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Eva Illouz: Explosive Moderne

Rezensiert von Marian Pradella, 29.01.2025

Cover Eva Illouz: Explosive Moderne ISBN 978-3-518-43206-8

Eva Illouz: Explosive Moderne. Eine scharfsinnige Analyse unserer emotionsgeladenen Gegenwart. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. 447 Seiten. ISBN 978-3-518-43206-8. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 42,90 sFr.
Übersetzer: Michael Adrian.

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Thema

Das Buch „Explosive Moderne“ von Eva Illouz untersucht die mannigfaltigen Formen von Gefühlen, die das Leben der Individuen in der modernen Gegenwart prägen. Die Autorin verknüpft dabei ihre emotionssoziologischen Analysen mit einem zeitdiagnostischen Ansatz: Als übergreifende Frage des Buches wird aufgeworfen, inwiefern „die“ Moderne sich im allgemeinen Gefühlsleben entfaltet hat und die damit verbundenen „Dilemmata unserer Tage“ (S. 20) sollen offengelegt und problematisiert werden. Hierbei wird eine umfassende soziologische Perspektive entwickelt, die Gefühle wie Hoffnung, Neid oder Zorn als grundlegend soziale Phänomene offenlegt und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen fokussiert. Die verschiedenen Gefühlsausprägungen werden in ihrer jeweiligen Komplexität vorgestellt und ihr oftmals ambivalenter Status betont, wobei diese zentralen Widersprüchlichkeiten den Grund für die „Explosivität“ der Moderne bilden, die Illouz bereits prominent im Titel des Buches diagnostiziert.

Autorin

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem und fungiert als Studiendirektorin an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Als Wegbereiterin im Feld der Soziologie der Emotionen hat sie zahlreiche einflussreiche Werke verfasst. Zu ihren bekanntesten Publikationen zählen „Der Konsum der Romantik“ (2003), „Warum Liebe weh tut“ (2011) sowie die jüngeren Veröffentlichungen „Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Gefühle“ (2018) und „Undemokratische Emotionen“ (2023), in dem sie am Beispiel Israels das Phänomen des Populismus und dessen Verbindung zu Emotionen analysiert. Ihre vielfach ausgezeichneten Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei große Hauptteile. Nach der Einleitung folgt zunächst der Abschnitt „Der amerikanische Traum: eine emotionale Dystopie?“, der sich mit den Gefühlen der Hoffnung, Enttäuschung und Neid auseinandersetzt. Der zweite Teil „Der Nationalismus, die Demokratie und ihre Gefühle“ fokussiert die Emotionen Zorn, Furcht sowie Nostalgie. Im dritten Teil „Implosive Intimität“ werden maßgeblich Scham und Stolz, Eifersucht und Liebe analysiert, bevor abschließend das Phänomen der Verleugnung problematisiert wird.

Inhalt

In der Einleitung skizziert Illouz ihre soziologische Perspektive und betont die fundamentale gesellschaftliche Relevanz von Emotionen. Diese beinhalten „in verdichteter Form soziale Strukturen, Gruppenidentitäten und moralische Kodes“ und stellen zugleich den Modus dar, durch den Individuen soziale Prozesse – etwa Konkurrenz oder Ungleichheit – verarbeiten (S. 15). Die Autorin argumentiert, dass Emotionen nicht als rein individualistische Erfahrungen verstanden werden dürfen, sondern ihr genuin sozialer Charakter berücksichtigt werden muss, da sie stets kollektive Ursprünge und gesellschaftliche Auswirkungen besitzen. Illouz verbindet ihren emotionssoziologischen Ansatz mit der zeitdiagnostischen Frage nach dem Strukturwandel „der“ Moderne, wodurch sie eine historische Dynamik der Transformation von Emotionen und ihrer Widersprüche offenlegt, die im Zeitverlauf deutliche Wandlungsprozesse durchlaufen haben. Ihre Analyse wird dabei in den Kontext einer weithin diagnostizierten „Krise der Demokratie“ eingebettet und die Wahl der Metapher begründet: Die Moderne sei eben nicht lediglich „unbehaglich“ oder „repressiv“, sondern vielmehr „explosiv“, weil „viele ihrer entscheidenden institutionellen Merkmale miteinander in Konflikt stehen und tiefe Spannungen und Widersprüche in den Subjekten hervorrufen“. Zudem hätten „ökonomische, kulturelle und politische Institutionen“ noch nie so systematisch Gefühle hervorgerufen wie in der Gegenwart (S. 24 f.).

Der erste Teil „Der amerikanische Traum: eine emotionale Dystopie?“ widmet sich den Emotionen Hoffnung, Enttäuschung und Neid. Der Hauptfokus liegt zunächst auf der Hoffnung, die als fundamentalste Emotion im Kontext des Aufkommens der Moderne charakterisiert wird. Illouz illustriert dies anhand verschiedener historischer Kontexte: zunächst an Erlösungsreligionen, dann am Zeitalter der Aufklärung und schließlich in der Diskussion um den amerikanischen Traum. Dabei zeigt sich Hoffnung als entscheidende Ressource für zukunftsorientiertes Handeln – wobei die Zukunft im Modus der Hoffnung als gestaltbar erscheint – und als Katalysator für progressiven sozialen Wandel. Ein moderner Fortschrittsglaube, so argumentiert die Autorin, sei ohne diese Dimension der Hoffnung auf Veränderung undenkbar. Wo Hoffnung abwesend sei, fehle entsprechend „ein grundlegendes Merkmal dessen, was es heißt, ein Bürger oder eine Bürgerin in einer modernen Gesellschaft zu sein“ (S. 74).

Das nächstbehandelte Gefühl der Enttäuschung verkörpert für Illouz erstmals „die Misere der modernen Verhältnisse“ (S. 76) und steht in enger Verbindung zur Emotion der Hoffnung. Die (hoffnungsvolle) Sehnsucht kann nämlich in manifeste Enttäuschung umschlagen, etwa wenn sich Erwartungen – bspw. aufgrund sozialer Zwänge – als unrealisierbar erweisen. Illouz verdeutlicht dies zunächst anhand von Gustav Flauberts Roman „Madame Bovary“ und wendet sich anschließend konsumkapitalistischen Entwicklungen in der Moderne zu, wobei sie einen „Markt warenförmiger Gefühle“ (S. 99) diagnostiziert – exemplarisch verdeutlicht anhand der schieren quantitativen Masse an Ratgeberliteratur. Besonders skeptisch betrachtet die Autorin die meritokratischen Strukturen, die unsere „westlichen“ Gegenwartsgesellschaften prägen: Während die Leistungsgesellschaft die Möglichkeit sozialen Aufstiegs postuliert, zeigt die soziale Realität, dass dieses unerfüllbare Versprechen eine zentrale Quelle folgenreicher Enttäuschungen ist – die bis zur Resignation führen können und insbesondere ökonomisch schwächer gestellte Menschen betreffen.

Den ersten Teil abschließend analysiert Illouz den Neid, dem sie eine charakteristische Doppelstruktur zuschreibt. Am Beispiel der Geschichte von Kain und Abel verdeutlicht sie, wie Neid gleichzeitig das Bestreben auslösen kann, einer beneideten Person gleichzuziehen, als auch den Wunsch hervorruft, diese Person zu zerstören. Diese Doppeldeutigkeit erfährt in der Evolution der Moderne eine zusätzliche Verstärkung: Einerseits liegt dem Neid eine demokratische „Fantasie der Gleichheit“ (S. 112) zugrunde, da er als Antrieb für das Verlangen nach sozialer Veränderung durch – etwa ökonomische oder kulturelle – Gleichstellung fungieren kann. Während die moderne Konsum-Massenkultur Egalität durch die Möglichkeit des Erwerbs gleicher Güter verspricht, werden im und durch den Konsum jedoch zugleich eklatante Distinktionen bekräftigt, etwa indem „Arbeitsplätze, Status, Sicherheit oder Einkommen einigen vorenthalten und an andere in einer Weise vergeben werden, die weder transparent noch völlig gerechtfertigt ist“ (S. 121). Die problematische Dimension des Neids manifestiert sich darin, dass die Moderne eine „Kultur exzessiven Vergleichens“ (S. 129) hervorgebracht hat. Im Feld der Politik transformiert sich der Neid dabei häufig in Ressentiment, wie etwa im Antisemitismus oder Rechtspopulismus, wo er in das Bestreben der Aufrechterhaltung von Ungleichheitsstrukturen umschlägt.

Der zweite Hauptteil „Der Nationalsozialismus, die Demokratie und ihre Gefühle?“ beginnt mit einer Analyse des Zorns, den Illouz als „jenes unkontrollierbare Gefühl, das in uns aufsteigt, wenn wir unfair behandelt werden […] wenn wir, ganz allgemein, Opfer einer Ungerechtigkeit werden“ (S. 147) charakterisiert. Hierbei wird eine enge Verwandtschaft von Zorn und Gerechtigkeitsidealen diagnostiziert, deren Nichterfüllung Zorn hervorbringen kann. Anhand einer Diskussion von Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ zeigt Illouz, dass Zorn – ähnlich wie Neid – eine Grundlage für demokratisches politisches Handeln und damit für sozialen Wandel sein kann. Der Zorn erweist sich dabei als entscheidende Basis für die Mobilisierung von Individuen in Kollektiven, indem er gemeinsamen Protest gegen die Verletzung von Gerechtigkeitsnormen bzw. eines Moralkodexes ermöglicht. In dieser Form wandelt sich Zorn in ein gruppenspezifisches Gefühl, das allerdings auch in Grausamkeit umschlagen kann, etwa als „Zorn auf Außenseiter“ (S. 162). Illouz verdeutlicht insbesondere am Beispiel des Rechtspopulismus, wie Zorn als Strategie zur Aufrechterhaltung des eigenen sozialen Status und von Privilegien instrumentalisiert wird. Sie diagnostiziert dabei jedoch, dass Empörung und Zorn gegenwärtig zu jenen Hauptemotionen geworden sind, die „die gesamte Sphäre der Politik erfasst“ haben (S. 169).

Es folgt die Analyse der Furcht, ein Gefühl, das die eigene Verletzlichkeit bewusst macht und das – mit Sigmund Freud – zunächst von der Angst insofern unterschieden wird, als ersteres gewöhnlich kurzlebig ist und sich auf ein konkretes Objekt bezieht, damit also nicht unspezifisch bleibt. Illouz untersucht die Entwicklung des Liberalismus, der – in Anlehnung an Judith Shklar und Norbert Elias – dadurch charakterisiert wird, dass er zunehmend (vormals) unterdrückten Gruppen (etwa Afroamerikanern oder Homosexuellen) eine Freiheit von Furcht verspricht. Gleichwohl werden auch in den liberal-demokratischen Staaten der Gegenwart weiterhin Feinde definiert, beispielsweise jene außerhalb der Nationengrenzen. Furcht wird dabei instrumentalisiert, um Grenzen zwischen „uns“ und „denen“ zu ziehen und aufrechtzuerhalten – ein Phänomen, das heute besonders im Bereich des Rechtspopulismus zu beobachten ist. Illouz zeigt jedoch auf, dass Furcht auf allen Seiten des politischen Spektrums als Waffe eingesetzt wird, wobei sie für die linke politische Seite die Themen der Erderwärmung und Atomkraft anführt. Am Beispiel der Corona-Pandemie entwickelt sie schließlich die Unterscheidung zwischen einer „pastoralen“ und einer „bellizistischen“ Furcht (S. 227): Während erstere auf das Überleben aller ausgerichtet ist und die Furcht um den eigenen Körper und das eigene Leben im Allgemeinen umfasst, zielt die zweite Form von Furcht auf ein exklusives Gemeinwohl.

Die Gefühle der Nostalgie und Heimatlosigkeit, die Illouz als Nächstes betrachtet, stehen beide in Verbindung mit einem Verlust von Heimat. Dabei verbindet sich allerdings nur die Nostalgie mit der Sehnsucht nach einer bestimmten (verlorenen) Heimat, während im Fall der Heimatlosigkeit gerade unklar bleibt, wohin man eigentlich zurück will. Nostalgie steht für Illouz dabei in einer engen Verbindung zum Aufkommen der Moderne, die durch steigende Bevölkerungsbewegungen gekennzeichnet ist. Mit Blick auf Phänomene wie Migration und Flucht macht sie unter Rückgriff auf Georg Simmel die Figur des „Fremden“ als eine verallgemeinerte Form der Moderne aus. Die Heimatlosigkeit hingegen bezieht sich primär auf die eigene Lebenswelt: „Die Moderne erzeugt eine Angst vor dem Verlust der Heimat inmitten dieser Heimat selbst“ (S. 244). Zur Analyse greift Illouz zunächst auf Karl Marx' Konzept der Entfremdung zurück und wendet sich anschließend Franz Kafkas Novelle „Die Verwandlung“ sowie Joseph Roths „Die Büste des Kaisers“ zu, die die Erfahrung der Entfremdung in einer weniger ökonomistischen Perspektive literarisch verarbeiten. Abschließend problematisiert sie, wie Heimatlosigkeit auf politischer Ebene in Nostalgie umschlagen kann: als Wunsch – und politische Forderung – nach Rückkehr zu einer vermeintlich noch Orientierung und Sicherheit bietenden Vergangenheit.

Der dritte Hauptteil „Implosive Intimität“ beginnt mit einer Analyse von Scham und Stolz. Scham lässt „die Präsenz anderer in uns“ wahrnehmen und bedeutet, dass „wir einer wichtigen Norm oder Wertvorstellung nicht entsprochen haben“ (S. 268). Mit Rekurs auf Jean-Paul Sartre zeigt Illouz, wie Scham aus äußeren Bewertungsmaßstäben erwächst, die zwar vom Individuum häufig akzeptiert werden, jedoch im Kern vollständig von externen Instanzen festgelegt wurden. In der Moderne habe sich Scham dabei zu einer eigenständigen „Existenzform“ entwickelt und wirke auch dann, wenn keine moralischen Maßstäbe verletzt wurden oder man etwas „Falsches“ getan hat (S. 278). Unter Bezugnahme auf Didier Eribon führt Illouz hierfür die Armut als zentrales Beispiel an. Abschließend diagnostiziert sie „Beschämung“ als eine in der Gegenwart inflationär gewordene Erfahrung, die sich besonders durch soziale Netzwerke im Allgemeinen und „digitale Mobs“ im Spezifischen manifestiert.

Das nächste von Illouz analysierte Gefühl ist die Eifersucht. Mit Rekurs auf Immanuel Kant, Marcel Proust, William Shakespeare und Jacques Lacan wird diese zunächst als ein überaus mächtiges Gefühl charakterisiert, das mit der Triebfeder der Fantasie in Verbindung steht und sich bis zu Höllenqualen des Individuums steigern kann. Der Fokus liegt anschließend primär auf den patriarchalen Strukturen, die sich in der Evolution der Moderne fest etabliert haben. In diesem Kontext verdeutlicht Illouz, dass Monogamie eine relativ neue Erwartung und ein junges Ideal darstellt, das zu den Ungleichheitsstrukturen der Gegenwart beiträgt: „Wenn Monogamie vorschreibt, dass die Frau auf sexuelle Kontakte zu anderen Partnern verzichtet, dann ist Eifersucht die emotionale Folge einer Institution, die auf Besitzverhältnissen von Männern an Frauen beruht“ (S. 317). Dabei zeigt Illouz auf, dass selbst die weibliche Eifersucht im Kern häufig auf eben jene patriarchalen Strukturen zurückgeführt werden muss – etwa wenn besitzdenkende Männer weibliche Eifersucht als Rechtfertigung für eigene Gewalttätigkeiten anführen.

Als Letztes Gefühl fokussiert Illouz die Liebe, der sie grundsätzlich das Potenzial zuspricht, gesellschaftliche Normen und Regeln zu unterminieren und dem Individuum einen Vorrang vor der Gesellschaft einzuräumen: „Die Liebe transzendiert herkömmliche Bewertungs- und Beurteilungssysteme und umgeht in diesem Sinne die verschiedenen Logiken, die in der Gesellschaft greifen“ (S. 339). Die Autorin zeigt auf, wie sich die (romantische) Liebe in der Entwicklung der Moderne zunehmend zu einer „kulturellen Fantasie“ entwickelte, die in zahllosen literarischen und anderen künstlerischen Werken thematisiert wurde. Allerdings plädiert sie dabei für die notwendige Berücksichtigung von Konsumkultur und Klassenverhältnissen, denn in paradoxer Weise steht die Liebe als „interessensloses Gefühl“ in der Moderne der Liebe als „Instrument für soziale Mobilität und Status“ gegenüber (S. 340). Illouz diskutiert hier insbesondere das Phänomen, dass Partnerschaften und (Liebes-)Ehen heute keineswegs nur eine Überwindung gesellschaftlicher Zwänge manifestieren, sondern sich vielmehr Tendenzen zur „Homogamie“ verstärken: Partner*innensuchen gewöhnlich Partner*innen einer ähnlichen Klasse – wobei Bildungsniveau und geteilte kulturelle Geschmäcker Kernelemente darstellen – und schreiben damit soziale Klassenlagen fest. Vor diesem Hintergrund resümiert Illouz, dass sich die Liebe in der Gegenwart zunehmend einer Definition von Komplexität annähert: Indem zeitgenössische Liebe auf einer Vielzahl von Elementen – etwa kulturellen, sexuellen und emotionalen – basiert, wird ihr Gelingen immer unsicherer und führt schließlich zum „Implodieren“ von Intimität: „Sie ist ein Feld geworden, auf dem zwei singuläre Individuen mit einer zunehmenden und nicht zu beherrschenden Komplexität zurechtkommen müssen“ (S. 351).

Der abschließende Abschnitt „Durch die Ritzen der Verleugnung: die Macht der Gefühle“ unterstreicht nochmals die fundamentale gesellschaftliche Relevanz von Emotionen und plädiert für die Notwendigkeit ihrer systematischen Analyse: „Gefühle stehen nicht nur im Mittelpunkt unserer Existenz, sie sind dieser Mittelpunkt selbst, weil wir nur durch Gefühle erkennen können, was uns wirklich am Herzen liegt“ (S. 359). Dabei wird insbesondere das Phänomen einer Verleugnung von Gefühlen problematisiert. Eine solche kann zwar aus Gründen des Selbstschutzes völlig unbewusst und unfreiwillig erfolgen und ist als Bewältigungsmechanismus nicht per se moralisch verwerflich. Allerdings kann eine solche Verleugnung auch weitreichende Folgen haben, denn wenn Gefühle abstumpfen, können sie nicht länger als Instrumente der Orientierung in einer komplexen modernen Welt fungieren.

Diskussion

Eva Illouz gelingt es in ihrem Werk „Explosive Moderne“ eine beeindruckende Kartographie der Emotionen zu erstellen, die sowohl eine „frühe“ Moderne geprägt haben als auch die Gegenwart prägen. Der Fokus liegt also auf der Entwicklung der Emotionswelten in der Moderne. Ein solches „mapping“ der sozialen Wirklichkeit kann als elementarer Bestandteil des „Genres“ der soziologischen Zeitdiagnosen gelten und ermöglicht der Leserschaft eine Orientierung in einer Welt, die von Komplexität und Ambivalenz durchzogen ist – insbesondere in der Welt der Emotionen, wie Illouz überzeugend darlegt. Die Autorin entwickelt eine soziologische Makro-Perspektive, die eine systematische Rundreise durch die Gegenwart prägenden Gefühle bietet und dabei Emotionen als zentrale Analysekategorie der Soziologie etabliert, anhand derer sich der Wandel der Moderne nachzeichnen lässt. Tatsächlich gelingt es Illouz in beeindruckender Weise, die Gefühlswelten der Gegenwart in ihrer Komplexität zu entfalten und dabei die Paradoxien, Ambivalenzen und Diffusitäten aufzuspüren, die allen behandelten Emotionen inhärent sind.

Illouz bearbeitet dabei eine imposante Bandbreite von Themen – wobei regressive Politiken wie der Rechtspopulismus sowie die Auswirkungen eines hegemonialen (Konsum-)Kapitalismus wiederkehrende Bezugspunkte bilden – und stützt sich dabei auf eine Vielzahl von Quellen, die über ihre eigene Profession – die Soziologie – deutlich hinausreichen. Neben zahlreichen soziologischen Theorien und Studien ist besonders der durchgängige Rückgriff auf das Feld der Literatur charakteristisch für Illouz' Arbeitsweise. Sie wendet sich sowohl klassischer als auch zeitgenössischer Literatur zu (Romane, Novellen, Dichtungen etc.), die sie als „Fundgrube von Gefühlen“ (S. 31) bezeichnet. Von Kleists „Michael Kohlhaas“ – zentral für die Analyse des Zorns –, über Flauberts „Madame Bovary“ – im Kontext der Unzufriedenheit – und Kafkas „Verwandlung“ bis hin zu Jane Austen spannt sich ein weites Netz literarischer Bezüge. Die Einbeziehung fiktionaler Literatur in die Analyse der modernen sozialen Wirklichkeit begründet Illouz damit, dass Literatur ein Fenster auf die – jeweils historisch spezifische – Realität eröffnet und somit eine wichtige Ressource für gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse darstellt. Tatsächlich gelingt es ihr, anhand dieser literarischen Beispiele die Widersprüchlichkeiten und Entwicklungen moderner Emotionen nachzuzeichnen, wie sie etwa in komplexen Romanfiguren zum Ausdruck kommen.

Insgesamt zeichnet Illouz derart eine Entwicklung nach, in der die aufkommende Moderne zunächst mit einem umfassenden Gefühl der Hoffnung verbunden ist – etwa auf Emanzipation, gesellschaftlichen Fortschritt oder auf die Möglichkeit eines Lebens ohne Diskriminierung. Diese Hoffnung wird im weiteren Verlauf der Moderne jedoch zunehmend enttäuscht und schafft dabei Raum für den Aufstieg einer Vielzahl anderer Emotionen. Die verbreitete Enttäuschung der modernen Hoffnung führt Illouz auf die gegenwärtigen Strukturen liberal-demokratischer Gesellschaften zurück, die von einer umgreifenden kapitalistischen Wettbewerbslogik und ausufernden Konsumprinzipien geprägt sind, wobei sich das meritokratische Versprechen der Chancengleichheit als Illusion erweist.

Während das soziologische „Genre“ der Zeitdiagnose, das auch Illouz mit ihrem Buch erfolgreich bespielt, die (soziale) Welt und ihre Wandlungen in ihren Gesamtstrukturen (hier: Der Gefühle) zu beschreiben und dabei spezifische Problematiken der Moderne herauszuarbeiten sucht, liegt eine zentrale Herausforderung darin, dass Einzelphänomene oftmals nicht in ihrer vollen Komplexität erfasst werden können, sondern häufig nur skizzenhaft bleiben müssen. Diese Problematik zeigt sich auch bei Illouz deutlich. Exemplarisch lässt sich dies an ihrer Auseinandersetzung mit „den Ostdeutschen“ aufzeigen: Im Kontext des Gefühls der Enttäuschung werden diese von ihr als Beispiel angeführt, allerdings lediglich innerhalb eines einzigen halbseitigen Abschnitts – wie viele andere Beispiele auch (S. 94). Während diese Vorgehensweise zwar erlaubt, eine große Bandbreite an Beispielen anzusprechen, kann sie der vollen Komplexität der einzelnen Phänomene kaum gerecht werden. Stattdessen werden blitzlichtartig immer wieder neue Phänomene herausgegriffen, die Illouz als charakteristisch für bestimmte Gefühlswelten identifiziert – wodurch mitunter sehr heterogene Erscheinungen nebeneinander stehen (etwa wenn der Blick auf „die Ostdeutschen“ unmittelbar von einer Diskussion Durkheims sowie des zeitgenössischen Romans „Le Coeur synthétique“ von Chloé Delaume gefolgt wird). Wenngleich Illouz dabei eine globale Perspektive entwickelt und Beispiele aus verschiedenen Weltregionen anführt, liegt ein gewisser Fokus auf den USA – was sich nicht zuletzt in ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Traum zeigt.

Hieran schließt sich die Frage an, ob und inwiefern verschiedene Weltregionen nicht auch innerhalb der Moderne von unterschiedlichen Ausprägungen jener Emotionen geprägt sind, die Illouz im Buch analysiert. Während in ihrer globalen Analyse die jeweiligen Emotionen allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen scheinen – in ihrer jeweiligen Komplexität und mitunter Paradoxität –, so ist doch davon auszugehen, dass es durchaus lokale Spezifitäten in Bezug auf Gefühlswelten gibt. Eine weitere Frage ergibt sich im Verhältnis zu anderen zeitdiagnostischen Schriften der Gegenwart: Während Illouz zwar zentral einen Strukturwandel der Emotionen in der Moderne problematisiert, führt sie kaum eine Auseinandersetzung mit der Frage nach einem möglichen „nach“ der Moderne. Anders etwa Andreas Reckwitz, der häufig den Begriff der Spätmoderne verwendet, oder Zygmunt Bauman, der zunächst von der Postmoderne und später von der flüchtigen Moderne spricht, um ein solches „nach“ zumindest anzudeuten – wenngleich für sie viele Strukturen eine „frühen“ Moderne auch gegenwärtig weiterhin wirkmächtig bleiben. Inwiefern sich die Emotionen zu einem solchen oftmals diskutierten möglichen „Ende“ der Moderne verhalten, bleibt für weitere Ausarbeitungen offen. Ebenso verbleibt bei Illouz im Ungesagten, wie genau auf die gegenwärtige Welt „explosiver Gefühle“ eigentlich reagiert werden könnte bzw. sollte.

Fazit

Das Buch „Explosive Moderne“ von Eva Illouz bietet einen gelungenen und umfassenden Rundgang durch die Gefühlswelten der Moderne und deren Wandel. Unter Rückgriff auf eine Vielzahl klassischer sowie zeitgenössischer literarischer Werke analysiert Illouz die Paradoxien und Ambivalenzen, die allen behandelten Emotionen – von Hoffnung über Zorn bis hin zu Liebe – in der Moderne innewohnen und die mitunter eklatante soziale Folgen mit sich bringen. Zwar besitzt das Werk eine wissenschaftlich-soziologische Ausrichtung, allerdings macht Illouz' bildhafte Sprache es auch für ein interessiertes Laienpublikum uneingeschränkt empfehlenswert – insbesondere für jene, die eine Affinität zur Literatur besitzen, welcher in ihrer Analyse eine zentrale Rolle zukommt.

Rezension von
Marian Pradella
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie - Vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas, Universität Siegen
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Es gibt 24 Rezensionen von Marian Pradella.

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ISSN 2190-9245