Christina Hansen, Kathrin Plank (Hrsg.): Im Zwiegespräch mit Janusz Korczak
Rezensiert von Prof. Dr. a. D. Irmgard Schroll-Decker, 03.12.2024
Christina Hansen, Kathrin Plank (Hrsg.): Im Zwiegespräch mit Janusz Korczak. Was wir im Europa des 21. Jahrhunderts vom „Weltenwanderer, Tabubrecher und Kräftezähmer“ lernen können.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2024.
104 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1671-2.
D: 18,90 EUR,
A: 19,50 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Entstehungshintergrund und Thema
Die Inhalte des Bandes sind das Ergebnis eines einjährigen Lehrprojekts, das anlässlich des 80. Todesjahres (1942) von Janusz Korczak (geb. als Henryk Goldszmit) von der Universität Passau initiiert wurde. Wissenschaftler:innen und Studierende verschiedener Disziplinen aus den Universitäten Warschau und Passau haben sich mit Leben und Werk des polnisch-jüdischen Arztes (und Pädagogen) vorbereitend beschäftigt und sich auf eine Exkursion zu den in diesem Kontext bedeutsamen Orten begeben und ihre Eindrücke geteilt. Den Abschluss bildete ein zweitägiges Symposium an der Universität Passau, bei dem Ergebnisse dieser fach- und grenzüberschreitenden Lehrveranstaltung präsentiert und „die Anschlussfähigkeit wesentlicher pädagogischer Ideen“ (S. 7) für demokratische Gesellschaften des 21. Jahrhunderts im Allgemeinen und für die Professionalisierung der Lehrer:innenbildung im Besonderen adressiert wurde.
Herausgeberinnen
Prof. Dr. Christina Hansen ist Inhaberin des Lehrstuhls für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Diversitätsforschung und Bildungsräume der Mittleren Kindheit an der sozial- und bildungswissenschaftlichen Fakultät und Vizepräsidentin für Internationales und Diversity der Universität Passau. Dr. Kathrin Plank ist akademische Rätin am o.g. Lehrstuhl.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst sechs Beiträge mit einer jeweils eigenständigen Schwerpunktsetzung und ein Verzeichnis der Autor:innen (S. 101–102).
Christina Hansen und Kathrin Eveline Plank leiten in ihrem Beitrag Auf den Spuren Korczaks und darüber hinaus. Von gegenwärtigen Suchbewegungen nach vergessenen Impulsen (S. 5–10) in die Beweggründe für das Aufgreifen dessen „literarischen wie pädagogischen Schaffens“ (S. 6) ein. Korczaks Werk ist kein in sich geschlossenes Theoriegebäude, bietet aber viele Impulse einer reflektierten Praxis und setzt konsequent auf den gleichberechtigten Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Beschäftigung mit der Biografie und dem Waisenhaus machten den Wissenschaftler:innen und den Studierenden verschiedener Disziplinen aus den Universitäten Warschau und Passau deutlich, dass hinter Korczak ein starkes Team stand, deren Aufgaben und Leistungen teilweise noch nicht erschlossen ist. In der Vorbereitung stand die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk von Janusz Korczak unter den historischen Rahmenbedingungen sowie mögliche Impulse für die Herausforderungen von demokratischen Gesellschaften von heute im Vordergrund. Dass während des Besuchs gerade vor dem Waisenhaus Dom Sierot in der Jaktorowska-Straße 6 (ehemals Krochmalna-Straße) Betten für aus der Ukraine geflohene Kinder aufgestellt wurden, hat einen tiefen Eindruck über die aktuellen Gefährdungen hinterlassen. Aus der interdisziplinären Zusammensetzung der Wissenschaftler:innen und der Studierenden ergab sich eine Perspektivenvielfalt, die sich sowohl an den historischen Orten (u.a. in Treblinka, Mahnmal am Umschlagplatz, POLIN-Museum, Korczakianum u.a.m.) als auch in der nachbereitenden Aufarbeitung in der Konferenz als bereichernd erwies.
Prof. Dr. Agnieszka Maluga, Vorsitzende der Deutschen Korczak-Gesellschaft e.V. und Inhaberin der Professur für das Lehrgebiet „Bildung, Erziehung, Betreuung und Prävention in der Kindheit“ an der Hochschule Koblenz berichtet in ihrer Verschriftlichung von zwei Vorträgen mit dem Titel Tabubrecher und Kräftezähmer: Janusz Korczaks Pädagogik als Zumutung? (S. 11–26) darüber, welchen „eigenen Korczak“ sie auf ihrer Spurensuche gefunden habe. Ihre Einblicke fasst sie zu den folgenden drei Facetten zusammen: 1) Korczak begegnet als „Weltenwanderer“ Krankheit und Begrenztheit inmitten des gesamten Lebens. Entsprechend sieht er keine Veranlassung, die Kinder nicht damit zu konfrontieren, sie spüren zu lassen, wie sie an der Versorgung teilhaben können, aber wie er auch mit dem „Recht des Kindes auf den Tod“ (S. 13f) die Zeitgenoss:innen und die Pädagogik herausfordert. 2) Das Kind als „menschlicher Mensch“ empfindet selbst jegliche Form von (positiven wie negativen) Emotionen (Liebe, Tod, Begierde, Zorn usw.). Korczak fordert, diese Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern ihnen konsequent zu begegnen und über sie aufzuklären, und bricht damit bis dahin geltende Tabus. 3) Den durch den Tabubruch freigesetzten Kräften (wie z.B. Ängste und Sorgen der Kinder) begegnet Korczak poetisch-erzählerisch, indem er auf Märchen setzt, solche erzählt, schreibt und so die existenziellen Themen des Lebens literarisch aufarbeitet. Für Maluga stellt Korczaks Pädagogik keine Zumutung dar, sondern sie sieht in ihr „die Antwort auf die Herausforderungen des Lebens“ (S. 24).
Prof. Dr. Ulrich Bartosch, Pädagogik-Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, HRK-Vizepräsident für Lehre, Studium und Lehrkräftebildung sowie Präsident der Universität Passau, ausgewiesener Korczak-Kenner und Ideengeber für das Lehrprojekt, greift in seinem weitgehend in der ursprünglichen Redeform (adressiert an das Publikum des Symposiums) gelassenen Beitrag „Hallo alter Doktor! Was geht?“ Korczak – Beobachtungen im Horizont unserer Gegenwart (S. 27–41) acht Facetten heraus, die eine Beschäftigung mit der „konstitutionellen“ Pädagogik legitimieren: Deutsche Wissenschaftler:innen zeigen Verantwortung, indem sie den verbliebenen Spuren Korczaks und jüdischer Lebenswelt in Warschau folgen und sich gegen das Vergessen stemmen. Ein rechtlicher Rahmen regelt die Bahnen für den kultivierten Streit, erlaubt Verzeihen und verleiht infolge der gegenseitigen Achtung Würde. Das Gespräch ist – wie im Titel angedeutet – für den Verfasser das methodisch passende Vorgehen, sich auf Augenhöhe mit dem lange Zeit im deutschen Sprachraum verkannten Pädagogen zu nähern. Ein Kind ist für Korczak ein Mensch und darin dem Erwachsenen gleichgestellt und zwar schon vor einer erzieherischen Einwirkung. In dieser zeitgeschichtlich radikalen Aussage sind die Kinderrechte enthalten und begründet. Im Nicht-Wissen einer verbindlichen Aussage zur Erziehung liegt die Aufforderung begründet, in Achtung vor dem Kind Lösungen zu finden. Eine in Form von „Institutionen“ (u.a. Parlament, Kindergericht) verankerte Kommunikation, die in altersgerechter Weise Partizipation ermöglicht, sichert ein demokratisches Zusammenleben und eine politische Willensbildung. Die rechtliche Verfasstheit der Gleichheit aller wird zum Schutz vor Machtmissbrauch in der Konstitution festgehalten. In der Magna Charta Libertatis sind die Rechte des Kindes mit aller Konsequenz verbrieft.
Prof. Dr. Adam Fijałkowski, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Warschau und Leiter des Lehrstuhls für Geschichte und Philosophie der Erziehung, legt im Aufsatz „Auf Augenhöhe des Kindes. Comenius und Korczak – pädagogisches Verständnis über die Grenzen der Zeit hinaus“ (S. 43–61) dar, was der Anspruch, aus der Sicht des Kindes auf die Welt zu blicken und nicht vordergründig auf die Erziehungsziele der Erwachsenen abzuzielen, in der jeweiligen Zeit beinhaltete. Jan Amos Comenius (1592-1670) erlebte während seines Deutschlandaufenthalts das Erscheinen von Lehrbüchern zur Didaktik. In seinem bekanntesten Lehrbuch „Orbis sensualium pictus“ leitete er die Didaktik (und das Prinzip der Anschauung) aus der Natur ab und forderte eine Erziehung nach der „Natur des Kindes“ im damaligen Verständnis unter Einschluss des Lernens aus Büchern in Einklang mit dem Willen Gottes. Janusz Korczak (1978/79-1942) verstand sich aufgrund des Kontakts mit internationalen Studien, die sich mit der Entwicklung von Kindern beschäftigten, als Pädologe und gründete seine eigenen Schriften auf seine Beobachtungen in der Praxis. In bewusster Abkehr zur Herbartschen Pädagogik sah er das Kind als einen Menschen, „der das Recht hat so zu sein, wie er ist“ (S. 5). Ausgehend von seinen Annahmen, dass ein Kind Unterstützung durch die Eltern, aber keine starre Führung brauche, entwickelte er sein Konzept einer selbstverwalteten Gemeinschaft mit diversen Institutionen und Gremien und legte seine theoretische Auffassung in seinen Büchern nieder. Fijałkowski zufolge lehrt die Befassung mit den zwei Vertretern des pädagogischen Naturalismus, wie sich erzieherische Praxis (z.B. in der Schule mit Bezug zu Comenius) und ein konsequentes (radikales) Plädoyer für die Rechte von Kindern (außerhalb von Schule bei Korczak) im Eintreten auf Augenhöhe ergänzen.
Der englischsprachige Beitrag von Wojciech Lasota: „The People of the Good Will“. The Bursaries of the Orphans' Home and Their Notebooks (S. 63–80) gibt Einblick in ausgewählte Tagebucheinträge von Stipendiat:innen (Bursaries), die im Waisenhaus wohnten und eine Art informelle pädagogische Ausbildung erhielten, die er als Doktorand an der Doctoral School of Social sciences an der Universität Warschau und Vorsitzender der Korczak-Stiftung in Polen analysiert. Anhand von drei Personen mit je spezifischen Biografien, die unterschiedlich lange im Waisenhaus praktizierten, zeigt er auf, welche Pflichten sie innerhalb und außerhalb des Waisenhauses zu erfüllen hatten. Bisher kaum rezipiert und erforscht, da nicht aus dem Polnischen übersetzt, sind die Kommentare der pädagogischen Leiterin Stefania Wilczyńska zu den Reflexionen der Einträge der Stipendiat:innen. Lasota zitiert einige Beobachtungen und Überlegungen der Geförderten aus ihren Tagebüchern sowie ausgewählte Bemerkungen von Wilczyńska, die ihre Haltung zur Förderung des Erfahrungslernens und eigener Entscheidungen im gegebenen Rahmen zu erkennen geben. Dem Autor gelingen neue Einsichten in das System der Stipendien, das nur zu den Anwesenheitszeiten von Wilczyńska existierte, den Blick auf das soziale System im und um das Waisenhaus erweitert. Schließlich widmet er sich der Frage nach dem, was es auf dem Weg zu einer guten Pädagogin oder einem guten Pädagogen braucht – eine Frage von übergreifender Relevanz.
Korczak, ein Held seiner Zeit! Korczak, ein Held unserer Zeit? Ergebnisse einer internationalen Studierendenbegegnung (S. 81–99)
Im ersten Kapitel beschreiben Teilnehmer:innen der Universität Passau zentrale Lernorte, die mit Janusz Korczak in Warschau und der Umgebung zu tun haben. Andreas Trembaczowski, Student der Historischen Wissenschaften, berichtet über die Situation in Warschau unter deutscher Besatzung (1939-1942). Michael Bartl, Student der Historischen Wissenschaft und des Lehramts an Gymnasien fasst Eindrücke aus der Gedenkstätte ehemaliges Vernichtungslager Treblinka zusammen. Johanna Kress, Absolventin und Lehramtsanwärterin an einer Grundschule, vermittelt die Ergriffenheit vom POLIN Museum, das 1000 Jahre jüdischen Lebens in Polen ausschnitthaft präsentiert. Jessica Hasreiter und Lara Gibis, Absolventin bzw. Studentin des Lehramts an Grundschulen, geben ihre Gedanken wieder, die ihnen während und nach dem Besuch des Korczakianums (am Standort des Dom Sierot vor der Zwangsumsiedlung ins Ghetto) in den Sinn kamen.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit pädagogischen Anknüpfungspunkten: Anneli Brell, Studentin des Lehramts an Grundschulen, thematisiert u.a. die Verbindung von Partizipationsstrukturen in großen Gemeinschaften von Kindern als Teil demokratischer Bildung sowie die Reflexion berufsbezogener Überzeugungen von Lehrkräften. Die Kommilitonin Corinna Schindler beschäftigt sich zum einen mit der Bedeutung der Selbsterziehung der Kinder, um sich basierend auf ihren Rechten in die Gemeinschaft integrieren zu können und zum anderen mit der umfangreichen Selbstverwaltung, die von den Kindern in der Absicht des Erwerbs entsprechender Kompetenzen für eine demokratische Gemeinschaft vonnöten sind. Lena Kujawski, Absolventin und Lehrassistentin an der Universität Uppsala, zeigt basierend auf Studien Möglichkeiten auf, wie bereits Kinder und junge Lernende anhand von didaktisierten Biografien sowie Kinder- oder Bilderbüchern Wissen zum Nationalsozialismus und Holocaust begleitet erwerben können. Über die Auseinandersetzung mit dem Kunstprojekt von Marlis Glaser „In Erinnerung an Janusz Korczak und seine 200 jüdischen Waisenkinder“ und ein Interview mit Prof. Dr. Barbara Lutz-Sterzenbach (Kunstpädagogik und Visual Literacy an der Universität Passau) berichtet Irem Erkal, Studentin des Lehramts Grundschule.
Diskussion
Das Buch erscheint just zu einer Zeit, in der die Kombination von hochschulischen und außerhochschulischen Lernorten wieder thematisiert wird, insbesondere auch vor den unendlichen Weiten virtueller Lehr- und Lernoptionen. Anlassbezogen präsentiert es, wie es primär im Studium von angehenden Pädagog:innen gelingen kann, disziplinübergreifend und exemplarisch einen Klassiker der Pädagogik im historischen Kontext zu erfassen, zu verstehen und die Auseinandersetzung in ihrer Bedeutung in die Erziehung von heute zu transferieren und zu erkennen, wie anschlussfähig und aktuell die originären Werke sind – angesichts des aktuellen politischen Geschehens – wieder werden. Beeindruckend ist vor allem, wie es in diesem Lehrprojekt gelungen ist, mit der Exkursion an die Schauplätze der Geschichte Bewusstsein dafür zu schaffen, dass hinter einer so befähigten Leitfigur wie Janusz Korczak viele weitere Personen standen und ein Umfeld vorhanden war (z.B. Bursa), die eine Institution wie diese erst ermöglicht haben. Dazu gehört, dass Zweifel und Versagen, eigene Unzulänglichkeiten und Nicht-Wissen der Hauptfiguren thematisiert werden und einer Glorifizierung heldenhaften Tuns zuvorgekommen wird. Gerade hier ergeben sich die Schnittstellen zur Auseinandersetzung mit Fragen von berufsbezogener Überzeugung und Haltung, die Studierende und Absolvent:innen angesichts der Herausforderungen gegenwärtiger schulischer Realitäten bewegen. Insofern beinhaltet das Lehrprojekt viel mehr als eine nachhaltige Wissensvermittlung, weil es die Teilnehmenden auf dem Weg der Professionalisierung begleitet. Angesichts der studienstrukturellen Gegebenheiten stellt das Lehrprojekt eine Ausnahmeform des Lehrens und Lernens dar, die von den Beteiligten ein Mehr an Flexibilität abverlangt, zugleich aber erkennen lässt, dass solche Experimente möglich, ergiebig und, wie zu erwarten ist, langfristig wirkend, vielleicht sogar für das eigene Tun motivierend sind. Das Buch animiert zur Fortsetzung des Zwiegesprächs mit dem „alten Doktor“ sowie zur Reflexion des auf Seite 5 eingefügten Bildes der Skulptur „Korczak und die Ghettokinder“.
Fazit
Die gewonnenen Einblicke in das länderübergreifende Lehrprojekt ermutigt zur Nachahmung: Disziplinübergreifendes Vorgehen, der Einfluss von unmittelbaren Eindrücken (Bildung und Raum) und neue Perspektiven auf Klassiker zuzulassen, lohnt sich.
Rezension von
Prof. Dr. a. D. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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