Kirsten Böök, Ulrich Sachsse: Trauma und Justiz
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 16.12.2024
Kirsten Böök, Ulrich Sachsse: Trauma und Justiz. Juristische Grundlagen für Psychotherapeuten - psychotherapeutische Grundlagen für Juristen. Schattauer (Stuttgart) 2024. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. 270 Seiten. ISBN 978-3-608-40182-0.
Thema
Dieses vollständig überarbeitete Referenzwerk stattet Psychotherapeut:innen mit juristischem Grundwissen aus, sodass sie ihren Patient:innen fundierte Empfehlungen geben können, ob eine Anzeige sinnvoll ist oder eher retraumatisierend wirkt. Weiterhin geht es um Aspekte wie Gutachten, Zeugenaussagen von Therapeut:innen, Akteneinsicht und Kooperation. Für den Fall einer Anzeige vermitteln Kirsten Böök und Ulrich Sachsse wichtige Hilfestellungen für die weitere psychotherapeutische Behandlung während des Strafverfahrens und danach. Die Neuauflage ergänzt das Werk um aktuelle Gesetzesänderungen (psychosoziale Prozessbegleitung, Opferentschädigung) und nimmt Stellung zur viel diskutierten Problematik der vermeintlichen Konkurrenz zwischen Traumatherapie und Gerichtsverfahren, Suggestion und Glaubhaftigkeit. Ein notwendiges Buch sowohl für Psychotherapeut:innen als auch für Jurist:innen – und ein gesellschaftspolitischer Diskussionsbeitrag.
Autor:in
Kirsten Böök, geb. Stang, Juristin, ist Leitende Ministerialrätin im Niedersächsischen Justizministerium, Leiterin der Referatsgruppe für Prävention und Opferschutz. Ulrich Sachsse, Prof. Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Psychotraumatologie (DeGPT) am Asklepios Fachklinikum Göttingen.
Aufbau und Inhalt
14 Kapitel mit jeweils eigenem Literaturverzeichnis bilden den Rahmen dieses Buches.
Grundlagen
Jurist:innen haben bisweilen einen Sprachgebrauch, der sich Außenstehenden nicht erschließt. Hier leistet dieses Kapitel Abhilfe. Mit der Anzeige wird das Ermittlungsverfahren eröffnet. Im Ermittlungsverfahren wird ein Verdächtiger als Beschuldigter bezeichnet. Hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren abgeschlossen, dann stellt sie das Verfahren ein oder erhebt Anklage bei dem zuständigen Gericht. Die Staatsanwaltschaft gibt die Ermittlungsakte dem zuständigen Gericht und das Gericht prüft im Zwischenverfahren, ob es die Anklage vor Gericht zulässt. Im Zwischenverfahren ist aus dem Beschuldigten ein Angeschuldigter geworden. Zu unterscheiden ist zwischen Offizialdelikten, die von Amts wegen verfolgt werden müssen, und sogenannten Antragsdelikte. Ihre Verfolgung geschieht nur mit einem ausdrücklichen Antrag des Geschädigten.
Die Stationen des Strafverfahrens
In diesem Kapitel werden die zuvor eingeführten Begriffe in der richtigen Reihenfolge näher erläutert – also vom Ermittlungs-, über das Zwischen- und Hauptsacheverfahren bis zum Strafvollzug.
Juristische Subsumtionen
Mit diesem Kapitel tauchen die Leser:innen tief in die juristische Welt ein. Da nicht jede individuelle Konstellation vom Gesetzgeber erfasst werden kann, bedienen sich Jurist:innen gerne der Subsumtion, der „Überprüfung, ob ein Lebenssachverhalt unter eine bestimmte Vorschrift passt“ (S. 36). Anhand eines Fallbeispiels wird daher zunächst die Frage geklärt, was rein strafrechtlich ein sexueller Übergriff ist, sowie die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. In der Folge kommen dann mehrere Tatbestände aus dem Sexualstrafrecht sowie Auseinandersetzungen mit Schuld sowie Rechtswidrigkeit und Irrtum in den Fokus.
Verjährung
Der Begriff der Verjährung spielt häufig eine Rolle, wenn es um lang zurückliegende innerfamiliäre Delikte geht. Dahinter steckt die immer weiter hart diskutierte Idee des Gesetzgebers, dass das Interesse der Gesellschaft an Strafverfolgung eines bestimmten Falles irgendwann geringer ist als das Interesse am sogenannten Rechtsfrieden. Gerade bei spät aufgedeckten Sexualdelikten an Kindern hat der Gesetzgeber reagiert. Bei Sexualdelikten beginnt die Verjährung erst mit dem 30. Geburtstag des Opfers, um so verspäteten Anzeigen zum Beispiel aufgrund von Traumatisierungen Rechnung zu tragen.
Das Ermittlungsverfahren
Bereits zuvor wurde auf die Grundlagen des Ermittlungsverfahrens eingegangen, was in diesem Kapitel vertieft wird. Wie finden Vernehmungen und Spurensicherungen statt, wann werden Haftbefehle erwirkt beziehungsweise Untersuchungshaft angeordnet. Am Ende eines jeden Ermittlungsverfahrens wird dann die Frage zu beantworten sein, ob das Verfahren – aus verschiedenen Gründen – eingestellt werden kann oder ob Anklage erhoben wird.
Gutachten
Für die in der Regel fachfremden Richter:innen sind Gutachten von großer Bedeutung, um Sachverstand in Urteile einfließen zu lassen. Die Entscheidungshoheit bleibt aber immer beim Gericht, die Gutachter:innen sind nur beratend tätig. Von besonderer Bedeutung für den Zusammenhang zwischen Trauma und Justiz sind das Glaubhaftigkeits- und das Schuldfähigkeitsgutachten. Gerade der Begriff der Glaubfähigkeit ist nicht unumstritten, klingt er doch eher beurteilend. Daher wird synonym auch der Begriff des aussagepsychologischen Gutachtens verwendet. Ziel ist es hierbei, bei Zeug:innen, die zum Beispiel ihres kindlichen Alters oder einer psychischen Erkrankung theoretisch Dinge aussagen könnten, die nicht den Tatsachen entsprechen, insofern also nicht dazu geeignet wären, bei der Urteilsfindung verwendet zu werden. Gutachten zur Schuldfähigkeit setzen bei den Täter:innen an. Durch diese Gutachten soll geklärt werden, inwieweit diese im Sinne des Strafgesetzbuches schuldunfähig wegen einer seelischen Störung oder vermindert schuldfähig sind.
Die Gerichtsverhandlung
In diesem Kapitel werden die Formalia des Strafverfahrens vorgestellt. Dazu werden zunächst die unterschiedlichen Gerichte vorgestellt und erklärt, wann welches Gericht in Strafverfahren tätig wird. In der Folge geht es um den Ablauf, zum Beispiel um die Frage, wann die Öffentlichkeit bei einer Verhandlung ausgeschlossen wird. Die Öffentlichkeit ist prinzipiell in einem Rechtsstaat von großer Bedeutung, wird hier doch ‚im Namen des Volkes‘ – also der Öffentlichkeit – Recht gesprochen. Trotzdem besteht die Möglichkeit, auch ohne die Öffentlichkeit zu verhandeln, wenn es um Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich von Beteiligten geht. Gemeint ist damit das Intimleben. In der folge wird der Verfahrensablauf bis zum Urteil, der Strafzumessung und bei Verurteilung dem Strafvollzug und der Sicherungsverwahrung erläutert. Auch mögliche Rechtsmittel werden vorgestellt.
Die Rechte des Beschuldigten und seines Verteidigers
Jede*r Beschuldigte hat Rechte, die berücksichtigt werden müssen. Das sind allgemeine Freiheitsrechte, Informationsrechte, Mitwirkungs- und Anwesenheitsrecht sowie das Recht auf einen Verteidiger.
Die Rechte und Pflichten des Opfers
Opfer sind häufig die einzigen Zeug:innen einer Straftat, woraus sich bestimmte Pflichten ableiten. Die bedeutendste Pflicht ist die zur Wahrheit, denn der Rechtsstaat muss darauf vertrauen können, dass Aussagen, die die Grundlage einer eventuellen Verurteilung sein solle, der Wahrheit entsprechen. Wo Pflichten sind, gibt es allerdings auch Rechte. So haben Opfer Auskunftsrechte, Nicht-Mitwirkungsrechte, Schutzrechte oder auch das Recht auf Kompensation zum Beispiel durch Schadensersatz, Schmerzensgeld oder das sogenannte Adhäsionsverfahren. Darunter ist zu verstehen, dass im Strafprozess auf Antrag nicht nur über Schuld oder Unschuld, sondern auch über Schadensersatz oder Schmerzensgeld entschieden wird. Das ist an sich nämlich dem Zivilklageweg zugeordnet.
Die Therapeutin als Zeugin
Die deutliche Aussage dieses Kapitels: „Vorrang hat immer die Gesundheit der Patientin!“ (S. 187). In diesem Zusammenhang wird oft diskutiert, ob eine Therapie vor einem eventuellen Gerichtsverfahren nicht die Qualität der Opferaussagen beeinträchtigt. Für den Gesetzgeber – und auch den Bundesgerichtshof – ist das überhaupt kein Thema: Therapie ist immer möglich und erlaubt, ihre Vorenthaltung kann sogar eine Körperverletzung im strafrechtlichen Sinne darstellen. Und dennoch muss ein Aspekt beachtet werden, dass der Weg zu einer Aussage eventuell aussagepsychologisch begutachtet werden muss. Was aber definitiv falsch ist, ist die Annahme, dass eine therapeutische Behandlung „noch lange nicht bedeutet, dass auf dessen Aussage vor Gericht keine Verurteilung mehr gestützt werden kann“ (S. 187 f.). Betrachtet werden muss immer der Einzelfall, generalisierte Aussagen dazu sind weder juristisch noch therapeutisch angezeigt.
Das Opferentschädigungsrecht (SGB XIV, vormals OEG)
Der Staat möchte – zumindest in der Rechtstheorie – den Opfern von Straftaten und zum Beispiel Terroranschlägen unabhängig von eventuellen Verurteilungen der Täter:innen eine Möglichkeit bieten, Schäden, die aus der Straftat entstanden sind, finanziell abzufangen. Das ist seit Anfang 2024 im Sozialgesetzbuch 14. Buch geregelt, vorher im Opferentschädigungsgesetz. In der Praxis sind leider hohe Verwaltungshürden vor entsprechenden staatliche Leistungen gesetzt. Kritik an der an sich gut gemeinten Idee gibt es viel. So wird der Prüfungsprozess als entwürdigend und potenziell re-traumatisierend betrachtet.
Das Gewaltschutzgesetz
Seit über 20 Jahren gibt es das Gewaltschutzgesetz, dass – und das ist kaum bekannt – nicht nur Schutz vor innerfamiliärer häuslicher Gewalt bietet, sondern auch vor Stalking oder der Wiederholung sexueller Belästigungen.
Traumazentrierte Psychotherapie versus juristische Verfahren
Ein Blick in die Forschung zeigt, dass die wissenschaftliche Beantwortung der Frage, ob und wie eine traumazentrierte Psychotherapie die Qualität einer Aussage verändert, hat gerade erst begonnen. Hinweise, dass die „einmalige Behandlung einer belastenden Situation mit [zum Beispiel] EMDR (…) Erinnerungen an die Situation verändert“ (S. 240) liegen bisher nicht vor. Bei länger zurückliegenden Ereignissen als Ursachen für Traumafolgestörungen dagegen lässt sich das bisher nicht so einfach sagen. Hier ist also ein intensiverer Blick nötig.
Anzeigen? - Anzeigen!
Es ist eine Frage, die sich Opfern (sexualisierter) Gewalt oft aufdrängt: Macht es Sinn, die Tat anzuzeigen? Eine einfache Antwort ist nicht möglich, aber das Kapitel benennt einige Aspekte, die berücksichtigt werden sollten bei einer Entscheidung wie zum Beispiel der zeitliche Abstand zur Tat. Und mittlerweile müssen Therapeut:innen diese Entscheidung nicht mehr alleine mit ihren Patient:innen treffen, sondern können auf gute Netzwerke wie die immer häufiger zu findenden Traumaambulanzen zurückgreifen.
Den Abschluss des Buches bildet ein Stichwortverzeichnis.
Diskussion
Justiz und Traumatherapie werden wegen ihrer grundlegend unterschiedlichen Ansätze und der vielfach unzulänglichen interdisziplinären Kommunikation als Gegensätze gesehen, die scheinbar unvereinbar nebeneinander oder sogar gegeneinanderstehen. Während sich auf gesetzgeberischer Ebene mit den europäischen Richtlinien und Konventionen zunehmend ein umfassender Opferschutz etabliert, sieht die Realität von Opfern oftmals anders aus. So ist immer wieder zu hören oder zu lesen, dass bei Befragungen durch Polizei und Justiz das Gefühl entstehe, es würde Opfern misstraut. Manche Frage wird als Vorwurf bewertet. Das Setting der Justiz wird als opferfeindlich bezeichnet. Die juristische und strafrechtliche Aufarbeitung wird häufig als empathielos und wenig an den Opfern orientiert erlebt, während die ihnen im Rahmen des therapeutischen Settings entgegengebracht wird und ohne die sie manchmal gar nicht in der Lage wären, eine Aussage im Strafverfahren durchzustehen. Aussagepsychologische Gutachten werden als Angriff auf die persönliche Integrität Betroffener, als Vorwurf und Unterstellung empfunden, die Opfer würden lügen. Die Justiz meint demgegenüber, sie tue, was sie könne, sie bemühe sich darum, opfersensibel zu agieren, und könne nicht die Menschenrechte von Angeschuldigten außer Kraft setzen, um hochsensiblen Opfern gerecht zu werden. Zudem steht sie oft fassungslos davor, dass auch Psycholog:innen und Ärzt:innen nicht mit einer Stimme sprechen. Die Frage, ob überhaupt eine therapeutische Intervention vor einem oder während eines Strafverfahrens stattfinden darf, und warum Therapeut:innen neuerdings verstärkt damit rechnen müssen, als Zeug:innen von den Strafgerichten befragt zu werden, führt zu einer weiteren Verunsicherung und Polarisierung zwischen Therapie und Justiz. Und genau dort setzt dieses Buch an – und erreicht mit der umfassenden Darstellung der verschiedenen Schnittpunkte zwischen Trauma und Justiz, einen Beitrag zum interdisziplinären Austausch zu leisten und gleichzeitig Missverständnisse und Unsicherheiten im besten Falle komplett zu beseitigen oder wenigstens abzumildern. Insofern ist der Titel eine absolute Leseempfehlung auch über den benannten Adressat:innenkreis hinaus, der sich im Spannungsfeld zwischen Trauma und Justiz bewegen.
Zwei (nur scheinbar) diametral entgegenstehende Themenbereiche werden inhaltlich anspruchsvoll dargestellt und miteinander verbunden, womit Kirsten Böök und Ulrich Sachsse etwas Wichtiges gelingt: Verständnis für unterschiedliche Professionen und Blickwinkel auf dasselbe Thema zu generieren. Und das kommt am Ende auch den Opfern von Gewalt jedweder Form zugute.
Fazit
„Therapie und Justiz müssen sich aus den alten Denkmustern lösen und mehr über die Arbeit des anderen lernen. Juristische Aspekte werden zwangsläufig Thema in der Therapie werden, und Juristen werden sich viel mehr als in der Vergangenheit mit Fragen von therapeutischen Methoden befassen müssen“ (S. 6) heißt es im Vorwort dieser Neuauflage, die die Basis für eben genau diese Entwicklung auf beiden Seiten sein könnte.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 16.12.2024 zu:
Kirsten Böök, Ulrich Sachsse: Trauma und Justiz. Juristische Grundlagen für Psychotherapeuten - psychotherapeutische Grundlagen für Juristen. Schattauer
(Stuttgart) 2024. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-608-40182-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32828.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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