Kai Rugenstein: Übertragung
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 20.02.2025

Kai Rugenstein: Übertragung.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
152 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3227-0.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Analyse der Psyche und Psychotherapie - Band 26.
Thema
Das Buch behandelt in monographischer Form eines der theoretisch markantesten und praktisch bedeutsamsten Konzepte der Psychoanalyse und sonstiger Formen psychodynamischer Psychotherapie. Betrachtet wird mit (Gegen-)Übertragung „[e]ines der ganz zentralen Konzepte der Psychoanalyse – ja, vielleicht neben dem Unbewussten das einzige psychoanalytische Konzept, über dessen Wichtigkeit sich die psychoanalytische Gemeinschaft gegenwärtig noch einig zu sein scheint“ (S. 9).
Mit den Begriffen Übertragung und Gegenübertragung sind bestimmte Aspekte der therapeutischen Beziehung markiert. Deren hohe Bedeutung für Therapieerfolg gilt heute als unbestritten (Norcross und Wampold 2018), und bei näherer Betrachtung der therapeutischen Beziehung über einzelne therapeutische (Grund-)Ansätze hinweg zeigen sich gerade bei (der Gestaltung) der therapeutischen Beziehung einige für den Erfolg von Psychotherapie bedeutsame Gemeinsamkeiten (Common Factors; Wampold 2015).
Entstehungsgeschichte
Das Buch wurde konzipiert für die im Psychosozial Verlag seit über einem Jahrzehnt erscheinende Reihe „Analyse der Psyche und der Psychoanalyse“, in der grundlegende Konzepte und Begrifflichkeiten der Psychotherapie seit ihren Wiener Anfängen (Affekt, Bindung, Triangulierung etwa) aufgegriffen und deren Bedeutung für und Verwendung in der Psychotherapie thematisiert werden, indem die historische Entwicklung nachgezeichnet und der Stand der Diskussion präsentiert wird.
Autor
Kai Rugenstein ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut (Psychoanalytiker mit Mitgliedschaft in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie). Er arbeitet als Psychotherapeut zusammen mit einer Kollegin in einer Berliner Privatpraxis sowie als Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut an der Psychologischen Hochschule Berlin und als Lehrbeauftragter an der International Psychoanalytic University Berlin. Er veröffentlicht zu Theorie und Methode der Psychoanalyse, psychodynamischer Ausbildungs- und Konzeptforschung und Psychoanalyse im Feld geistes- und kulturwissenschaftlicher Diskurse. Zur Technik-Frage in der Psychoanalyse hatte er 2019 in der Reihe „Psychodynamik kompakt“ des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht das Buch „Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit“ publiziert.
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält zwischen Einleitung und Verzeichnis der Literatur sieben – nicht als solche bezeichnete – Kapitel, die der Autor im Vorwort zu drei thematischen Blöcken (Buchteilen) zusammenfasst.
Zum ersten Buchteil werden die ersten drei Kapitel gerechnet, in denen die Entdeckungs- und Konzeptualisierungsgeschichte von Übertragung und Gegenübertragung bei Sigmund Freud nachgezeichnet werden, wobei insbesondere die Spannungs- und Konfliktlinien innerhalb des Freudschen Übertragungsbegriffs rekonstruiert werden, entlang derer sich die nachfolgende psychoanalytische Konzeptbildung vollzog. Zu diesem ersten Teil gehören die Kapitel:
- Kontexte von Freuds Begriffsbildung
- Entwicklung des Übertragungsbegriffs im Denken Freuds
- Konfliktlinien innerhalb des Freud’schen Übertragungskonzepts
In einem zweiten, ebenfalls drei Kapitel umfassenden Teil wird auf die nach Sigmund Freud folgenden Entwicklungen eingegangen, wobei keine allumfassende Darstellung angestrebt wird, sondern der Autor nach seinen Vorlieben Prioritäten setzt. Es sind drei Entwicklungslinien, die verfolgt werden: die vom objektbeziehungs-theoretischen Denken ausgehenden Umwälzungen im Verständnis der Gegenübertragung, die von den Ich-psychologischen Ansätzen angestoßenen Frage nach dem Verhältnis von Übertragung und therapeutischer Allianz sowie – einem besonderen Interesse des Autors Rechnung tragend – die Übertragungs-Konzeption in der intersubjektiven Triebtheorie von Jean Laplanche. Die Ausführungen finden sich in den Kapiteln:
- Gegenübertragung heute: Von der Sackgasse zum Königsweg?
- Therapeutische Allianz und Übertragung
- Die intersubjektive Dynamik der Übertragung: Sich abarbeiten am Anderen
Der abschließende dritte Teil enthält nur das Kapitel
- Mit Übertragung und Gegenübertragung arbeiten: Anregungen für die Praxis
Hier werden, ausgehend von den in den beiden ersten Teilen vorgetragenen Überlegungen, Fragen der therapeutischen Praxis behandelt: Wie können Übertragungen erkannt, gefördert oder begrenzt werden? Wie (dann) gedeutet, bearbeitet und endlich (auf-)gelöst werden?
Diskussion
Die Reihe „Analyse der Psyche und der Psychoanalyse“ des Psychosozial Verlags wurde, wie eingangs erwähnt, eingerichtet, um grundlegende Konzepte und Begrifflichkeiten der Psychotherapie (Affekt, Bindung, Triangulierung etwa) seit ihren Wiener Anfängen aufzugreifen sowie deren Bedeutung für und Verwendung in der Psychotherapie zu thematisieren, indem die historische Entwicklung nachgezeichnet und der Stand der Diskussion präsentiert wird. Das Urteil darüber, ob Kai Rugenstein das mit vorliegendem Buch in Sachen „(Gegen-)Übertragung“ gelungen sei, hängt natürlich auch davon ab, wer das Buch mit welchen Vorkenntnissen und Voreinstellungen liest; der Autor selbst nennt keine Zielgruppe(n). Implizit angesprochen sind – selbstverständlich – angehende oder ausgebildete analytische und tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapeut(inn)en.
Nicht nur für diese scheint mir das vorliegende Buch eine preisgünstige, kompakte und sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht überzeugende Darstellung der Konzepte Übertragung und Gegenübertragung zu sein. Sondern auch für Vertreter(innen) jener psychotherapeutischen Entwürfe, die der Humanistischen Psychotherapie zugerechnet werden, aber klar erkennbare Wurzeln in der Freudschen Tradition haben und die Rede von so etwas wie dem Unbewussten im psychodynamischen Sinne (Ubw) für sinnvoll halten; ich denke da vor allem an die Gestalttherapie und die Bioenergetische Analyse. Ferner scheint mir das Buch zur Horizonterweiterung geeignet für Vertreter(innen) der Verhaltens- und Systemischen Therapie, die dazu über Lektüre der Artikel „Die therapeutische Beziehung in der Verhaltenstherapie heute“ (Sulz 2015) bzw. „Die therapeutische Beziehung in der Systemischen Therapie“ (Kriz 2015) einen Zugang finden können. Die durch ein Psychologiestudium qualifizierten Vertreter(innen) der Verhaltens- und Systemischen Therapie sollten sich von Näherungen nicht abhalten lassen dadurch, dass die Forschungslage zu (Gegen-)Übertragung nur als dürftig bezeichnet werden kann (Berger, Kästner und Gumz 2024).
Über die therapeutischen Schulrichtungen hinweg gilt es ja verschiedene Fragen zu klären, wie etwa die: Welche klar identifizierbaren Prozesse der therapeutischen Interaktion werden denn Psychodynamiker(innen) mit den Begriffen „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ belegt? Gibt es alternative Beschreibungen/Konstruktionen? Sind die Konzepte „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ unlösbar verknüpft mit einer Anerkennung des Konstrukts Ubw im psychodynamischen Sinne oder kann man von „(Gegen-)Übertragung“ sinnvollerweise auch dann noch sprechen, wenn man die Rede von einem Ubw für sinnlos hält? Sind, von allen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen einmal abgesehen, die mit „(Gegen-)Übertragung“ benannten Interaktionsphänomene solche, die nur (oder zumindest hauptsächlich) hervorgerufen werden durch Eigentümlichkeiten der psychoanalytischen Therapie (Dauer, Frequenz, Setting, Therapeutenhaltung)?
Welche immense Bedeutung die Konzepte der Gegenübertragung und Übertragung in der Psychotherapie schon früh hatten, mögen zwei Beispiele illustrieren. Da ist zum einen Sigmund Freuds Eröffnungsvortrag auf dem Nürnberger Kongress 1910, dem zweiten internationalen psychoanalytischen überhaupt und dem ersten, auf dem die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet und mit C.G. Jung deren erster Präsident gewählt wurde. Dort dekretiert er:
„Wir sind auf die ‚Gegenübertragung‘ aufmerksam geworden, die sich beim Arzt durch den Einfluss des Patienten auf das unbewusste Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht weit davon, die Forderung zu erheben, dass der Arzt diese Gegenübertragung in sich erkennen und bewältigen müsse. Wir haben, seitdem eine größere Anzahl von Personen die Psychoanalyse üben und ihre Erfahrungen untereinander austauschen, bemerkt, dass jeder Psychoanalytiker nur so weit kommt, als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten, und verlangen daher, dass er seine Tätigkeit mit einer Selbstanalyse beginne und diese, während er seine Erfahrungen an Kranken macht, fortlaufend vertiefe. Wer in einer solchen Selbstanalyse nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke analytisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen.“ (Freud 1910)
Wie nun aber konkret mit Übertragung und Gegenübertragung in einer Analyse umzugehen sei, war damit ja noch nicht geklärt, sondern schon früh Gegenstand heftiger Kontroversen. In ihrer Autobiographie (Selbstkonfrontation), die sie um 1970 in ihren Achtzigern verfasst, erklärt Helene Deutsch zu Wilhelm Reich, der bald ein halbes Jahrhundert zuvor in Wien Gründer und Leiter des „Technischen Seminars“, einer Einrichtung zur Erörterung behandlungsmethodischer Fragen war: „Seine Forderung, dass jede Analyse mit der Durcharbeitung der negativen Übertragung [der Patientin/des Patienten] beginnen solle, stand im fundamentalen Widerspruch zu der analytischen Methode der freien Assoziation.“ (Deutsch 1978, S. 141) Die Kontroverse muss spätestens dann offen in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausgebrochen sein, nachdem Helene Deutsch gegen Mitte der 1920er Direktorin des Wiener Ausbildungsinstituts geworden war (Heekerens 2025).
Fazit
Das vorliegende Buch eignet sich zur Gewinnung eines ersten Überblicks bei der komplexen Thematik jener therapeutischen Beziehungsdynamik, die von Sigmund Freud und seiner frühen Schülerschaft – hervor gehoben seien Helene Deutsch, Sándor Ferenczi, Otto Rank und Wilhelm Reich (Heekerens 2025) – unter dem Namen „(Gegen-)Übertragung“ in die Welt der Psychotherapie eingeführt wurde und dort seitdem zu den bedeutenden Diskussionsthemen zählt.
Literatur
Berger, J.A., D. Kästner und A. Gumz, 2024. Therapeutische Eigenanteile in der Gegenübertragung: Ein systematischer Überblick über empirische Befunde. In: Forum der Psychoanalyse [online]. 40, S. 233–252.[Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/s00451-023-00525-9
Deutsch, H., 1978. Selbstkonfrontation. München: Kindler Taschenbuch Verlag
Freud, S. 1910. Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. In: Projekt Gutenberg-DE [online; Zugriff am 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.projekt-gutenberg.org/freud/kleine2/Kapitel43.html
Heekerens, H.-P., 2025. So fern – so nah: Eine Lesereise nach Galizien. Berlin u.a.: LIT Verlag
Norcross, J.C. und B.E. Wampold, 2018. Psychotherapy relationships that work III. In: Psychotherapy [online]. 55(4), S. 303–315 [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://psycnet.apa.org/fulltext/2018-51673-001.html
Kriz, J., 2015. Die therapeutische Beziehung in der Systemischen Therapie. In: Psychotherapie [online]. 20(2), S. 207–225 [Zugriff am: 21.01.2025]. Verfügbar unter: https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/09.-Kriz_Systemische-Therapie.pdf
Sulz, S. K. D., 2015. Die therapeutische Beziehung in der Verhaltenstherapie heute: Von der Strategie der Übertragung zur heilenden Beziehungserfahrung. In: Psychotherapie [online]. 20(2), S. 84–116 [Zugriff am: 16.01.2025]. Verfügbar unter: https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/05.Sulz_VT_.pdf
Wampold, B.E, 2015. How important are the common factors in psychotherapy? An update. In: World Psychiatry [online]. 14, S. 270–277) [Zugriff am 25.01.2025]. Verfügbar unter https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4592639/pdf/wps0014-0270.pdf
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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