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Achim Votsmeier-Röhr, Rosemarie Wulf: Gestalttherapie

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 09.12.2024

Cover Achim Votsmeier-Röhr, Rosemarie Wulf: Gestalttherapie ISBN 978-3-497-03292-1

Achim Votsmeier-Röhr, Rosemarie Wulf: Gestalttherapie. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2024. 2., überarbeitete Auflage. 250 Seiten. ISBN 978-3-497-03292-1. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: Wege der Psychotherapie.

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Thema

Unter dem Eindruck der Erkenntnisfortschritte im Bereich der Psychotherapie halten die Verfasser eine Weiterentwicklung auch der Gestalttherapie für notwendig. Dabei geht es ihnen v.a. um die Klärung der Kompatibilität therapeutischer Techniken mit den zugrundeliegenden Vorannahmen des Therapieverfahrens, im Falle des von ihnen vertretenen Ansatzes mit seinen feldtheoretischen, phänomenologischen und dialogischen Grundorientierungen, und daraus folgend u.a. die Konzeption von Anpassung und Anpassungsstörungen und Veränderungsstrategien im gestaltherapeutischen Prozess.

Autoren

Achim Votsmeier-Röhr ist Psychologischer Psychotherapeut (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; Verhaltenstherapie) mit Zusatzausbildungen in Gestalttherapie ( DVG Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie e.V.) und Schematherapie (ISST International Society of Schema Therapy).

Rosemarie Wulf ist Gestalttherapeutin, Lehrtherapeutin am Gestaltinstitut Hamburg (GHI) und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Gestalttherapie.

Entstehungshintergrund

Es handelt es sich um eine Überarbeitung und Ergänzung der – 2017 erstmalig erschienenen – Erstauflage.

Aufbau und Inhalt

Das Buch enthält 6 Kapitel sowie ein Literaturverzeichnis, ein Sach- und ein Personenregister.

Das erste Kapitel (1 Einführung) beginnt mit Aussagen zu erkenntnistheoretischen Grundlagen der von den Verfassern vertretenen Version der Gestalttherapie; dabei wird der Bezug zur dialogischen Beziehungsphilosophie von Martin Buber betont.

Das gestalttherapeutische Störungsverständnis beruht auf der Grundlage eines erweiterten Kontaktzyklus-Modells (mit Vor-, Voll- und Nachkontaktphase); vorgestellte Störungsbilder werden wie folgt konzipiert (S. 12):

  • das unbefriedigte ursprüngliche Bedürfnis;
  • die Kontaktunterbrechung aufgrund der Frustration oder Erschütterung;
  • die unerledigte Gestalt, repräsentiert in einem dysfunktionalen Schema;
  • die fixierte Anpassung als Bewältigungsversuch und Blockierung;
  • die Symptome als Ausdruck der fixierten Anpassung oder deren Dekompensation.

Angesichts der Bedeutung, die der (im 5. Kapitel behandelten) Evaluation­ des gestalttherapeutischen Ansatzes für die Approbation nach dem Psychotherapeutengesetz [1] und damit für die Anerkennung als abrechnungsfähiges Verfahren zukommt, erscheint die Stellungnahme der Autoren sehr zurückhaltend.

Anschließend (Kap. 2 Geschichte) wird die zeit- und ideengeschichtliche Entwicklung mit den grundlegenden Quellen der Gestalttherapie nachgezeichnet: Gestaltpsychologie mit der Feldtheorie Kurt Lewins, Phänomenologie und Existenzphilosophie sowie Psychoanalyse.

Im 3. Kapitel (3 Theorie) werden zunächst die erkenntnistheoretischen Grundlagen aufgegriffen und vertieft, die Organismus-Umwelt-Beziehung und die interpersonellen Beziehungen der Person und zusammenfassend das vollständige Kontaktzyklus-Modell behandelt. Ausgehend von der Auffassung, dass neurotische Störungen „aus der Unfähigkeit des Individuums, die richtige Balance zwischen sich und der übrigen Welt zu finden und aufrechtzuerhalten“ resultieren (Perls, zit. nach Votsmeier-Röhr und Wulf, S. 93), werden Störungen als Resultat der Aktivierung eines dysfunktionalen Schemas (S. 92) verstanden und in den Abschnitten zu allgemeiner und spezieller Störungslehre weiter erläutert. Anhand wichtiger Störungsbilder wird diese Auffassung konkretisiert: Depression, Angst- und Zwangsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Borderline-Störungen, narzisstische und somatoforme Störungen, Abhängigkeits- und Essstörungen werden beispielhaft erläutert.

Zu Beginn des Kapitels Der Therapeutische Prozess (4) findet sich das von Fritz Perls [2], formulierte paradoxe Prinzip der Veränderung: Solange man ein Symptom bekämpft, wird es schlimmer. Diese Grundidee von der Kontraproduktivität des Umgehens oder Brechens dysfunktionaler Anpassungen wird von Votsmeier-Röhr und Wulf als Behandlungsansätze in den im 1. Kapitel skizzierten Kontaktphasen konkretisiert. Die Merkmale der therapeutischen Beziehung und der Umgang mit Störungen dieser Beziehung werden behandelt, bevor dann therapeutische Interventionen geschildert werden.

Nach kurzen Bemerkungen über den Stand der Therapieforschung geht es um die Wirksamkeitsforschungen zur Gestalttherapie (5 Evaluation). Die Autoren heben hervor, dass „die Wirksamkeit der Therapie nicht vom Set der Interventionen oder von dem Verfahren abhängt, sondern von der Beziehung, der Begegnung und der Gestaltung des interaktiven Prozesses“ (S. 219). Zusammenfassend (Kapitel 6) konstatieren sie Wirksamkeit insbesondere bei affektiven Störungen, im Bereich der interpersonalen Beziehungen, der Selbstbewertung und auch der klinischen Anwendung bei schweren Störungen wie der Traumatherapie.

Diskussion

Votsmeier-Röhr; und Wulf bieten einen übersichtlich strukturierten Einblick in die Grundlagen und Verfahrensweisen der Gestalttherapie. Hervorzuheben ist die – oftmals vernachlässigte – Darlegung der anthropologischen Grundlagen. Was mir fehlt, ist ein Blick auf die angesichts der aktuellen Migrationsbewegungen höchst aktuelle kulturelle Diversität, die nicht nur gesellschaftliche Konflikthaftigkeit hervorruft, sondern auch eine Reflexion der in der Psychotherapie vorgenommenen kulturell bestimmten Realitätsdeutungen erfordert. Das gilt zum Beispiel für die Konzepte von Gesundheit und Krankheit und damit den Störungsbegriff, für die Gestaltung von sozialen Beziehungen, Kommunikationsformen usw. [3], ganz besonders für ein Verfahren, das so grundlegend auf zwischenpersönlichen Kontaktprozessen ruht.

Fazit

Es handelt sich um einen gut rezipierbaren Einblick in die Grundlagen und Verfahren der Gestalttherapie, der allerdings einer Ergänzung um die Bedeutung kultureller Unterschiede für Realitätsdeutung und Realitätsgestaltung in der Psychotherapie bedarf.


[1] Der für die Empfehlung zur Zulassung zuständige wissenschaftliche Beirat Psychotherapie erkennt in seinem Gutachten von Juni 2018 die Wissenschaftlichkeit der Gestalttherapie nur für den Bereich der affektiven Störungen bei Erwachsenen, nicht für weitere Störungsbereiche und lehnt die Anerkennung als Verfahren für die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten bz. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ab.

[2] der – zusammen mit seiner Frau Laura – als Begründer der Gestalttherapie gilt

[3] Vgl. z.B. Rechtien, W. (2014). Kulturelle Diversität und Realitätsdeutungen – Zur Reichweite von Beratungskonzeptionen. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 21, S. 329-341.

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
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Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Rechtien.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 09.12.2024 zu: Achim Votsmeier-Röhr, Rosemarie Wulf: Gestalttherapie. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2024. 2., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-497-03292-1. Reihe: Wege der Psychotherapie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32905.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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