Daniel Burghardt: Elend und Emanzipation
Rezensiert von Felix Kirchhof, 13.06.2025

Daniel Burghardt: Elend und Emanzipation. über die Politisierung des Leidens.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
145 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3300-0.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Gegenwartsfragen.
Thema
Elend und Leid scheinen in der Gegenwart eine größere Sichtbarkeit zu erlangen und breiter in das öffentliche Bewusstsein zu treten. Auch die Sozialfigur des Opfers erfuhr in den vergangenen Jahrzehnten einen Bedeutungswandel. Ebenso rücken die multiplen Krisen der Gegenwart, Elend, Leid und (kollektive) Verletzlichkeit ins Zentrum öffentlicher wie auch wissenschaftlicher Diskurse. Daniel Burghardt verortet sein Buch in diesen Debatten, beansprucht aber zugleich, einen weitreichenderen Zusammenhang zu umreißen. Die Analyse untersucht das Verhältnis von Elend und Emanzipation in der Moderne und setzt an der Schwelle zur bürgerlichen Gesellschaft und der Aufklärung an.
Autor:in oder Herausgeber:in
Prof. Dr. Daniel Burghardt ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Ungleichheit und Bildung an der Universität Innsbruck und leitet dort das Institut für Erziehungswissenschaft. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kritische Theorie, Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Psychoanalytische und Kritische Pädagogik sowie antisemitismus- und rassismuskritische Bildung.
Entstehungshintergrund
Anstoß für die Entstehung des Buches gaben Burghardt zufolge Entwicklungen und Ereignisse wie die Klimakatastrophe, die zunehmende globale Ungleichheit wie auch die COVID-19-Pandemie. Allerdings führte der antisemitische Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht nur zur Ergänzung des Bandes durch ein ausführliches Nachwort, in dem der Autor sich u.a. mit den Begriffen der Kontextualisierung, der abstrakten Gewalt und des konkreten Leids auseinandersetzt. Noch grundsätzlicher stellt Burghardt infrage, wie vor diesem Hintergrund noch über Emanzipation nachgedacht und Leid kontextualisiert werden kann.
Aufbau
Das Buch ist in fünf Kapitel untergliedert. Der gewählte Aufbau wird thematisch begründet: Die fünf Kapitel sollen ausgehend von einer „charakteristischen Situation“ einen „spezifischen Zugang zum Leid eröffnen“ (S. 11) und können dabei jeweils einem Epochenabschnitt von der Aufklärung bis zur Gegenwart zugeordnet werden.
Gliederung:
Einleitung: Die Permanenz des Leids
Kapitel 1: Elend und Erkenntnis. Oder über das Ende der besten aller Welten
Kapitel 2: Die Verelendung der Armen. Oder über das Ausbleiben der Revolution
Kapitel 3: Das Elend im Unbewussten. Oder über ein altes Unbehagen und einen neuen Autoritarismus
Kapitel 4: Das Elend der Herkunft. Oder über Repräsentation und (subalterne) Emanzipation
Kapitel 5: Das Elend der Anderen. Oder über Emanzipation und Naturbeherrschung
Nachwort: Der 7. Oktober 2023 und die Versuche der Kontextualisierung des Leids
Inhalt
Zur Einleitung:
In der Einleitung erläutert der Autor das Vorhaben des Buches, führt die grundlegenden Begriffe (Leid, Elend und Emanzipation) ein und reflektiert den gewählten essayistischen Zugang. Den Versuch eindeutiger Begriffsbestimmungen unternimmt Burghardt nicht. Leid als philosophischer Begriff umfasse ein großes Spektrum psychischer, körperlicher und sozialer Empfindungen, Einschränkungen oder Unterdrückungen, die sich als etwas Negatives charakterisieren lassen und auf ein „Widererfahrnis oder eine Erfahrung von Übel, Unglück und Elend“ (S. 10) verweisen. Präzise Definitionen sind Burghardt zufolge nur schwer möglich, da Leid immer an konkrete Subjekte gebunden sei. Als vermittelnder Zugang wird der Begriff des Elends verwendet, da dieser zu den konkreten Umständen und materiellen Entbehrungen führe, die in den größeren Kontext des Leids eingebettet werden. Schließlich wählt Burghardt den Emanzipationsbegriff, der auf den Zusammenhang zwischen Elend und Herrschaftsverhältnissen hinweisen und das Potenzial der Aufhebung von Leid und Elend anzeigen soll. Dabei charakterisiert der Autor das Anliegen des Buches als ein emanzipatorisches, soll der beschriebene Gegenstand – die unterschiedlichen Formen und Gestalten des Leidens – doch aufgehoben werden.
Zum Kapitel 1:
Das erste Kapitel nimmt das Erdbeben von Lissabon 1755 als Ausgangspunkt, um anhand der zeitgenössischen Debatten über das Ereignis den Zusammenhang von Elend und Erkenntnis zu beleuchten. Burghardt zeigt die immense Wirkung des Ereignisses und dessen Rezeption auf: So löste das Erdbeben einen „Katastrophendiskurs“ (S. 19) aus, der sich philosophisch, politisch, naturwissenschaftlich und ästhetisch auswirkte. Mit dem Abschied von der Theodizee-Vorstellung und der Erosion des Aufklärungsoptimismus geriet der Mensch im 18. Jahrhundert zunehmend zum alleinigen Verursacher seines Elends. Nur „eine vollkommen verzerrte Logik“ könne demnach noch den „optimistische[n] Zusammenhang zwischen Elend und Sinn“ (S. 26) herstellen. Das Erdbeben von Lissabon fungierte so als Katalysator der Aufklärung und der Emanzipation des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: Elend wurde zunehmend weltlich gedeutet und ein Bewusstsein der Verletzbarkeit entwickelte sich. Mit dem Ende der „besten aller möglichen Welten“ gehe Elend von nun an mit Forderungen nach dessen Aufhebung oder Linderung einher, was Burghardt als Zusammenhang von Elend und Emanzipation begreift und womit er das erste Kapitel beschließt.
Zu Kapitel 2:
In Kapitel 2 zeigt Burghardt zunächst exemplarisch anhand der Erfahrungen des jungen Friedrich Engels mit dem Elend bzw. der „Lage der arbeitenden Klasse in England“, wie sich der Diskurs über das Elend knapp 100 Jahre nach dem Erdbeben in Lissabon u.a. durch Verwissenschaftlichung und Säkularisierung nachhaltig verschoben hatte: Die soziale Frage trat auf den Plan. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden die verschiedenen Anschlüsse an Marx und Engels und marxistische wie soziologische Debatten über kapitalistische Integrationsmechanismen, den Wandel der Klassengesellschaft und dessen Implikationen dargestellt. Gegenüber einer „Verschiebung des Blickwinkels der Klassenanalyse hin zu kulturellen Praktiken der Lebensführung“ (S. 53 f.), die etwa Andreas Reckwitz in seiner „Gesellschaft der Singularitäten“ vornehme, insistiert Burghardt abschließend auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse, welche von den materiellen Lebensbedingungen und damit auch vom sozialen Elend und Leid ausgeht.
Zu Kapitel 3:
Im Zentrum des dritten Kapitels stehen Sigmund Freud, die Psychoanalyse, das (unbewusste) psychische Leid sowie die kulturellen bzw. gesellschaftlichen Ursprünge dieses Leids. Burghardt kann hier zeigen, wie Freud „dem Elend im Unbewussten des Subjekts eine eigene Sprache“ verlieh und so „die Psyche der Erkenntnis erst zugänglich“ machte (S. 58). Durch das Vorhaben der Psychoanalyse, unbewusste, psychische Vorgänge zu erhellen und vermittelt dadurch Leid zu lindern – durch die „Aufdeckung der Innenseite äußeren Leidens“ (S. 62) –, bestehe auch hier der Konnex von Aufklärung und Emanzipation. Mit Blick auf Freuds kulturtheoretische Spätschrift „Das Unbehagen in der Kultur“, in der Freud in der Entwicklung der Kultur ein „grundlegendes Leidpotenzial“ vermutet, begreift Burghardt die Psychoanalyse als „Theorie des Leids avant la lettre“ (S. 59). Das weitere Kapitel behandelt anschließend die Theorie des autoritären Charakters, wie sie maßgeblich von der frühen Kritischen Theorie entwickelt wurde. Dabei greift Burghardt ebenso die Frage nach dem Veralten des autoritären Charakters auf, erläutert (empirische) Anschlüsse, Revisionen und Aktualisierungen und attestiert eine „traurige Aktualität des autoritären Charakters“ (S. 78), die sich insbesondere in Krisenzeiten offenbare. Dies erfordere eine Hinwendung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Widersprüchen. Das Kapitel unterstreicht so auch das gesellschaftskritische Potenzial der Psychoanalyse.
Zu Kapitel 4:
In diesem Kapitel diskutiert Burghardt die Fragen der sozialen Herkunft und der Repräsentation des Leids und setzt sie in Beziehung zu den Bedingungen der Möglichkeit von Emanzipationsprozessen. Hier steht das Werk Pierre Bourdieus und seine Analyse symbolischer Herrschaftsformen, die einen Schlüssel zum Verständnis der Reproduktion wie auch Verschleierung der sozialen Herrschaftsverhältnisse darstellen, im Mittelpunkt. Sein Konzept des Habitus eröffnet einen weiteren Zugang zum individuellen Leiden. Burghardt argumentiert, dass „der Fokus auf die Demütigungen und Erniedrigungen der je einzelnen Schicksale den Blick für gesellschaftliche Ungleichheitsformen“ (S. 84) eröffnet und damit ebenso die Politisierung der mit der sozialen Herkunft verbundenen Leiderfahrungen ermöglicht. Dabei war es Bourdieus Weggefährte Didier Eribon, der – wie Burghardt zeigt – „einen autobiografischen Zugang zum proletarischen Leid“ entwickelte und die „Autobiografie zum Erkenntnisinstrument“ (S. 92) erhob. Neben der Frage nach der Repräsentation des Elends reflektiert der Autor den weiten Begriff des Elends bei Eribon und Bourdieu mit Blick auf die Gefahr eines Relativismus wie auch Hierarchien zwischen relativer und absoluter Verelendung. Zum Abschluss des Kapitels nimmt Burghardt eine ambivalente Einordnung der aktuellen Klassismus-Debatten vor: Zwar werde dem alltäglichen Leid so eine größere Aufmerksamkeit zuteil, doch Klassismus gelte primär „als Diskriminierungsform und nicht mehr als strukturelles Ausbeutungsverhältnis“ (S. 103).
Zu Kapitel 5:
Im letzten Kapitel richtet Burghardt erneut den Blick auf den leidvollen Zivilisationsprozess und untersucht dabei das Verhältnis von innerer wie äußerer Naturbeherrschung und Emanzipation. Hier folgt der Autor zunächst Horkheimers und Adornos Diagnose einer „Dialektik der Aufklärung“ in der abendländischen Zivilisationsgeschichte. Während Horkheimer und Adorno zu zeigen beanspruchen, wie die Naturbeherrschung durch den Triumph der Zivilisation und gesellschaftlichen Fortschritt dialektisch in eine neue Abhängigkeit bzw. Naturverfallenheit umschlägt, sieht Burghardt in Stephan Lessenichs Beschreibung der „Externalisierungsgesellschaft“ eine produktive Thematisierung des „räumliche[n] Auseinandertreten[s] der Dialektik von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit“ (S. 116). Die Externalisierung als „umfassende[r] Struktur- und Praxisanalyse“ (S. 117), welche die grundlegend destruktive Dynamik der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise in ihrer Asymmetrie beschreibt, eröffnet so einen Zugang zum „Elend der Anderen“. Dabei endet Burghardt mit einem Rekurs auf Paul Lafargue und dessen Kritik der Arbeit, der er sich ausdrücklich anschließt: „Auch wenn Lafargue keine Revolution gegen die Arbeit im Sinn hatte (…), trifft seine Kritik der Arbeit den sozialen und ökologischen Kern des Elends, dessen Ende nur in einer Emanzipation vom Zwang zur Arbeit bestehen kann“ (S. 122 f.).
Zum Nachwort:
Das Nachwort widmet sich abschließend dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und damit einem Thema, das – so Burghardt – quer zur eigentlichen Absicht seines Vorhabens steht. Denn die Taten und die Reaktionen verwiesen auf die „Grenzen der Aufklärung und der Emanzipation“ (S. 127). Da der Begriff des Antisemitismus zentral für das Verständnis der Gegenwart wie auch des Leids in der Moderne sei, versucht das Nachwort dieses Desiderat des Buches zu adressieren, wenngleich auch der Autor konzediert, dass die Perspektive einer eigenen Analyse bedürfe und dem Buch äußerlich bleibe. Dabei unterzieht Burghardt verschiedene Einlassungen zu den Taten des 7. Oktobers einer immanenten Kritik. Im Zentrum steht hier die Vermittlung von Abstraktem und Konkretem: Daran scheitere etwa Judith Butler, denn bei ihr ginge „das Konkrete verloren“ (S. 134), sie löse das Massaker in ein „koloniales Kontinuum“ (ebd.) auf, klammere den globalen Antisemitismus aus und teile die Welt durch ein „postkoloniales Ticket (…) in abstraktes und ein konkretes Leiden auf“ (S. 138). Eine „Subsumtionslogik des Leidvergleichs“ – etwa entlang der Trennung in einen globalen Norden und Süden – weist Burghardt abschließend scharf zurück: Ein solches Ticketdenken sei „erfahrungsunabhängig, geschichtslos und differenzfeindlich“, es verfehle folglich den Gegenstand und werde „weder dem Leid im Allgemeinen noch dem Leiden im Besonderen, weder dem Leid der Einen noch dem Leid der Anderen gerecht“ (ebd.).
Diskussion
Burghardts anregendem Essay gelingt es entlang der Kapitel in die Geschichte der Politisierung des Leidens in der Moderne einzuführen und die Bedeutung des Leidens als Erkenntniskategorie herauszuarbeiten. Das Leid als Kategorie und vornehmliche Angelegenheit der Psyche und des Leibes ebenso ein gesellschaftskritisches Potenzial zukommt, zeigt Burghardt durch dessen Vermittlung mit dem konkreten psychischen und materiellen Elend, das wiederum auf Herrschaftsverhältnisse verweist. Der Essay überzeugt insbesondere durch die Konstellation der Zugänge, doch hätten – auch vor dem Hintergrund des emanzipatorischen Anliegens – die psychischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Auseinandersetzung mit Leiderfahrungen ein kritisches Potenzial entfalten können, mehr Berücksichtigung verdient. Hier seien exemplarisch zwei Thesen zu Verschiebungen des Verhältnisses von Elend und Emanzipation in der Spätmoderne genannt: Erstens, gilt es, jenseits kulturpessimistischer Einlassungen über eine verweichlichte „Gesellschaft der Opfer“ (Pascal Bruckner), die Schattenseiten des Bedeutungswandels der Sozialfigur des Opfers in den Blick zu nehmen. Hierzu zählen etwa die (instrumentalisierbare) moralische Aufladung der Opferposition, die Opferkonkurrenz sowie die konstitutive Bedeutung fremder Schuld für (kollektive) Identitäten. Zweitens, scheint auch der schillernde Begriff der Emanzipation zunehmend antiquiert. Ob bedingt durch Diskriminierung oder soziale Ungleichheit, als Antwort auf Elend und Leid steht zunehmend das Empowerment der Betroffenen im Zentrum. Auch diese Verschiebung scheint als Paradigmenwechsel weitreichende Folgen für das Projekt der gesellschaftlichen Emanzipation zu haben. Damit sind zwei Ansatzpunkte für eine weitergehende Analyse des Verhältnisses von Elend und Emanzipation in der Spätmoderne genannt.
Fazit
Wer sich jenseits kulturpessimistischer Verfallsgeschichten und liberaler Fortschrittserzählungen für die Politisierung des Leidens in Moderne interessiert, dem sei Burgharts lesenswerter Essay sehr empfohlen. Entlang von sorgsam ausgewählten Zugängen und in produktiver Distanz zu tagesaktuellen Kontroversen schärft die Lektüre den Blick für die Potenziale der Erkenntniskategorie des Leidens wie auch für die Schattenseiten der Politisierung. Damit leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftstheorie, die auf die Aufhebung von Leid und Elend zielt – und zugleich die Grenzen von Aufklärung und Emanzipation reflektiert.
Rezension von
Felix Kirchhof
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