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Nadja Danglmaier: Sichtbare Erinnerung

Rezensiert von Andreas Hudelist, 20.12.2024

Cover Nadja Danglmaier: Sichtbare Erinnerung ISBN 978-3-7065-6344-4

Nadja Danglmaier: Sichtbare Erinnerung. Erinnerungszeichen für Opfer des NS-Regimes in Kärnten. Studienverlag (Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2024. 348 Seiten. ISBN 978-3-7065-6344-4. D: 39,90 EUR, A: 39,90 EUR.

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Thema der Publikation

Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es immer weniger Menschen, die persönliche Erfahrungen aus der Kriegszeit weitergeben können. Was bleibt, sind medial vermittelte Erzählungen, die in vielfältiger Form auf ihre Rezeption warten. Denkmäler spielen dabei eine ebenso wichtige Funktion wie in etwa Dokumentationen, werden aber im Alltag meist übersehen. In der Publikation „Sichtbare Erinnerung. Erinnerungszeichen für Opfer des NS-Regimes in Kärnten/Koroška werden Zeichen der Erinnerung im öffentlichen Raum im südlichen Bundesland in Österreich gesammelt, vorgestellt und für den pädagogischen Einsatz diskutiert.

Autorin und Entstehungshintergrund

Die Autorin, Nadja Danglmaier, ist am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt tätig und beschäftigt sich in Forschung und Lehre, Bildungsprojekten zur NS-Erinnerungskultur und diversitätsbewusster Bildungsarbeit. Danglmaier ist Koordinatorin von erinnern.at Kärnten/Koroška und entwickelt sowohl Fortbildungen als auch Unterrichtsmaterialien für die historisch-politische Bildungsarbeit. Von 2020 bis 2023 leitete sie in Kärnten das Teil-Projekt Digitale Erinnerungslandschaft Österreich. Verfolgungen und Widerstand im Nationalsozialismus|Dokumentieren und Vermitteln“, auf dem die Publikation basiert.

Thema und Aufbau

Danglmaier sammelt in der Publikation verschiedene Erinnerungsorte für die Opfer des NS-Regimes in Kärnten|Koroška. Dabei zeigt sie die Entwicklung der Erinnerungszeichen auf, die zunächst vor allem für kollektive Gruppen errichtet wurden und im Laufe der Zeit durch konkrete Namensdenkmäler ergänzt wurden. Nach einer Einleitung zur Entwicklung der NS-Erinnerungskultur in Österreich diskutiert Danglmaier die Besonderheiten für den Raum in Kärnten|Koroška seit dem Jahr 1945 und wie die politische Relevanz dieser Erinnerungszeichen. Anschließend werden Strategien der Recherche nachvollzogen, die alle Gemeinden sowie Gedenk- und Erinnerungsinitiativen einbezogen. Darüber hinaus wurden alle Orte besucht und fotografisch von Madlin Peko dokumentiert. Das Ergebnis sind über 240 Einträge, die in der Publikation mittels Text und Bild sichtbar gemacht werden. Den Kern des Buches umfasst demnach eine Bild- und Textsammlung, die neben Adresse und GPS-Daten auch erläuternde Texte und Daten zur Denkmalsetzung, zu den Initiatior:innen und zu den Kunstschaffenden enthält.

Inhalt

Ein Jahr vor dem 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges thematisiert Sichtbare Erinnerung den Umgang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges in der Nachkriegszeit anhand von Erinnerungszeichen. Die Erinnerung an diese Zeit geht vom kommunikativen Gedächtnis in ein kulturelles über. Danglmaier zeichnet die in 80 Jahren entstandene Erinnerungslandschaft in der Region Kärnten|Koroška nach, die vielfältig ist: „Neben klassischen Denkmälern finden sich in der Kärntner Erinnerungslandschaft Stolpersteiner, Straßenbezeichnungen, künstleriche Interventionen, Friedhofsanlagen und vieles mehr. Alle diese Zeichen sind Ausdruck des öffentlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit und ihre Entstehungsgeschichte, Gestaltung und Rezeption sagen wiederum etwas aus über die Entwicklung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime.“ (9)

Als theoretischer Bezugsrahmen dienen die Ausführungen der Historikerin Heidemarie Uhl, die sich in ihren Publikationen ausführlich mit der österreichischen Erinnerungskultur auseinandergesetzt hat. Anhand ihrer Schriften lassen sich drei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase nahm der Widerstand in Österreich einen prominenten Platz ein. Kurz nach der Befreiung wurde damit international signalisiert, dass Österreich zur eigenen Befreiung einen Beitrag geleistet hatte. Der Widerstand der Partisann:innen wird jedoch von der Kärntner Bevölkerung nicht als solcher wahrgenommen, sondern als pro-juguslawische Aktivität diskreditiert – „[…] eine Sichtweise, die in Kärnten bis heute nachwirkt“. (16) Phase zwei umfasst ein öffentliches Gedenken an Kriegshelden, die das Gedenken an Widerstandskämpfer:innen verunmöglichen. Pflichterfüllung und Wehrmachtssoldaten als willenlose Opfer des Zweiten Weltkrieges stehen im Vordergrund und bestimmen den Erinnerungsdiskurs. In diesem Zusammenhang entstanden zahlreiche Denkmäler und traditionelle Gedenkpraktiken, die eine Distanzierung vom Angriffskrieg der Nationalsozialisten nicht zuließen. Die Erinnerung an die Widerstandsgruppen wurde zu einer privaten Praxis, die zwar ihren Weg aus dem kommunikativen Gedächtnis in kulturelle Artefakte fand, jedoch aufgrund der fehlenden Öffentlichkeit meist privat von wenigen Menschen aufrechterhalten wurde. Die dritte Phase beschreibt die Entstehung eines öffentlichen Diskurses, der vor allem von einer kritischen Nachkriegsgeneration getragen wurde, die vor allem in den 1990er Jahren aktiv wurde. „Das Geschichtsnarrativ wurde gesellschaftlich neu ausgehandelt, ein schwieriger und langwieriger Prozess, der nach wie vor andauert“. (18) Diese letzte Phase ist noch immer nicht abgeschlossen.

In einem weiteren Abschnitt betont Danglmaier mit einem Blick auf die wissenschaftliche Literatur, dass sich an kaum einem anderen Ort so viele Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen der Aufarbeitung der Geschehnisse während und nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet haben. So konnten auch 240 Erinnerungszeichen entstehen, wobei hier die Autorin hier auf das Ungleichgewicht der Erinnerung aufmerksam macht. So wird den gefallenen Soldaten der Weltkriege (oft vermischt mit dem Abwehrkampf 1918 bis 1920) dreimal so viel gedacht wie den Opfern des Nationalsozialismus. Heldennarrative sind in der Überzahl und werden an Feiertagen, wie den 10. Oktober jahrzehntelang hochgehalten. Die Gedenktage 27. Januar, Tag der Befreiung des KZ Auschwitz, und 5. Mai, Tag der Befreiung des KZ Mauthausen, sind in der öffentlichen Erinnerungspraxis kaum präsent. Ein besonderes Denkmal wurde im Jahr 1952 errichtet. Am 10.-Oktober-Platz in Eberndorf/​Dobrla werden auf einem fünfeckigem Monument Gefallene des Kärntner Abwehrkampfes, Gefallene des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, in Konzentrationslagern Ermordete und in der Nachkriegstagen von Partisan:innen liquidierte Personen vermischt und damit auch die historische Spezifik vermischt. Noch in den 1990er Jahren wurden Denkmäler, die auf die Deportation der kärntnerslowenischen Bürger:innen aufmerksam machen, an die Peripherie der Landeshauptstadt ausgelagert, was der marginalisierten Berücksichtigung im öffentlichen Diskurs entspricht. „Die Analyse der Erinnerungslandschaft Kärntens/​Koroskas verdeutlicht das dichte Netz des Partisan:innenwiderstandes in Sübkärnten, der sich zwar nicht in der staatlichen Erinnerungskultur manifestierte, jedoch getragen vom Verband der Kärntner Partisanen/​Zveza koroskih partizanov auf vielen Friedhöfen und Privatgrundstücken verankert wurde. Dort – im Privaten – wird auch die slowenische Sprache auf Erinnerungszeichen sichtbar, während sie auf Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum lange Zeit marginalisiert bliebt“. (23) Auch andere Opfergruppen wie die der Roma und Sinti, Homosexuelle oder Zwangsarbeiter, werden im Gedenken kaum erwähnt. Zudem weiß Danglmaier auf unmarkierte Erinnerungsorte hin. Orte, an denen Gräueltaten verübt wurden, auf die aber bis heute nicht öffentlich hingewiesen wird.

Trotzdem sind es vereinzelte Erinnerungszeichen, die einen Wandel des Erinnerungsnarrativs in Österreich erkennen lassen, wenn auch langsam und in geringer Zahl. Verantwortlich dafür sind zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die gegen einen jahrzehntelang dominierenden öffentlichen Diskurs arbeiten. Dass die Erinnerungszeichen in diesem Zusammenhang nur einen Anstoß geben können, betont die Autorin, indem sie eine Erinnerungskultur infrage stellt, die mit traditionellen Formaten von Festredner:innen und Musik bekannte Erinnerungsmuster abruft. Die Jugend müsse viel stärker involviert werden und dürfe nicht als Staffage enden.

Zur Untermauerung der These, dass sich das kollektive Gedächtnis tendenziell zu Namensdenkmälern entwickelt hat, sollen hier zwei Beispiele angeführt werden. So wird das „Denkmal den Opfern für Österreichs Freiheit“ in Villach/​Beljak angeführt. Am Anfang waren zwar vereinzelte Namen am Sockel noch vorgesehen, bei der Errichtung ging man allerdings zur Inschrift „Den Opfern für Österreichs Freiheit“ über. Wahrscheinlich war es gerade dieser offene Zugang zur Erinnerung, der in der Folge problematisiert wurde, da Opfer insbesondere durch den Österreichischen Opfermythos anders verstanden werden als von den Initiator:innen der KPÖ im Jahr 1964. Das zweite Beispiel ist das 1999 enthüllte „Denkmal der Namen“ in Villach/​Beljak, das durch die Nennung von Namen der Entmenschlichung der Opfer durch das NS-Regime entgegenwirkt. Aus den ursprünglichen 64 Namen sind mittlerweile 336 angeführte Opfer geworden. Da dieses Projekt auch von Schüler:innen mitentwickelt wurde, betont Danglmaier die damit verbundene lebendige Erinnerungskultur. „Mit dieser Arbeit und rund um das Erinnerungszeichen angesiedelten Gedenkveranstaltungen, in die Kulturschaffende, Vereine und Jugendliche eingebunden sind, ist es dem Verein Erinnern Villach gelungen, eine lebendige Erinnerungskultur an die Verbrechen des NS-Regimes und seine Opfer zu etablieren.“ (36)

Diskussion

Das Buch führt in die Erinnerungsgeschichte Österreichs ein und kontextualisiert Erinnerungszeichen, um anhand ausgewählter Beispiele Problemfelder diskutieren zu können. Damit ist auch ein Forschungsdesiderat des Buches eingeführt, das anhand der vorhandenen Erinnerungszeichen in Kärnten/Koroška eine fehlende und problematische Aufarbeitung der Erinnerung im Kontext des nationalsozialistischen Regimes transparent macht. Die Erinnerungszeichen legen offen, wie in den unterschiedlichen Phasen nach Uhl in Österreich mit marginalisierten Gruppen umgegangen wurde und wie sich dieser diskriminierende Umgang bis in die Gegenwart fortsetzt. Ein Ausblick gibt die pädagogische Relevanz, auf die Danglmaier in einem abschließenden Kapitel aufmerksam macht. Die Erinnerungszeichen werden nur lebendig, wenn sie in Erinnerungspraktiken einbezogen werden. Die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern ist deshalb unerlässlich und wird hier als ein Lichtblick genannt, der aus einem diskriminierenden Umgang mit Menschen und einer diskriminierenden Erinnerung an sie herausführt. „Eine aktive Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Vergangenheit ist die Basis für den wichtigen nächsten Schritt: Daran mitzuwirken, dass die Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen ihre symbolhafte Ebene verlässt und dass sich das Erinnern auch im Alltag niederschlägt – im Denken, im Handeln und in den Entscheidungen.“ (323)

„Sichtbare Erinnerung“ ist die Dokumentation eines mehrjährigen Projekts, das im Buch nicht vollständig abgebildet werden konnte, weshalb immer wieder über die Grenzen der Buchdeckel hinaus Adressen genannt werden, die das Thema erweitern und vertiefen. Die Sammlung von Erinnerungszeichen ist genauso beeindruckend wie die Kontextualisierung und Verdeutlichung von einer stärken Auseinandersetzung mit der Erinnerungspolitik. Dabei verfällt die Autorin nicht in Bewertungen, sondern zeigt Praktiken sowohl in der Vergangenheit als auch der Gegenwart auf, um diese im Feld der Memory Studies zu situieren und Tendenzen transparent zu machen. Damit wird ein Feld greifbar, das sonst meist unsichtbar oder stark fragmentiert ist, das aber auf diese Weise den Nährboden bildet, um eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema zu fördern und sichtbare Erinnerungen greifbar zu machen und kommende Generationen zur Teilhabe an der Vergangenheit einzuladen.

Fazit

Das Buch richtet sich daher einerseits an all jene, die sich im pädagogischen Kontext mit Erinnerungszeichen auseinandersetzen wollen und andererseits an all jene, die sich für den österreichischen Erinnerungsdiskurs in Kärnten/Koroška interessieren.

Rezension von
Andreas Hudelist
Schwerpunkte: Ästhetik, Cultural Studies, Film- und Fernsehforschung, Kunst sowie kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung
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Es gibt 17 Rezensionen von Andreas Hudelist.

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Zitiervorschlag
Andreas Hudelist. Rezension vom 20.12.2024 zu: Nadja Danglmaier: Sichtbare Erinnerung. Erinnerungszeichen für Opfer des NS-Regimes in Kärnten. Studienverlag (Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2024. ISBN 978-3-7065-6344-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32898.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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