Jesus Hernández Aristu: Identität, Resonanz und Sinnkonstruktion in der sozialen Beratung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.11.2024
Jesus Hernández Aristu: Identität, Resonanz und Sinnkonstruktion in der sozialen Beratung. Lebensorientierung, Supervision, Coaching.
Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2024.
150 Seiten.
ISBN 978-3-86585-335-6.
D: 25,90 EUR,
A: 26,70 EUR.
Reihe: Edition Neuer Diskurs - 35.
Wer bin ich?
Die Frage aller Fragen, wie sie immer wieder zu allen Zeiten und in vielfältigen Formen gestellt werden, und wie sie z.B. Immanuel Kant mit der Aufforderung – „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – formuliert hat, und mit den Fragen – „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ – die den Kategorischen Imperativ und den Sinn des Lebens begründen, sind heute, in den Zeiten von Unsicherheiten und Transformationen, nötiger denn je zu stellen.
Entstehungshintergrund und Autor
Die Organisation und wissenschaftliche Vereinigung EASC (European Association of Supervision and Coaching) hat im September 2020 in Barcelona den Kongress „Identität und Möglichkeiten des Wandels in einer sich verändernden Gesellschaft“ geplant, der jedoch wegen Covid-19 nicht stattfinden konnte. Der 1943 geborene spanische Psychoanalytiker und Mediator Jesus Hernándes Aristu, Wissenschaftler der Öffentlichen Universität von Navarra, sollte beim Kongress einen Workshop zum Thema „Identität, Supervision und Coaching leiten. Die Vorbereitungen darauf und der Kongressausfall veranlassten ihn, in einer Studie die Bedeutung der „Sozialberatung“ in Theorie und Praxis, in der Vergangenheit und Gegenwart herauszuarbeiten. Aristu lebt und arbeitet seit 1967 in Deutschland, als Professor der Universität für Angewandte Wissenschaft des Niederrheins MG-Krefeld und als Gastdozent an Universitäten in Deutschland, Spanien, Ungarn, Chile und Japan. Als Gestaltpsychotherapeut, Psychoanalytiker, Mediator, Bildungs-, Erziehungsberater und Mitarbeiter von Migrationsorganisationen setzt er sich mit den vielfältigen Fragen der dialogischen Kommunikation auseinander. Er ist Professor für Sozialwissenschaften an der Öffentlichen Universität von Navarra. Er ist Präsident und Gründer der Navarra Mitxelena-Association for Supervision and Personal Development und Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes.
Aufbau und Inhalt
Der Autor fasst die Fragen nach dem Ich, dem Wir und der Identität in sechs Beispielen zusammen: (1) Als der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmund Baumann bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Karolingischen Universität in Prag gefragt wurde (2005), welche Nationalhymne beim Ehrenakt gespielt werden solle – die polnische oder die britische – entschied er sich für die europäische: „Alle Menschen werden Brüder“, aus Beethoven’s 9. Sinfonie. Damit drückte er aus, dass er sich als europäischer und Weltbürger versteht. (2) Der Vater des Londoner Philosophen Kwame Anthony Appiah war ursprünglich Mitglied einer ghanaischen militärischen Familie; seine Mutter war normannischer Abstammung. Er begründet seine Herkunft mütterlicherseits als patrilinear, väterlicherseits als matrilinear. (3) Der libanesische Journalist und Redakteur Amin Maalouf lebt und arbeitet in Frankreich. Mit seinem Buch „Mörderische Identitäten“ zeigt er auf, dass „die Bejahung des Einen immer die Verneinung des Anderen“ bedeutet. (4) Der algerisch-französische Politikwissenschaftler und Soziologe Sami Naïr prangert Kapitalismus und Neokolonialismus an. (5) Die italienische Schriftstellerin Aurora Lassaletta schildert die Entwicklungen von einer durch einen Unfall verursachten Gehirnverletzung zu neuen Identitätsbildungen. Mit dem sechsten Beispiel bringt der Autor sein eigenes Mühen und Hoffen ein. Seine Verletzlichkeiten aufgrund eines Gehirnschlags veranlassen ihn, rational, kognitiv und emotional damit umzugehen und seine Identität (neu) zu finden.
Er reflektiert den wissenschaftlichen“ Prozess der Identitätsbildung“, indem er auf seine Lehrer Paulo Freire und Viktor Frankl verweist und die Entwicklungsstufen der Identifikationen skizziert: „Identität ist kein Ziel, das ein für alle Mal im Leben erreicht werden kann. Vielmehr ist sie dynamisch“. Die eigenen Lebens- und Erfahrungsprozesse, die der Autor in Subjekt-Objekt-Beziehungen setzt mit Denk- und Handlungsempfehlungen und -verweisen, wie sie z.B. der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa mit Hinweisen auf „Resonanz“ und „Unverfügbarkeit“ formuliert und die humane Kultur-Natur-Resonanz bestimmt: „Sein bedeutet Mit-Sein“.
Immer wieder greift der Autor die Erfahrungen beim Coaching und bei der Sozialberatung auf. Es sind Fragen darüber, was Beratung ist; wie sich Beratung von Zumutungen und Befehlen unterscheidet, und wie ein Rat(schlag) dazu führen kann, „dem/der Klient*in zu helfen, die Verantwortung für seine* ihre eigenen gegenwärtigen und/oder zukünftigen Tatsachen, Ereignisse, Werte und Bewertungen zu übernehmen“. Es sind vier Funktionen, die beim Coaching bedeutsam sind: „Sich erholen“, also nicht mit dem pädagogischen oder Droh-Zeigefinger auftreten. „Sich neu orientieren“, also Mut zu haben und Kraft zu entwickeln, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. „Sich erneuern“, Ziele und Vorsätze formulieren. „Sich erkennen“, das Gute und Positive wahrzunehmen. „Über sich selbst lachen, einen neuen Platz einnehmen“, also die Sache ernst, aber nicht fanatisch oder fatalistisch zu betrachten. Mit dem Spruch – „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“ – lässt sich verdeutlichen, dass jeder Mensch in der Lage ist, sein Verhalten zu ändern, also zu lernen.
Coaching ist professionelles Tun. Beratung ist dialogischer Freundschaftsdienst. Wie Coaching ablaufen kann, erläutert der Autor im Epilog mit einem „Bericht über eine doppelte Coaching-Sitzung“. Mit der Protokollierung einer konkreten Beratungssituation zeigt der Autor Möglichkeiten dazu auf. Mit dem Schaubild „DIA-LOGOS“ veranschaulicht er die Optionen, „den Menschen zu helfen, den Zyklus des Lebens in ihren Beziehungen zur Außenwelt so resonant wie möglich zu durchlaufen, Erfahrungen zu integrieren und solche Entscheidungen zu treffen, die die … Dimensionen ihrer konkreten Existenz in dieser Welt berücksichtigen und sie zur (völligen) Entfaltung zu bringen“.
Diskussion
Vom 21. – 22. 11. 1991 fand beim Europäischen Parlament in Straßburg das Symposium „Weltkultur und Europa – ein Dialog der Zivilisationen“ statt: „Wie Gott Janus hat Europa zwei Gesichter, eine doppelte Identität, schwankend zwischen Gut und Böse“ (Enrique Barón Crespo, Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier 7/8-1992, S. 5f). Der Lebensort der Menschen ist die EINE WELT. Die Menschheit bildet individuell und kollektiv, lokal und global eine Einheit. Die Menschenwürde ist unantastbarer, nicht relativierbarer Bestandteil des Lebens (siehe dazu auch: Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/10879.php). Es gilt, erd- und kosmosbewusst zu leben (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php). Eine interdisziplinäre, resiliente Geschichte der Weltbeziehung lässt sich dialogisch erzählen, weil der Mensch ein Leib-, Körper- und Geistwesen ist: (Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25302.php).
Fazit
Fragen zur menschlichen Existenz werden vom Autor aus Selbstbetroffenheit und beruflicher Erfahrung in gut verständlicher Sprache gestellt. So gelingt ein wissenschaftlicher Wurf, der in Theorie und Praxis die Frage aller Fragen – „Wer bin ich?“ – allgemeinverständlich und weit ausgreifend in Fach- und fächerübergreifendes Wissen verwandelt. Es ist ein Buch, das Studierenden und Praktikern der Sozialen Arbeit, der Pädagogik, der Psychologie, der Medizin… zunutze ist!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.11.2024 zu:
Jesus Hernández Aristu: Identität, Resonanz und Sinnkonstruktion in der sozialen Beratung. Lebensorientierung, Supervision, Coaching. Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2024.
ISBN 978-3-86585-335-6.
Reihe: Edition Neuer Diskurs - 35.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32903.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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