Friedrich Schorb: Healthismus
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 20.01.2025

Friedrich Schorb: Healthismus. Gesundheit als gesellschaftliche Obsession.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
160 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3353-6.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Gegenwartsfragen.
Thema
Friedrich Schorb geht in seinem Buch aus von einer „gesellschaftlichen Obsession mit Gesundheit“ (Schorb, S. 11). Diese These wird in Theorien beispielsweise von Ivan Illich oder Michel Focault eingebettet und anhand verschiedener Beispiele aus dem alltäglichen Leben von Menschen in der westlichen Wertewelt exemplifiziert. Friedrich Schorb stellt die spannende Frage, warum diese Obsession „offenbar nicht zu einer Verbesserung ihres Wohlbefindens“ (ebd.) führt!?
Autor
Friedrich Schorb, Dr. phil., ist am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen tätig. Aus sozial-, kultur- und gesundheitswissenschaftlicher Perspektive forscht und publiziert er zu den Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf Gesundheit und zu Fragen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Behandlung von Menschen mit hohem Körpergewicht (aus dem Klappentext übernommen). Schorb, Jahrgang 1977, studierte an der Universität Bremen und der Universidad Pública de Navarra Soziologie.
Entstehungshintergrund
Eine genaue Aussage zu den Gründen, die Friedrich Schorb dazu veranlasst haben, dieses Buch zu schreiben, kann ich nicht finden. Schorb hat sich wissenschaftlich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen des Übergewichts beschäftigt und hat etliche Beiträge zu diesem Thema verfasst. Insofern könnte die Beschäftigung mit dem aktuellen Thema als eine Ausweitung/​Erweiterung seines gesundheitspolitischen Interesses verstanden werden.
Aufbau
Im ersten Teil seiner Analyse beschreibt Schorb die obsessive Beschäftigung mit Gesundheit und analysiert diese als Herrschaftsinstrument und Distinktionsmittel (S. 9–50). Im zweiten Teil (S. 51–102) geht Schorb auf die sog. „Iatrogenese“ ein (ein Begriff von Ivan Illich, dessen medizin- und gesellschaftskritische Werke in den 70er Jahren für Aufmerksamkeit sorgten). Er verdeutlicht ganz im Sinne von Illich (Illich 1975), dass „die Ökonomisierung der Medizin auf der einen Seite und der Bedeutungsgewinn medizinischer Interventionen auf der anderen Seite soziale Probleme nicht nur lösen, sondern oft sogar verschärfen bzw. überhaupt erst schaffen“ (Schorb, S. 12). Der dritte Teil des Buches (S. 103–149) befasst sich mit der gegenwärtigen und einer von Schorb entworfenen Vision zukünftiger Ausrichtung gesundheitspolitischer Sachverhalte. Am Ende des Buches befindet sich ein ausführliches Literaturverzeichnis.
Inhalt
Schorb definiert zunächst den Begriff „Healthismus“. Dieser geht zurück auf den US-amerikanischen Soziologen Robert Crawford (Crawford 1980), der ihn benutzte, um ein moralisches Werturteil zu beschreiben. Dieses besteht in dem Anspruch an Individuen, „die kontinuierliche Zunahme medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Wissens eigenverantwortlich umzusetzen“ (Schorb, S. 18). Erkrankte Menschen werden somit nicht mehr als Opfer unglücklicher Fügungen und/oder gesundheitsschädlicher Lebensbedingungen betrachtet, sondern als potenzielle Verursacher ihrer Krankheit aufgrund mangelnder Anstrengungen zur gesundheitlichen Selbstoptimierung (Schmidt 2010, S. 31, zit. n. Schorb, S. 18): „Healthismus basiert auf der Überzeugung, dass der eigene Körper beliebig formbar ist, dass Gesundheit eine Frage des Verhaltens ist, und dass chronische Erkrankungen Folge einer falschen Lebensweise sind. Wer seine Risikofaktoren kennt, sich richtig ernährt, nicht raucht, nicht trinkt, sich genug bewegt, weder zu viel noch zu wenig schläft, Schadstoffe und Stressfaktoren jeglicher Art vermeidet, der oder die bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall oder Krebs. Wer dennoch krank wird, muss also etwas falsch gemacht haben“ (Schorb, S. 18f).
Schorb entwickelt sein Argument wie folgt weiter: „Healthismus und Medikalisierung stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich wechselseitig. Aus beiden Perspektiven wird Gesundheit individualistisch und nicht gesellschaftlich analysiert. Healthismus und Medikalisierung suchen und finden die Ursachen gesundheitlicher Probleme beide in individuellen Verhaltensweisen und die Lösung im Konsum kommerzielle Angebote“ (Schorb, S. 21f)
In der Prioritätenliste von Gesundheit (Schorb verdeutlicht dies am Beispiel von gesundheitspolitischen Präventionsmaßnahmen, wobei er auf eine Analyse von Hagen Kühn und Rolf Rosenbrock (1994) zurückgreift), geht es an erster Stelle um medizinisch-technische Lösungen für Gesundheitsprobleme, an zweiter Stelle um Maßnahmen der Verhaltensprävention und erst an dritter Stelle um Interventionen, „die die grundlegende Umgestaltung der sozialen Verhältnisse zum Ziel haben“ (Schorb, S. 22).
Dieses von Rosenbrock/Kühn als „Darwin'sches Gesetz der Präventionspolitik“ eingeführte Diktum ist gesellschaftlich gewollt und wünschenswert, denn… „medizinisch-technische Lösungen stoßen auf wenig politische Widerstände und bedienen gleichzeitig die finanziellen Anreizsysteme einflussreicher Interessengruppen. Reformen und Kampagnen, die auf individuelle Verhaltensänderung abzielen, stoßen ebenfalls auf wenig wirkmächtigen politischen Widerstand und bringen zudem mehr finanzielle Möglichkeiten für privatwirtschaftliche Investitionen mit sich als Interventionen, die eine Umverteilung oder gar die grundlegende Umgestaltung der sozialen Verhältnisse zum Ziel haben“ (Schorb, S. 22f).
Was in dem Buch folgt, ist eine Beschreibung der möglichen Zukunft der Arbeitswelt, „die sich heute schon im Silicon Valley und seinen globalen Satelliten studieren lässt“ sowie der Anti-Aging-Industrie, die sich weltweit in verschiedenen Longevity-Zentren ausbreitet (S. 24–50).
Im zweiten Teil seiner Analyse (Iatrogenesis) verdeutlicht Schorb zunächst, dass die Übernahme von Eigenverantwortung für ihre Gesundheit für das Gros der Bevölkerung unerreichbar ist, „weil es sich weder finanziell noch habituell mit ihren Arbeits- und Lebensverhältnissen in Einklang bringen lässt“ (Schorb, S. 51). Schorb nimmt in diesem Kapitel die Perspektive dieser Gruppe ein und beschreibt, „welche Folgen die individualistische Gesundheitsideologie für die breite Masse der Bevölkerung hat“ (ebd.). Er konstatiert, dass „sich viele der Diagnosen, die Ivan Illich vor einem halben Jahrhundert in Die Nemesis der Medizin formuliert hat, nicht nur bewahrheitet, sondern sogar noch auf dramatische Weise zugespitzt“ (Schorb, S. 53) haben. Diesbezügliche Stichworte sind Kostensteigerungen, Personalmangel, kritikloser Konsum medizinischer Behandlungen, Fallpauschalen/DRG's, Privatkliniken und ihre Gewinne, Logik des ökonomischen Sachzwangs, die für die Medikalisierung psychischer Probleme verantwortlich gemacht wird (Schorb, S. 53–64). Des Weiteren geht Schorb ausführlich ein auf den weltweiten Anstieg des durchschnittlichen Körpergewichtes. Mit dem „Adipositas-Epidemie“-Narrativ würden dicke Menschen im Allgemeinen und arme dicke Menschen im Besonderen für soziale Probleme verantwortlich gemacht. Darüber hinaus biete es z.B. durch neue Medikamente das Potenzial für weiteres Wirtschaftswachstum (Schorb, S. 64–75, hier S. 69). Sein zweites Beispiel ist die Opioid-Krise in den USA. Ärzte im ganzen Land stellten ohne weitergehende Untersuchung Rezepte für Opiumderivate aus, die viele Patienten in die Abhängigkeit führten (Schorb, S. 76–85).
Im dritten Teil geht Schorb auf die Gesundheitspolitik und ihre Berührungspunkte mit dem Healthismus und der Medikalisierung der Gesellschaft (ebenfalls ein Begriff von Ivan Illich) ein. Schorb verdeutlicht sogleich, um was es ihm geht: „…die gesellschaftlichen Vorstellungen von Gesundheit existieren nicht in einem luftleeren Raum. Sozioökonomische Entwicklungen und politische Entscheidungen gefährden Gesundheit und Wohlbefinden vieler Menschen ganz unmittelbar…Zugleich lehrt uns die historische Erfahrung, dass politischer Druck von unten die Voraussetzung für eine kollektive Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit ist“ (S. 103). Schorb diagnostiziert eine Entwicklung, die seit den 70er Jahren immer weiter dazu geführt hat, dass „soziale Probleme nicht länger im Wirtschaftssystem oder der Sozialstruktur einer Gesellschaft, sondern in der Mentalität und den Verhaltensroutinen ihrer Mitglieder verortet wurden“ (Schorb, S. 120). Menschen werde beispielsweise durch die Hartz-IV-Reformen 2004 und auch in der aktuellen Debatte um Einschränkungen beim Bürgergeld die „Chance genommen, für sich selbst zu sorgen. Sie werden entmündigt und ihrer unternehmerischen Instinkte beraubt“ (Schorb, S. 121).
Für den weiteren Verlauf der Argumentation bedient Schorb sich des Gouvernementalitäts-Begriffs des französischen Philosophen Michel Foucault, welcher mit diesem Begriff die indirekte Lenkung von Individuen und ganzer Gesellschaften beschrieb (Schorb, S. 122f). Er nutzt diesen Begriff, um zu verdeutlichen, dass wir – angesprochen als Verantwortliche für unsere Gesundheit, für unseren Körper, unsere Psyche – unser Berufs- und Privatleben organisieren sollen, und zwar so, dass es auf maximal effiziente Weise funktioniert, d.h. es den größtmöglichen Erfolg bei geringstmöglichem Einsatz von Ressourcen ergibt (Schorb, S. 124): „Weiter- und Fortbildungen, Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen, Sport und die Selbstvermessung des Körpers mithilfe von Tracking Devices, gesunde Ernährung, Vorsorgeuntersuchungen, ausreichender Schlaf: Das alles sind Investitionen in die eigene Gesundheit und gleichzeitig in Leistungsfähigkeit und Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt“ (Schorb, ebd.).
Und Schorb weiter: Eine solche Konzeption des Menschen als unternehmerisches Selbst zeichne sich insbes. dadurch aus, „dass sie die strukturellen Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit ausblendet und allein auf das sichtbare Verhalten als Erklärung für gesundheitliche Probleme zurückgreift“ (Schorb, ebd.). Der „gesellschaftliche Optimierungsimperativ“ (Schorb, S. 140) produziere unablässig Paradoxien, was Schorb am Ende seines Buches am Beispiel von Essens„vorschriften“ (z.B. der Debatte um Fleischfreiheit) ausführlich dokumentiert (S. 124–140). Schorb schließt sein Buch ab mit einem Plädoyer für eine „solidarische Gesundheit“ (S. 142ff). Hierzu gehören für ihn beispielsweise die Verteidigung ganz basaler zivilisatorischer Errungenschaften wie eine funktionierende Kanalisation, ein – auch faktisch durchgesetztes – Verbot der Kinderarbeit, der Acht-Stunden-Arbeitstag u.a.m. Und er ergänzt: „Eine Gesundheitsförderung, die auf einen kollektiven Einsatz für die Verbesserung der Lebensverhältnisse verzichtet, ist zum Scheitern verurteilt“ (Schorb, S. 146). Menschen müssten dazu befähigt werden, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Und: Die medizinische Grundversorgung muss holistisch gedacht werden (Schorb, S. 147).
Diskussion
Es ist verdienstvoll, bedeutende Lehren aus der Vergangenheit wie die von Michel Foucault oder von Ivan Illich in Erinnerung zu rufen und für die Analyse heutiger Situationen zu nutzen. Allerdings hätte ich mir in einigen Punkten eine andere Vorgehensweise gewünscht:
- Schorb nennt vielerlei Beispiele aus den USA (die besonders gefährlichen Arbeitsbedingungen bei Amazon, Erewon als exklusive Supermarktkette für Biolebensmittel im Großraum Los Angeles, Wellness im Silicon Valley). Was dies für die Situation in Europa bzw. in Deutschland bedeutet bzw. ob sich diese Beschreibung auf Deutschland übertragen lässt, wird nicht beantwortet.
- Eine zentrale Botschaft des Healthismus lautet, dass wir die Aufgabe, Pflicht und Möglichkeit haben, uns selbst um unsere Gesundheit zu kümmern. Schorb erwähnt an keiner Stelle die positiven Auswirkungen und Möglichkeiten einer solchen gesundheitsgemäßen Lebensführung.
- Schorb beschreibt Gesundheit in spätkapitalistischen Gesellschaften als ein „gigantisches Warensortiment für jeden Geldbeutel und für jeden Geschmack“ (S. 143), und schreibt ein paar Sätze später, dass „Gesundheit trotz aller Vorsorgeanstrengungen unberechenbar bleibt und sich nicht ohne Weiteres akkumulieren lässt“ (ebd.). Er gibt damit eine Antwort auf seine zu Anfang des Buches gestellte Frage nach den Gründen dafür, dass es uns trotz vieler Anstrengungen gesundheitlich nicht gut geht. Diese Anstrengungen gehen offensichtlich in die falsche Richtung: Wenn wir meinen, dass wir gesund bleiben, indem wir die richtigen Produkte konsumieren und/oder ärztliche Vorschläge brav befolgen, reicht dies offensichtlich nicht aus. Soweit so gut. Vergessen wird dabei allerdings, dass wir selbst etwas für unsere Gesundheit tun können und nicht erst darauf warten müssen, dass sich die sozialen Verhältnisse verbessern. Eine These, die ich Herrn Schorb entgegensetzen möchte (ohne sie hier ausführlich belegen zu können): Das eigene aktive motivierte Dazutun wird helfen, den eigenen gesundheitlichen Zustand zu verbessern!
- Ein Plädoyer für solidarische Gesundheit – am Ende eines Buches auf ein paar wenigen Seiten – ist nicht überzeugend, wenn es nicht auch deutlich macht, wie dieser Weg beschritten werden kann. Anknüpfen könnte Schorb hier an die „gesundheitsbewegten“ 80er Jahre, in denen in Deutschland viele verschiedene Gesundheitsinitiativen (Gesundheitsläden etc.) entstanden.
- Die Bemerkungen über „Yoga und Zumba“, welche „bestenfalls erfolgreich Symptome bekämpfen, aber nicht die Ursachen für die Gesundheitsprobleme lösen“ (S. 147) können, sind einseitig. Ohne ein Zitat, von wem sie kommen (oder ob es die persönliche Erfahrung des Autors ist), sind sie haltlos. Wer weiß denn, ob Yoga nicht tatsächlich die Ursachen für Gesundheitsprobleme lösen kann? Die vielen hunderttausend Yoga-Praktizierenden auf der ganzen Welt haben diesbezüglich vielleicht eine ganz andere Meinung als Herr Schorb.
Fazit
Schorbs flüssiger Schreibstil macht das Buch über einen wissenschaftlichen Kreis hinaus auch für jene attraktiv, die sich eine leichte Abendlektüre wünschen. Die vorgebrachten Argumente sind nicht neu, sondern wurden großenteils auch schon am Ende des vergangenen Jahrhunderts diskutiert (vgl. Thönnessen 1997).
Literatur
Crawford, Robert (1980): Healthism and the medicalization of everyday life, in: Int J Health Serv, 10(3), 365–388
Kühn, Hagen/​Rosenbrock, Rolf (1994): Präventionspolitik und Gesundheitswissenschaften. Eine Problemskizze. In: R. Rosenbrock, H. Kühn und B.M.Köhler (Hg.): Präventionspolitik. Gesellschaftliche Strategien der Gesundheitssicherung (S. 29–53), Edition Sigma
Illich, Ivan (1987): Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, Rowohlt (engl. Orig. 1975)
Schmid, B. (2010): Der eigenverantwortliche Mensch, in: Das Gesundheitswesen, 72(1), 29–34
Thönnessen, Joachim (1997): Public Health und die Frage nach dem 'richtigen' Gesundheitsverständnis
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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