Pia Andreatta: Das Trauma der anderen
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 30.12.2024
Pia Andreatta: Das Trauma der anderen. Zur sekundären Traumatisierung in helfenden Berufen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 171 Seiten. ISBN 978-3-8379-3298-0. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Thema
Traumata stellen die Fachkräfte der Praxis der Beratung, Therapie und der primären Versorgung vor große Herausforderungen, insbesondere besteht die Gefahr, dass sie selbst spezifische Belastungsmuster bis hin zu einer Traumatisierung erfahren. Pia Andreatta analysiert das Konzept der sekundären Traumatisierung und hinterfragt kritisch die psychodynamischen und psychotraumatologischen Erklärungsansätze ebenso wie eine Engführung des Konzepts als klinische Diagnose und die Modi der Transmission von Traumata. In ihrem Buch vermittelt die Autorin konkrete Hinweise für die Psychohygiene, um die Handlungsfähigkeit, das berufliche Selbstverständnis und die Arbeitsbeziehungen der mit Trauma arbeitenden Fachkräfte in Beratung, Therapie und angrenzenden Berufsfeldern zu unterstützen.
Autorin
Die Professorin an der Universität Innsbruck Pia Andreatta arbeitete mehr als 10 Jahre als Klinische Psychologin und Notfallpsychologin im Auftrag verschiedener Organisationen in internationalen Einsätzen in Kriegs- und Konfliktgebieten. Ein Forschungsschwerpunkt von Pia Andreatta ist die psychische Traumatisierung im Kontext soziopolitischer Konflikte.
Aufbau
Untergliedert ist das Buch neben der Einleitung in elf sehr unterschiedlich umfangreiche Teile und das Literaturverzeichnis.
Inhalt
In der vorangestellten Einleitung benenntPia Andreatta den Begriff der sekundären Traumatisierung als unglücklich, da die numerische Bezeichnung wenig aussage. Mit ihren Ausführungen will die Autorin einen Beitrag zur besseren Differenzierung der Aporien in der Arbeit mit Traumata leisten. Im Anschluss beschreibt die Autorin ihre Tätigkeit in den verschiedenen Kriegs- und Krisengebieten und den Aufbau des Buches.
Im kurzen ersten Kapitel „Zur Idee der sekundären Traumatisierung“ betont Pia Andreatta, dass die Konfrontation mit katastrophalen Ereignissen und Traumatisierungen auch helfende und versorgende Menschen unmittelbar betrifft und daher der numerische Ausdruck einer sekundären Traumatisierung Schwierigkeiten bereitet. Zudem habe auch z.B. die Erfahrung einer Misshandlung des eigenen Kindes oft direkte traumatische Auswirkungen auf die Eltern.
Mit begrifflichen Varianten des Sekundärtraumas beschäftigt sich die Autorin im zweiten Kapitel. In Bezugnahme auf den DSM-5 werden vier Typen der Traumakonfrontation: die primäre Traumatisierung, die Zeugenschaft, die indirekte Traumatisierung und die sekundäre Traumatisierung unterschieden. Genutzt würden u.a. auch die Begriffe einer direkten und indirekten, stellvertretenden Traumatisierung und die der Mitgefühlserschöpfung, der -müdigkeit und der traumatisierenden Übertragung.
Mit Definitionen von Trauma beschäftigt sich die Autorin im dritten Kapitel, hier der Typ-I-Traumatisierung bei z.B. Polizisten, Krankenpflegepersonal und psychosozialen Betreuern. Beispielhaft erhalten hier intensivmedizinisches Personal oder auch die Mitarbeiter*innen in der Onkologie nicht die nötige Aufmerksamkeit. Zudem sind erste Ansprechpartnerinnen nach der Aufdeckung von sexueller Gewalt häufig sehr belastet. Auch im Kontext der Beziehungsarbeit und einer Typ-II-Traumatisierung in der Psychotherapie, der Traumapädagogik hinterlassen diese Tätigkeiten ebenso Spuren wie z.B. in der ehrenamtlichen Tätigkeit bei Helfern in der Unterstützung von Asylsuchenden. Im Anschluss beschäftigt sich Andreatta mit der Rolle der Fantasie nach dem Auftreten von beispielsweise Gewalttaten bei Mitarbeitern von Leitstellen der Rettungsdienste, bei Dolmetschern oder im Kontext von intervisorischen und supervisorischen Peergroups.
Vertieft werden im vierten Kapitel verschiedene theoretische Aspekte über die Entstehung der sekundären Traumatisierung. Einige klassische Ansätze stellen die „Ermattung oder: Erschöpfung der Empathie“ (S. 39) in den Mittelpunkt, in denen davon ausgegangen wird, dass eine Erschöpfung zu einem Verlust von Fähigkeiten der Helfer*innen führt (z.B. der Mitgefühlerschöpfung) oder die starken Gefühle von Familienangehörigen traumatisierter Menschen. Andere Autor*innen nutzen konstruktivistische und Schema-bezogene Ansätze, in denen es zu einer Beeinträchtigung kognitiver Schemata kommt (z.B. von Bedürfnissen nach Sicherheit oder einer Erschütterung des Vertrauens in das Wohlwollen von Menschen oder der Gerechtigkeit). Eine weitere Grundidee ist der Ansatz, ein Trauma sei ansteckend (Die Infektiösen) mit der Idee einer Gefühlsansteckung. Einige Ansätze entstanden im Kontext psychodynamischer und psychotraumatologischer Erklärungen (Spiegelneuronen, ein erschüttertes Weltverständnis, der Gegenübertragung, bzw. der Gegenreaktion, Prozesse der Identifikation).
Im kurzen fünften Kapitel werden nochmals Zusammenhänge der Nähe der sekundären Traumatisierung zum Typ-I-Trauma erörtert, um dann im sechsten Kapitel in einer Zwischenbilanz kritische Fragen zur Rede von der sekundären Traumatisierung zu stellen. Hier geht es u.a. darum, ob das Gleiche oder weniger als die Opfer erlebt wird, es um Trauma oder Stress geht oder ob die sekundäre Traumatisierung nicht vielmehr eine primäre sei.
Im siebten Kapitel erfolgt ein Rückgriff in Bezug auf die Frage auf das Verständnis von Trauma, ihren Wirkungen und den Dynamiken. Ausführlich wird hier nochmals erörtert, was ein Trauma ist und Fragmentierungen thematisiert. In einem vertiefenden Exkurs beschäftigt sie sich anhand eines Fallbeispiels aus einem Flüchtlingslager in Bezug auf Bion mit dem Verlust von Verbindung und dem „Verrücktwerden am Leid“ (S. 74) und einer „Eingravierung in den Körper“ und hier möglichen Therapieansätzen. Abschließend beschäftigt Andreatta sich mit der Bedeutung der Anerkennung und Würdigung eines Traumas. Zu bedenken sei hier, dass häufig nicht von einem Posttrauma gesprochen werden könne, sondern von der Aufrechterhaltung traumatischen Erlebens und Strukturen, solange die Menschen nicht handlungs- und entscheidungsfähig werden können. Betont wird die gesellschaftliche Bedeutung der Würdigung des Leids, auch in Bezug auf die Schwere der Symptomatik der Opfer.
Im achten Kapitel thematisiert Andreatta Modi der Transmission von Trauma, indem Sie einen „Übersprung“ thematisiert, in dem das Trauma von einer Person zu einer anderen „springt“. Hierbei beschäftigt sie sich u.a. nochmals mit der Bedeutung der Empathie, einer möglichen Vulnerabilität der Unterstützenden und dem Mechanismus einer projektiven Identifikation, in der das Individuum einen psychischen Zustand in das Objekt legen würde, um mit ihm kommunizieren zu können. Bedeutsam sind auch Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse.
Mögliche „Untergänge im Tun mit Trauma“ werden im neunten Kapitel erörtert. Erneut werden Zugänge aus unterschiedlichen Perspektiven referiert. So konstatiert Andreatta eine Erschütterung des eigenen Handlungsverständnisses und das Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit bei Erstrettern und in der Beratung und Psychotherapie spezifische traumatisierende Übertragungen und zudem die mögliche Destruktivität seitens der Klient*innen und bei Einsamkeit und frozen silence, Vernachlässigung und Extremtrauma.
Im zehnten Kapitel mit dem Titel: „Im Mittel- und Umfeld der sekundären Traumatisierung“ wird u.a. das Thema der biografischen Vulnerabilität seitens der Helfer*innen fokussiert. Besonders bedeutend sind in diesem Kontext die eigenen erlebten Traumata, eine besondere Empathiefähigkeit und der Faktor einer unsicheren, sowie ambivalenter verschlossener Bindungsstil. Beim Faktor der Berufserfahrung zeigen sich unterschiedliche Studienergebnisse. Einerseits können ausgebildete Routinen schützen, andererseits wird eine kumulative Belastung durch die Übernahme der Verantwortung für andere als Risiko betrachtet. Erörtert wird in zweiten Unterkapitel, inwieweit die sekundäre Traumatisierung eine Krankheit ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt, so Pia Andreatta, insbesondere von der Traumdefinition ab, z.B. ob die Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde gelegt werden. Zudem stelle sich die Frage einer „Pathologisierung der Traumafolgen – als Reaktionen versus Symptomen“ (S. 129). Für Andreatta ist die Pathologisierung mittels Diagnosen eher ungünstig (S. 132). Diskutiert werden im Anschluss u.a. Konzepte des sekundären posttraumatischen Wachstums. Nach einer neueren Metaanalyse (S. 134) ließen sich keine Belege finden, dass negative Lebensereignisse einen stärkeren Effekt auf das Wachstum haben als positive.
Im letzten Kapitel stellt Andreatta einen Entwurf einer schützenden Arbeitshaltung für die Arbeit der Helfer*innen in Kriegskontexten vor, indem sie prophylaktische Hinweise für Organisationen benennt. Hierzu gehören Aus- und Fortbildungen, die auf die Spezifika möglicher sekundäre Traumata hinweisen. Zudem gehören hierzu die Auswahl der Mitarbeitenden, Trainings zur Stressbewältigung, Frühinterventionen und die differenzierte Nachbetreuung nach kritischen Ereignissen. Gemeinsam ist den Hilfsangeboten in der Regel die Möglichkeit, Peer-Supports zu nutzen. Intervision und Supervision werden so unverzichtbar für eine salutogenetische Interventionsführung, d.h. insbesondere die Fokuslegung auf eine individuelle Sinnhaftigkeit und Bedeutungsgebung. Auch sei die individuelle Bereitschaft einer Gegenübertragung zu prüfen und verschiedenste Übungen (z.B. im Kontext der Atmung und Bewegung und der Imagination) zu nutzen.
Das Buch schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis.
Diskussion
Umfangreich und wertschätzend vermittelt die Autorin viele mögliche Erklärungsansätze zum Phänomen der Traumatisierung. Die Autorin vermittelt eine Fülle von Hinweisen. Bedeutsam ist hier bereits der Hinweis, dass sich primäre und sekundäre Traumatisierung häufig nicht unterscheiden lassen. Eindrucksvoll sind auch die Fallvignetten und die Berichte der Autorin aus den Flüchtlingslagern. Diese illustrieren die teilweise sehr differenzierten, oft psychoanalytisch geprägten Konzeptdarstellungen, von denen ich einige nicht nachvollziehen kann und als „abstrakt“ erlebe (z.B. die Anmerkungen über die Bedeutung des Raums (S. 140).
Pia Andreatta benennt eine Fülle von Aspekten über die Auswirkungen von Traumata und stellt Ansätze vor, die später nochmals vertieft werden. Die Gliederung dieser sich wiederholenden Themen wirkt durch die Verknüpfungen und Vertiefungen nicht immer schlüssig. Insgesamt wird deutlich, dass sich das Phänomen einer sogenannten sekundären Traumatisierung auf vielfältige, sich teilweise ergänzende Aspekte erklären lässt. Idealerweise hätte ich mir zum Schluss ein zusammenfassendes Kapitel gewünscht.
Fazit
Der Autorin gelingt es den Leser*innen mit diesem Band einen theoretisch fundierten, praxisnahen und nachvollziehbaren Überblick über die theoretischen Grundlagen der sogenannten sekundären Traumatisierung zu vermitteln. Die Leser*innen erhalten eine Fülle von Hinweisen zum Verständnis traumatischer Prozesse und die der Übertragung von einer auf eine andere Person, auch ich werde in Zukunft statt von sekundärer Traumatisierung von der Traumatisierung der anderen sprechen. Neben Traumaberater*innen und Traumatherapeut*innen erhalten auch weitere psychosoziale Fachkräfte wichtige Anregungen für ihre Praxis.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 30.12.2024 zu:
Pia Andreatta: Das Trauma der anderen. Zur sekundären Traumatisierung in helfenden Berufen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
ISBN 978-3-8379-3298-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32871.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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