Laura Behrmann, Markus Gamper et al. (Hrsg.): Vergessene Ungleichheiten
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 10.03.2025

Laura Behrmann, Markus Gamper, Hanna Haag (Hrsg.): Vergessene Ungleichheiten. Biographische Erzählungen ostdeutscher Professor*innen.
transcript
(Bielefeld) 2024.
553 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6419-5.
D: 29,00 EUR,
A: 29,00 EUR,
CH: 35,70 sFr.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - Band 77.
Thema und Autoren
Nach 1989 kam es an ostdeutschen Hochschulen zu einer Systemtransformation und Anpassung an die westdeutsche Hochschullandschaft. Neben personellen Erneuerungen gab es auch strukturelle Veränderungen der Bildungsziele sowie einen Wandel der Aufstiegskriterien und -möglichkeiten. In ihren autobiographischen Texten zeichnen Professor:innen aus der ehemaligen DDR und Ostdeutschland diesen Umbruch nach. Dabei wird deutlich, wie sich die »Ungleichheitsregime« veränderten, die nicht nur mit Diskriminierungen einhergehen, sondern auch mit der Konstruktion bestimmter Idealtypen von Wissenschaftskarrieren.
Herausgeber:innen sind Dr. Laura Behrmann, akademische Rätin auf Zeit für qualitative Methoden am Institut für Soziologie der Universität Wuppertal, Dr. Markus Gamper akademischer Rat an der Universität zu Köln und Dr. Hanna Haag, wissenschaftliche Koordinatorin am Gender- und Frauenforschungszentrum der Hessischen Hochschulen in Frankfurt am Main.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in achtundzwanzig Kapiteln differenzierter Länge untergliedert und von unterschiedlichen Autor:innen verfasst.
Es folgt Teil I mit einem ersten Kapitel „Vergessene Ungleichheiten“. Die Autoren wollen vergessene Ungleichheiten im Systemwandel sichtbar machen und den neuzeitlichen pauschalen Stigmatisierungs- und Abwertungsprozess durch biografische Erzählungen erfolgreicher entgegenwirken. In diesem Buch lassen wir Professorinnen zu Wort kommen, die diesen Prozess erfolgreich durchschritten haben.
Das zweite Kapitel heißt „Die Hochschulen der DDR, dann Ostdeutschland – ein historischer Abriss“. An den Hochschulen fand eine Systemintegration der ostdeutschen Wissenschaft statt, die jedoch nicht mit einer Sozialintegration einherging. Letzteres wirkt sich bis heute in Gestalt defizitärer Deutungskompetenzen hinsichtlich der ostdeutschen Gesellschaft und mangelnder Präsenz Ostdeutscher in der Wissenschaft aus. Die DDR-Hochschulen waren kein Ort flächendeckender revolutionärer Aufbrüche gewesen. Es wandelte sich im Zuge eines West-, Ost- Tranfers die kompletten Hochschulstrukturen.
Kapitel drei ist mit dem Titel „Ostdeutsche Wissenschaftselite noch immer ein Oxymoron?“ überschrieben. Da Ostdeutsche an der Gesamtbevölkerung von der BRD stellen sind sie in der Wissenschaftselite seit Anfang der 1990er Jahre personell deutlich unterrepräsentiert. Es ist aktuell von einem Anteil von 5 % auszugehen. Die Ursachen für diese Ungleichheiten werden in diesem Kapitel wissenschaftlich belegt.
„Die Transformation des ostdeutschen Hochschulsystems – die Wiederkehr des akademischen Hasards“ ist der Titel des nächsten Kapitels. Es geht hier um das nicht professorale wissenschaftliche Personal und es wird gefragt, wie groß die Nachteile ostdeutscher Alterskohorten die, die aktuell hauptsächlich den wissenschaftlichen Nachwuchs stellt. Die Wende beendete abrupt Kaderkarrieren. Sie führte zu Wissenschaftsfreiheit und Autonomie der Hochschulen, aber es gibt eine gesamtdeutsche Befristungspraxis von Stellen des wissenschaftlichen Nachwuchses, die oft in der Drittmittelbeschäftigung angesiedelt ist.
Mit „Biografieforschung über Ostdeutschland – eine Forschung wie jede andere“ ist Kapitel fünf betitelt. Forschung über die DDR war keine Forschung wie jede andere, sondern sie war stark von dominanzkulturellen Deutungen geprägt. Hier werden die Besonderheiten einer Biografieforschung in der DDR dargestellt und was bei deren Deutung zu berücksichtigen ist.
Es folgt dann Teil II Autobiografische Zeugnisse von 18 Professorinnen, die von Seite 126 bis zur Seite 447 reichen. Hier werden die Lebenswege der 18 Protagonisten ausführlich dargestellt.
Teil III schließt sich an mit dem Kapitel sechs (wenn man die 18 Kapitel über die Professorinnen nicht mitzählt) „Bezüge zur sozialen Ungleichheitsforschung“. Es folgen vier weitere Kapitel, die sich mit den autobiografischen Selbstbeschreibungen auseinandersetzen. Beteiligt warn elf Männer und sieben Frauen, die in Ostdeutschland sozialisiert wurden und Professorinnen geworden sind.
Kapitel sieben „Bezüge zur sozialen Ungleichhbeitsforschung“ beschäftigt sich mit der Karrieremobilität und deren Ermöglichungszusammenhang und wie sich daraus Muster allgemeinere Schlussfolgerungen ableiten lassen. Wichtig waren für die Sozialisation der Einfluss des Elternhauses und der Lehrer. Die Karrierelaufbahnen waren unterschiedlich, die einen haben alle Abschlüsse einschließlich der Promotion in der DDR realisiert die anderen haben diese Abschlüsse nach der Wiedervereinigung erlangt, für diese Gruppen war es leichter, eine Karriere zu erzielen.
„Soziale Beziehungen und ihre Bedeutung für Karrieren ostdeutscher Professor:innen zwischen DDR, Wende und vereinigtem Deutschland“ heißt es im achten Kapitel. Es werden Beziehungen in den Blick genommen, die sich für eine Bewältigung des Transformationsprozesses bzw. einer gesamtdeutschen erfolgreichen Karriere als Professorin gezeigt haben. Für viele Familien wurde Bildung zentral und Bildungsaufstieg zu einem legitimen Ziel. Ähnlich großen Einfluss haben Netzwerke, die sich während der Arbeit entwickelt haben.
Das vorletzte Kapitel „Geschlechterkonstrukte in den Autobiografien ostdeutscher Wissenschaftler*innen“ schließt sich an. Die Geschlechtersegregation blieb erhalten, trotz formaler Gleichstellung der Frauen in der DDR. Berufe mit höherem sozialem Prestige wurden meist von Männern verrichtet. Zudem blieb die weibliche Verantwortung für die private Reproduktion erhalten. Gut ausgebaut war die Infrastruktur institutioneller Kinderbetreuung.
Das letzte Kapitel „Fremde, Kolonisierte, Aufsteiger“ zeigt noch einmal eine Einschätzung der 18 biografischen Selbstporträts. Als Professor mit ostdeutscher Herkunft sind es Ausnahmen eines Wissenschaftssystems, das in der Regel westdeutsche Laufbahnmuster und einen akademischen Klassenhabitus privilegiert. Ostdeutsche teilen das Schicksal, dass ihre Herkunftskultur oftmals entwertet wird, sie mit stereotypen Klischees konfrontiert und ausgegrenzt werden.
Diskussion
Die vorliegende Publikation ist sehr interessant zu lesen, gerade für mich, die ich selbst eine solche Laufbahn durchschritten habe. Es werden 18 verschiedene autobiografische Karrieremuster vorgestellt, die sich von ihren spezifischen Einflüssen auf ihre Bildung unterscheiden und doch in mancherlei Facetten auch gleich sind. Sie alle haben die Benachteiligungen Ostdeutscher nach der Vereinigung miterlebt, wie westdeutsche Mitarbeiter von ihren Professoren mitgebracht wurden und jene mit ostdeutschem Hintergrund zu Massen, in den Sozialwissenschaften bis zu 60 %, entlassen wurden.
Fazit
Ein empfehlenswertes Buch, das nicht nur speziell an Soziologen gerichtet ist, wenn es auch soziologisch stark argumentiert. Es ist für all jene interessant, die selbst heute zur privilegierten Schicht in Wissenschaft und Gesellschaft zählen und die die vielen Benachteiligungen, die heute keinesfalls alle vom Tisch sind, miterlebt haben.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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