Jean Ziegler: Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung
Rezensiert von Prof. Dr. Heinrich Zwicky, 17.09.2007

Jean Ziegler: Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung.
C. Bertelsmann
(München) 2005.
315 Seiten.
ISBN 978-3-570-00878-2.
Originaltitel: L' empire de la honte.
Thema
Das Buch von Jean Ziegler gibt exemplarische Einblicke in den Zustand der modernen kapitalistischen Weltgesellschaft, das sogenannte Imperium der Schande, und zeigt auf wie dieses System Mangelerscheinungen, Armut und Tod produziert und die Ideale der Aufklärung, Menschenrechte und die legitimen Glücksansprüche der Menschheit in Frage stellt.
Autor
Jean Ziegler ist emeritierter Professor für Soziologie der Universität Genf, langjähriger Politiker und UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Seit rund 30 Jahren publizierte er kritische und umstrittene Analysen zum Zustand der Weltgesellschaft und zur Rolle der Schweiz in diesem System, die vor allem im französischsprachigen Ausland ein größeres Echo hatten als in der Schweiz bzw. im deutschen Sprachraum.
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält neben einem Vorwort und einem Nachwort fünf Hauptteile mit zwischen 2 und 8 Unterabschnitten.
- Teil I (Das Recht auf Glück, S. 21-70) geht aus von den Idealen der Aufklärung und konfrontiert diese Ideale mit aktuellen weltgesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die Ziegler als "Refeudalisierung" durch die "Kosmokraten", die "Herrscher des Imperiums der Schande" (S.29) bezeichnet. In zwei theoretisch interessanten Unterabschnitten wird einerseits der Begriff der strukturellen Gewalt eingeführt, andererseits die "Agonie des Rechtes" angesichts dieser strukturellen Gewalt im Weltsystem beschrieben. Als wesentliche Gründe für diese Situation werden die Dominanz der USA und ihre gezielte Steuerung der internationalen Organisation unter dem Deckmantel des Kriegs gegen den Terrorismus angeführt.
- Teil II (Massenvernichtungswaffen, S. 71- 132) beschreibt die negativen Auswirkungen der Verschuldung in der dritten Welt und die Bedeutung der sogenannten "Comprador-Klassen", der gekauften Bourgeoisie in diesem Ländern, die die Interessen der neuen Feudalherren und der transnationalen Privatgesellschaften verteidigen. Der zweite Abschnitt in diesem Teil beschreibt dann relativ ausführlich die Hungersituation in Brasilien und ergänzt sie mit Hinweisen auf die Situation in anderen Ländern wie Simbabwe oder die Mongolei.
- In Teil III (Äthiopien - Die Erschöpfung und die Solidarität, S. 133-168) geht Ziegler ausführlich auf die Situation in Äthiopien ein. Er beschreibt die Abhängigkeit von sinkenden, durch die großen Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé manipulierten Kaffeepreise und die rücksichtslose Verbreitung von gesundheitsschädigendem Milchpulver als Muttermilchersatz. Der Teil schließt mit einem optimistischen Blick auf die Widerstandskraft des äthiopischen Volkes, die unter anderem auf einem dichten Netz von Vereinen basiere (S. 163).
- Teil IV (Brasilien - Die Wege der Befreiung, S. 169-212) beinhaltet eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Situation in Brasilien und speziell der Person und die Biographie seines Präsidenten Lula (Luiz In‡cio Lula da Silva). Das Hungerbekämpfungsprogramm "fome zero" wird als vielschichtige und erfolgsversprechende Strategie gegen Ausbeutung beschrieben, deren Umsetzung aber gegenwärtig gefährdet ist, vor allem weil die Zahlung der Schuldzinsen zuviel Geld absorbiert.
- Im abschliessenden Teil V (Die Refeudalisierung der Welt, S. 213-282) verlagert sich der Fokus des Buches wieder auf die Zentren der Weltgesellschaft, auf die neuen Feudalherren, die Chefs des Pharmakonzerns Novartis, der Deutschen Bank, von Dow Chemical und wiederum von Nestlé. Ziegler beschreibt hier persönliche Erfahrungen im Kontakt mit den Vertretern dieser multinationalen Unternehmen, aber auch ihre Druckversuche gegenüber den internationalen Organisationen.
Zielgruppen
Das Buch stellt eine gut lesbare Beschreibung der Weltgesellschaft anhand von aktuellen Fragen und konkreten Abläufen und Erfahrungen des Autors dar. Es ist allen zu empfehlen, die sich noch wenig mit der Weltgesellschaft und dem Werk von Jean Ziegler auseinandergesetzt haben. Leserinnen und Lesern, die die kritische Sicht von Jean Ziegler teilen, fällt die Lektüre leicht, sie finden viele aktuelle Beispiele, die das eigene Welt(gesellschafts)bild untermauern, aber eigentlich wenig neue Erkenntnisse. Weniger kritische Zeitgenossen finden viele Denkanstösse, sie müssen aber auch mit Ärgernissen rechnen, wenn Zusammenhänge allzu einseitig dargestellt und die Akteure und ihre Motive allzu stark vereinfacht werden.
Diskussion
Jean Ziegler formuliert auf S. 288 das Ziel, das er sich (als Intellektuellem speziell in der französischen Tradition) in diesem und anderen Bücher gibt: "Informieren, die Praktiken der Herrscher transparent machen, das ist die erste Aufgabe der Intellektuellen".
Dieses Ziel erreicht das Buch mit seinen konkreten Beispielen zu einem großen Teil, auch wenn die Information immer aus der Perspektive des Autors erfolgt und diese Perspektive im Ablauf des Buches nicht zusammen mit dem Leser entwickelt wird. Die Selbstreflexion ebenso wie die reflexive Weiterentwicklung von theoretischen Konzepten in Auseinandersetzung mit den konkreten Beispielen gehen dem Buch leider weitgehend ab. Das hat auch damit zu tun, dass es ihm an Präzision fehl. Ich meine damit weniger die Präzision bezüglich der im Buch verwendeten Zahlen, die bei Zieglers früheren Werken häufig aus ideologischen Gründen kritisiert worden ist. Ich meine vielmehr die Präzision und die Sorgfalt im Umgang mit Begriffen und theoretischen Konzepten wie beispielsweise dem wichtigen Konzept der strukturellen Gewalt. Hier (in Teil I, Abschnitt 3) stelle ich in den Ausführungen von Ziegler eine schleichende "Begriffsverschiebung" von struktureller zu totalitärer zu willkürlicher Gewalt fest, welche zu wenig reflektiert und verarbeitet wird.
Fazit
Die moderne kapitalistische Weltgesellschaft funktioniert weitgehend so wie sie Jean Ziegler seit 30 Jahren beschreibt. Die soziologischen Instrumente, sie zu analysieren, sind aber in den letzten Jahren doch entscheidend verbessert worden. Jean Ziegler hat diese Verbesserungen im vorliegenden Buch aus meiner Sicht zu wenig berücksichtigt.
Rezension von
Prof. Dr. Heinrich Zwicky
ZHAW Zürcher Hochschule für
Angewandte Wissenschaft. Departement Soziale Arbeit
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