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Helmut Luft: Jenseits von 90

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.06.2025

Cover Helmut Luft: Jenseits von 90 ISBN 978-3-95558-389-7

Helmut Luft: Jenseits von 90. Das Versagen des Körpers und die Reifung der Person im hohen Alter. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2025. 148 Seiten. ISBN 978-3-95558-389-7. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.

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Wissenschaftliche Altersforschung

Die biblische Weisssagung – „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon“ (Psalm 90) – ist Makulatur. Die gesundheitlichen, medizinischen Entwicklungen haben längst bewirkt, dass immer mehr Menschen das Greisenalter erreichen: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ (Jonas Jonasson). Wenn sich kein Unfall oder Krankheit ereignen, kann es gelingen, dass die Menschen heute 100-Jährig und älter werden. Der anthropologische Fakt, dass menschliches Leben zwar endlich ist, jedoch das Lebensalter – wenn es gut läuft – sich verlängert, gehört zu den medizinischen und anthropologischen Errungenschaften.

Entstehungshintergrund und Autor

„Unser Leben währet 100 Jahr“ und länger, das ist die heutige Devise. Und wenn Körper und Geist mitmachen, ist das Leben schön und erfolgreich: „Mit 120 gesund sterben“, das sind Wünsche und Hoffnungen, die heute weltweit immer mehr Menschen erreichen. Der 1924 geborene Psychoanalytiker, Helmut Luft, arbeitet im Kasseler Arbeitskreis „Psychoanalyse und Altern“ mit. Mit seinen mehr als hundert Jahren genießt er sein Leben: „Ich genieße es, dass meine Zeit mir gehört“; und mit Hölderlin kann er sprechen: „Friedlich und heiter ist dann das Alter“. Es ist ganzheitliches, unabhängiges Denken und Tun: „Ich weiß, wer ich bin“. Es ist die Einsicht und das Bewusstsein, dass der Mensch ein „verletzbares (endliches) Lebewesen“ ist (Angela Janssen). Auch der Umgang mit Wissen und Information, mit Wahrheit und Zweifel, relativiert sich im Alter. Ordnungssysteme und Wirklichkeiten bilden Halteseile und Anker (siehe z.B. auch: Ina Schmidt, Über die Vergänglichkeit im Alter. Eine Philosophie des Abschieds, 2019; Martin Straats, Hrsg., Resilienz im Alter, 2022). Helmut Luft bezieht sich in seinem Essay auf Sigmund Freud (1856 – 1939), indem er seine Lebens- und Todestriebe miteinander in Einklang bringen will.

Aufbau und Inhalt

Es sind 14 Kapitel, in denen er seine eigenen Lebenserfahrungen mit der Tatsache des endlichen Lebens verbinden will:

  • „Schwäche, Behinderung, Vitalitätsverlust jenseits von 90“
  • „Der Kulturmensch und seine natürlichen Vorstufen aus ganzheitlicher Sicht“ 
  • „Die grauen Zellen und das Stirnhirn: Der Durchbruch zum Menschen“ 
  • „Fehlleistungen jenseits von 90“ – „Rückzug in Haus und Heim: Daheim sein“ 
  • „Schlafen und Wachen: Erholung und Neugeburt“
  • „Beziehungsschicksale Jenseits von 90: Vereinsamt und verbittert. Ein Altenbild“
  • „Die Höhenwanderung“ – „Altersmilde und Alterszorn: Der Umgang mit Affekten“
  • „Realität und Phantasie im Alter“
  • „Träume jenseits von 90“
  • „Erfahrungen hochaltriger Psychoanalytiker“
  • „Menschen jenseits von 90“ – „In einer anderen Welt“.

Es sind die alltäglichen, körperlichen Imponderabilien, die als Unpässlichkeiten und Schmerzen zutage treten, die ein Stopp setzen bei Tätigkeiten, die man als junger Mensch lustvoll und aktiv bewältigt hat: „Jenseits von 90 muss man sich sein Leben nach dem Spielraum, den der Körper einem noch lässt, einrichten“. Es ist der Stock als „drittes Bein“; und es ist die Bewegung, die Gleichklang und Veränderung schaffen. Wenn im Alter die Vergesslichkeit zunimmt, ist es wichtig, scheinbar Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und gelassen zu bleiben: Ist das vom heutigen Zeitgeist der radikalen Aufklärung gebotene Ausdiskutieren von Konflikten der bessere beziehungsstabilisierende und reifungsfördernde Weg? „Eine gewisse Altersschwäche und Vergesslichkeit sind alltäglich und normal“. Zuhause sein kann Wohlbefunden bewirken, aber auch ein Verkriechen in eine Höhle (Hölle) sein. Das Zeiterleben verändert sich im Alter: „Jenseits der 90 ist das Ruhe- und Erholungsbedürfnis so vordringlich geworden, dass es besser ist, zu seinem natürlichen Rhythmus zurückzukehren“. Der anthrôpos ist ein Lebewesen, das auf Gemeinschaft (Aristoteles) angewiesen ist. Es ist die Lebenskunst, auch im Alter Freundschaften einzugehen und zu pflegen, wie auch allein sein zu können. „‘Stirb und Werde‘ ist der ewige Kreislauf alles Lebendigen“ – mit Eros und Thantalos entsteht, im Freud’schen Sinne, ein „drittes Prinzip des Menschseins“. Affekte und Emotionen, als Körpersignale, bewirken, dass im Alter Zufriedenheits- und Glücksmomente zunehmen, aber auch ausgeschaltet werden könne. Es kommt darauf an, Fantasie und Kreativität zu erhalten. Anpassung und Widerstand sind Sinneswerkzeuge, die es zu pflegen gilt. „Träume sind Schäume“, oder „Träume sind eine persönliche Tagesschau“? – Traumerleben und Traumdeuten im Alter kann Lebensrückschau und Verjüngungskur sein: „Man erliegt der äußeren Schwerkraft, aber überwindet die innere“. Und, um mit Margaret Mitscherlich zu sprechen: „Lebendig bleiben nur solche Menschen, die die Lust an neuen Erkenntnissen auch über sich selbst höher bewerten als die Anerkennung von außen“.

Diskussion

Helmut Lufts Studie ist außergewöhnlich, weil ehrlich! Sie ist Lebensbericht und Vision! Es sind individuelle und kollektive, körperliche und geistige Reflexionen über das Altern. Sie sind geeignet, Lebensmut und –kraft zu vermitteln. Und sie zeigen auf, wie Menschen alt werden können: „Unsere wahre, ehrliche und eigentliche Identität finden“ – „Eine Person aus uns machen, die man anerkennen und gern haben kann“ – „Uns weniger wie ein instinktgetriebener Steinzeitmensch mit Faustrecht ( ), sondern wie ein besonnener, vernünftiger, Ausgleich suchender, friedfertiger Mensch (benehmen)“ – „Die Summe unserer Erfahrungen weitergeben, sodass auch andere die Anregungen verwenden können“. Seine Aussage: „Meine Zeit gehört mir“, ist ein Glücksausdruck, der nicht Jedem zukommt, aus Not, Unverständnis, Unfähigkeit… Sein Rat, im Alter „Wahlverwandtschaften“ zu suchen, und die Erfahrung, jenseits von 90 in einer anderen Welt zu leben, bedeutet ja nicht, der „Höhlenspiegelung“ zu unterliegen und sich abzusetzen von den menschlichen Gesellschaften; vielmehr bedarf es der Erkenntnis: „Alles hat seine Zeit“. Sie menschenwürdig und gerecht zu leben ist Anspruch und Glück!

Fazit

Weil 90- und 100-jährig nicht mehr Ausnahme, und „Fitness über 90“ nicht nur Werbeslogan ist, lohnt es sich darüber nachzudenken, was uns Menschen im hohen Alter erwartet. Ganze Büchereien sind über das Altwerden der Menschen geschrieben worden. Helmut Luft benutzt die wissenschaftliche Altersforschung und die psychoanalytische Forschung, um den üblichen, angst- oder wunschverzerrten Fantasien, Klischees und Vorurteilen über Alte zu entgehen. Ein Buch, das nicht nur Alte und Altgewordene zur Hand nehmen sollten, sondern auch Junge, die alt werden!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1710 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245