Holger Richter: Jenseits der Diagnosen
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 18.11.2024
Holger Richter: Jenseits der Diagnosen. Fallstricke der Psychotherapie. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 266 Seiten. ISBN 978-3-17-044358-7. 39,00 EUR.
Autor
Dr. phil. Holger Richter, 1970 geboren, Vater von vier Söhnen, lebt in Dresden, studierte dort nach der „friedlichen Revolution“ Psychologie, ist leitender Psychologe am St. Marien Krankenhaus, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Seit fast 30 Jahren arbeitet er als Psychotherapeut mit den Schwerpunkten Gruppentherapie und Behandlung von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Holger Richter ist Psychotherapie-Gutachter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sowie Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter (Fachrichtung VT) unter anderem an der Psychologischen Hochschule Berlin, der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie sowie der IAP in Dresden. Inhaltlich steht er Klaus Grawes Konzept einer vor allem empirisch begründeten Allgemeinen Psychotherapie nahe. Richter war Mitglied der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zur Aufarbeitung der Psychologie in der DDR.
Thema
Holger Richter folgt nur scheinbar einem strikten szientistischen Paradigma von Psychotherapie (Grawe); lebensweltlichen und subjektwissenschaftlichen Perspektiven begegnet er zwar eher skeptisch, systemische und psychodynamische Reflexionen sind ihm offensichtlich wichtig. Seinem methoden- und ideologiekritischen Einführungs-Essay folgen unorthodoxe multifokale Fallstudien, die das Konzept Richters illustrieren, die man vielleicht als „Grounded Theory“ (Strauss 1991) lesen kann; jedenfalls nicht als lege artis – Therapien [1] nach einem VT-Manual. In den dargelegten insgesamt 14 Fallstudien plädiert er letztlich dafür, den Einzelfall zu sehen und somit auch eine Therapie für jeden einzelnen Patienten zu entwickeln.
„… Zum Abschluss: Wenn Sie sich selbst eine „Diagnose“ für Ihre Arbeit als Therapeut ausstellen müssten – welche wäre das? Wahrscheinlich „Chronischer Zweifler“. Ich stelle immer wieder die Frage: Was wissen wir eigentlich wirklich? Jede Therapie ist anders, und in diesem Sinne wäre meine „Diagnose“ wohl eher eine Charakterisierung meines ständigen Hinterfragens. Aber mal ehrlich, das Hinterfragen gehört doch zu unserem Beruf dazu, oder? Wie heißt es so schön: Wer nichts mehr hinterfragt, hat aufgehört, wirklich zu verstehen! [2]“
Entstehungshintergrund
Richter konstatiert eine „Erfindung“ immer neuer Diagnosen, deren Kriterien vielfach vor wenigen Jahren noch als „normales“ Erleben und Verhalten gegolten hätten. Das Konzept der Komorbidität suggeriert zudem, es bestünden mehrere Störungen unabhängig nebeneinander. Richter bevorzugt eine horizontale, entwicklungspsychologisch fundierte Gliederung, die Symptome und Syndrome im Licht früher Konflikte und struktureller Defizite versteht. Deren Auswirkungen ragen dann in spätere Entwicklung hinein und beeinflussen diese. Die vorherrschende multiaxiale Diagnostik vermehrt die Zahl der Erkrankungen und obwohl es immer mehr Psychotherapeuten gibt, lässt das Ausmaß des psychischen Elends nicht nach.
Aufbau/Inhalt
Das Buch umfasst nach einer eher essayistischen und im Ton kulturpessimistischen Einleitung (S. 9–39), drei Teile.
Einleitung: Quo vadis, Psychotherapie?
Die problematisierte Missstände sind einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgesellschaft (auch Kapitalismus genannt) inhärent. „Wenige Patienten bekommen ungleich mehr Diagnosen und Therapien als andere, obwohl diese dann gar nicht so erfolgreich sind“ (S 10). Wichtige Phänomene, wie die Ansteckung durch Soziale Medien, die etwa Essstörungen, Genderdysphorie und Hass gegen Andersdenkende befördern, oder die Ausweitung der diagnostischen Grenzen die zur Zunahme von ADHS oder Autismus führen, sind Anzeichen für Fehlentwicklungen, denen letztlich die Gesellschaft entgegentreten muss.
I Diagnosensuche (S. 43–122), eine wissenschaftliche Abhandlung, die gewissermaßen Idealtypen für psychotherapeutische Fallkonstellationen skizziert und vier Kasuistiken „hypothesengenerierend“ untersucht. Gleich der erste Fall „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1951), könnte als Credo für das ganze Buch stehen. Hier ist es eine Frau die ihr Leben verfehlt und stattdesssen eine Krankheitskarriere lebt. Die existenzielle Anomie in unserer Gesellschaft ist keine Krankheitsdiagnose, gleichwohl gehört sie zu vielen Krankheitsbildern.
II Im Ganzen betrachtet (S. 125–232)
10 Fallstudien aus unterschiedlichen Perspektiven, der des Therapeuten, der einer Supervisionsgruppe, aus eher systemischer Sicht auf die Lebenswelt der Patienten, und aus verschiedenen psychodynamischen Perspektiven, z.B. um hartnäckige autoaggressive Impulse oder sogar den fehlenden Erfolg von Behandlungen nachvollziehbar zu machen. Dabei scheitern Patienten (bzw. das Therapeut-Patient-Paar) an unlösbaren (Übertragungs-)Verstrickungen und Therapeuten an ungeeigneten Konzepten, die dem jeweiligen Patienten nicht gerecht werden. Richters Perspektive als Gutachter im System der Richtlinien-Psychotherapie weist ihn psychodynamisch als strengen wissenden „Vater“ aus. In anderer Rolle gesteht er seine Ohnmacht unumwunden ein; bemerkenswert offen schildert er eigene Fälle, die nicht mit der erhofften Beseitigung der Störung enden, euphemistisch auch als Heilung bezeichnet, sondern mit deren Fortschreiten.
Im III., als Finale bezeichneten Abschnitt (S. 243–256) wird wiederum anhand eines Falls („Die schwarze Königin“) die komplexe Gemengelage des Scheiterns didaktisch analysiert. Es wird noch einmal eine Paradigma für seelisches Leiden entwickelt.
Ein Anhang (S. 259–266) mit Literaturverzeichnis und Anmerkungsapparat folgen.
Diskussion
Holger Richters Kasuistiken können, obwohl sie zumindest zu einem Teil konstruiert sind, als realistischer Einblick in die psychotherapeutische Praxis aufgefasst werden. Die Patient-innen haben selten eine klar abgrenzbare Störung, und sie kommen mit unterschiedlichen Erwartungen an die Therapie (von denen manche ihnen selbst nicht zugänglich sind). Richter hinterfragt die gängigen Konzepte und entwickelt eigene Fallkonzepte, die über ICD/DSM hinausgehen. Oft sieht er unbewusste Beziehungswünsche, wie sie etwa im zentralen Beziehungkonfliktthema [3] von Lester Luborsky konzeptualisiert wurden. Richters Denken erinnert mich an ein psychodynamisches Verständnis von Verhaltenstherapie. Selbst Konzepte wie projektive Identifizierung bekommen Raum, wenn etwa ein Therapeut sich sehenden Auges in seine Patientin verliebt und ihr nicht widerstehen kann, obwohl ihm der Regelbruch vollkommen bewusst ist – oder in einem anderen Fall, als eine Krankenschwester eine schwer gestörte Klinikpatientin mit nach Hause nimmt um sie zu „bemuttern“. Das es Konzepte gibt, mit denen man Richters strukturell beeinträchtigte Patienten erfolgreich behandeln könnte, etwa die übertragungsfokussierte Therapie nach Kernberg oder die mentalisierungsbasierte Therapie nach Fonagy et al. ist ihm sicher geläufig, aber die Benutzung von Übertragung und Gegenübertragung als eine Hauptstrategie in der Behandlung erfordert tatsächlich größere Behandlungskontingente, eine Behandlungszeit von weniger als einem Jahr bei zwei Wochenstunden Therapie ist kaum nachhaltig. So können wir mit kürzeren systemischen oder kognitiven aber auch mit psychodynamischen Behandlungen akute Störungen, auch aus dem Traumabereich, erfolgreich behandeln. Lebensgeschichtliches (kumulatives)Trauma oder emotionale Vernachlässigung bzw. Manipulation wie sie zum psychischem Missbrauch gehört, benötigt oft Jahre um bewältigt zu werden [4].
Der von Richter auch beschriebene Lebensstil, zu dem Psychotherapie nicht als Behandlung einer seelischen Erkrankung, sondern zur Optimierung der Lebensqualität gehört, ist zumindest bei Jugendlichen, mit denen ich überwiegend arbeite, nicht anzutreffen.
Fazit
Richter gibt uns Einblick in die Arbeit eines sozial engagierten Psychotherapeuten. Die Texte sind vor allen für Psychotherapiestudierende und Ausbildungskandidat-innen eine packende Lektüre. Wie bei jedem ernsthaften Wissenschaftler stellen sich mehr Fragen, als Antworten gegeben werden. Richter geht keinem gesellschaftlichem Tabu aus dem Weg.
Literaturverzeichnis
Theodor W. Adorno (dt. Erstausg.1951,1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (in: Gesammelte Schriften. Band 4, S. 43ff), Frankfurt am Main: Suhrkamp
Faber/Haarstrick(2020): Kommentar zur Psychotherapie-Richtlinie, hg. von Michael Diekmann, Manuel Becker und Martin Neher, München/Jena: Urban & Fischer
Peter Fonagy/Tobias Nolte (2023): Epistemisches Vertrauen. Vom Konzept zur Anwendung in Psychotherapie und psychosozialen Arbeitsfeldern, Stuttgart: Klett-Cotta
Klaus Grave, Ruth Donati, Friederike Bernauer (Hg., 1994): Psychotherapie im Wandel – von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe
Klaus Grawe (1998): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe, 2., korrigierte Auflage 2000 Die
Otto F. Kernberg (1998): Neue Entwicklungen und Kontroversen in der Psychoanalytischen Behandlungstechnik in: Irmhild Kohte-Meyer: Über die Schwierigkeit, die eigene Geschichte zu schreiben, Tübingen: Edition diskord
Lester Luborsky & Paul Crits-Christoph (1998): Understanding Transference: The Core Conflictual Relationship Theme Method, APA Books
Christiane Oelze (2012): Bestimmung Zentraler Beziehungskonfliktthemen (nach Luborsky) bei Patienten mit generalisierter Angststörung Vergleich der Qualität unterschiedlicher Auswertungs-methoden und Therapieverfahren, Diss. Medizinischen Fakultät der Universität zu Göttingen
Holger Richter (2001):Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
Frankfurt/M.: Mabuse-Verlag, 5. Auflage 2020.
Holger Richter (1991): Güllenbuch. Ein Buch über Bausoldaten, Leipzig; Forum-Verlag. Neuauflage: Anderbeck Verlag 2004.
Anselm L. Strauss (1991): Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theorie-bildung in der empirischen und soziologischen Forschung (Übergänge. Bd. 10), München: Fink
Yeomans, F.E., J. F. Clarkin; O.F. Kernberg (2017): Übertragungsfokussierte Psychotherapie für Borderline-Patienten. Übersetzt von E. Vorspohl, Stuttgart: Schattauer
[1] Dabei hat doch gerade Klaus Grawes Empirismus, die durch quantitativen Studien belegte Wirksamkeit des jeweiligen Psychotherapeutischen Behandlungsverfahrens zum Goldstandard erklärt
[2] Aus einem Interview mit dem Kohlhammer Verlag
[3] Diese sogenannten Narrative weisen typische Erkennungsmerkmale auf. Während Patienten Begegnungen mit anderen Menschen schildern, tauchen darin implizit und explizitgeäußerte Wünsche (W) auf, welche sie an ihr Gegenüber richten. Es folgen Reaktionen des Gegenübers auf diese Wünsche (Reaktion des Objekts, RO) und schließlich die Reaktionen des Patienten auf die Reaktionen des Gegenübers (Reaktion des Subjekts, RS) Oelze 2012 S. 2
[4] Die von der Politik favorisierte Ultrakurzbehandlungen (Für die ersten 10 Behandlungsstunden wird ein beträchtlicher Honorarzuschlag bezahlt), fördert zwar die Verfügbarkeit von Therapieplätzen, vertieft aber die Ungerechtigkeit für schwer gestörte Patienten.
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 18.11.2024 zu:
Holger Richter: Jenseits der Diagnosen. Fallstricke der Psychotherapie. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-17-044358-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32904.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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