, Planetary und One Health und die Rolle der Gesundheitsberufe.

 Die Forschung zu naturgestützten Interventionen, das zeigt Maren Krebs-Fuhrmann im 7. Kapitel auf, hat vor allem bei Abenteuer-, Natur- und Waldtheorien zugenommen. Empirische Untersuchungen konzentrieren sich vor allem auf städtische und stadtnahe Gärten und Wald- und Wiesengebieten. Je weiter der Weg zur Wildnis ist, desto mehr lassen die Forschungsaktivitäten nach. Es wird zudem unterschieden zwischen green spaces (Wälder, Wiesen) und blue spaces (Flusslandschaften, Seen, Meeresufer). Erfolge können nachweisbar erzielt werden im Wohlbefinden, der Lebensqualität, der mentalen Gesundheit und bei Depressionen, Burn-out und Stresserkrankungen (S. 109). Die Vielfalt der naturgestützten Interventionen wird in Kapitel 7 in Erziehung, Coaching und Therapie beschrieben. Unterscheiden kann man in tiergestützte Interventionen, vor allem durch Hunde und Pferde, und pflanzengestützte Interventionen in Gärten, beim City Farming, in Wäldern, in der Landwirtschaft und in der Natur. Dazu kommen „Assoziierte Angebote und Konzepte“ wie Heilpflanzen, die Kneipp-Medizin als Hydrotherapie und Naturheilkunde, Kunsttherapie, Land Art und das Nature Journaling, also ein kreatives Tagebuch mit Text und Zeichnungen gestalten. Diese letzgenannten Therapien muss man, wenigstens teilweise, mit einem großen Fragezeichen versehen.

Das eher kurze 8. Kapitel hätte man vielleicht als Unterpunkt im ersten Abschnitt des Buches unterbringen können. Das 9. Kapitel berichtet von der Praxis der naturgestützten Therapien und rundet damit das Thema ab. Die Fallbeispiele zeigen die vielfältigen pädagogischen und therapeutischen Möglichkeiten auf. Sie ermöglichen Einblicke in die Behandlung von ADHS-Erkrankungen, in die Gartenarbeit mit Jugendlichen mit besonderem Betreuungsbedarf und in die Waldpädagogik mit Schülerinnen und Schülern. Bewegend ist auch der Beitrag von Monika Mertens (S. 339–343), einer hochsensiblen Spoken-Word-Künstlerin und Autorin, die aufzeigt, wie sehr ihr das Wandern in den Bergen, die einsame Natur, Fauna und Flora dabei geholfen haben, „in die Balance zu kommen“ (S. 341). Das ist nur eine kleine Auswahl, die aber zeigt, dass die in diesem Abschnitt geschilderten Erlebnisse und Erkenntnisse die Leseerkenntnis und den Lesegenuss garantieren.

Fazit

„Naturgestützte Intervention“ ist ein wichtiges Buch, das einen Großteil der aktuellen grünen Erziehung und Therapien ausführlich beschreibt. Auf einige Lücken wurde hingewiesen. Sie können in einer zweiten Auflage Platz finden. Und wem ein fast 400 Seiten dickes Fachbuch zu lang ist, kann sich trösten: Man muss nicht alles lesen und man kann immer wieder nachlesen. Wer den Überblick braucht, vertieft sich in das 7. Kapitel, wer Einblicke in die Praxis sucht, liest mit Genuss die Fallbeispiele (9. Kapitel).

Quellenangaben

Erlebnistherapie (2025). https://www.bundesverband-erlebnispaedagogik.de/fachbereiche/​erlebnistherapie.html, abgerufen am 02.02.2025.

Frankl, V. (1975). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. München: Kindler.

Koch-Weser, S. & Lüpke, G. von (2009). Vision Quest, Visionssuche. Allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst. Klein Jasedow: Drachen.

Lukowski, T. (2017). Klettern in der Therapie. München: Ernst Reinhardt.

Mehl, K. (Hrsg.) (2017). Erfahrungsorientierte Therapie. Berlin: Springer.

Schulze, H. (1971). Das Prinzip Handeln in der Psychotherapie. Stuttgart: Enke.

Zulliger, H. (1961). Horde – Band – Gemeinschaft. Stuttgart: Klett.

Rezension von
Prof. i. R. Dr. Werner Michl
TH Nürnberg Georg Simon Ohm und Universität Luxemburg
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Es gibt 39 Rezensionen von Werner Michl.

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ISSN 2190-9245