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Gerd Schumann: Patrice Lumumba

Rezensiert von Thomas Barth, 20.11.2024

Cover Gerd Schumann: Patrice Lumumba ISBN 978-3-89438-829-4

Gerd Schumann: Patrice Lumumba. PapyRossa Verlag (Köln) 2024. 135 Seiten. ISBN 978-3-89438-829-4. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR.
Reihe: Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie.

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Thema

Patrice Lumumba war der erste freigewählte Premier der 1960 befreiten belgischen Kolonie Kongo, damals und noch mehr heute eine Schatzkammer an bedeutenden Rohstoffen: Kobalt, Uran, Kupfer. Seine immense historische Bedeutung ist hierzulande weitgehend unbekannt. Lumumba versuchte das Unmögliche, als er den Kongo vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Herrschaft befreien wollte. „Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Panafrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren.” (Verlagstext)

Autor und Entstehungshintergrund

Gerd Schumann, geb. 1951, lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Berlin und Mecklenburg, publizierte Reportagen und Hintergrundberichte vom Balkan, aus der Karibik und vom afrikanischen Kontinent. Zahlreiche Reportagen, Features für Hörfunk und Printmedien sowie Buchpublikationen, darunter in derselben Buchreihe „Basiswissen“: „Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung“ (2014). Die Buchreihe »Basiswissen« des politisch links einzuordnenden Papyrossa-Verlags bringt in handlichem Taschenbuch-Format leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie.

Aufbau und Inhalt

Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones unterteilt sich in die Einführung, sechs Kapitel sowie einen Anhang mit den Anmerkungen und der Literaturliste. Einführend beschreibt Schumann im Vorwort wie er als junger Zeitzeuge die fehlenden Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Ermordung von Patrice Lumumba im Januar 1961 erlebte, wie der ganze Kontinent als primitives Buschland, bewohnt von Wilden hingestellt wurde. Das Afrikabild hierzulande sei immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks und andere Kolonialausstellungen geprägt gewesen: „106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, die Bevölkerung glotzt wie im Zoo… und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische 'Zivilisation' in Strohhüttendörfer“ (S. 8). Doch die Völker im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft und der Vietnamkrieg machte die Generation '68 hellhörig für imperialistische Verbrechen, begangen von Weißen an farbigen Menschen. Da sei Patrice Lumumba jedoch längst tot gewesen, „der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst“ (ebd.) Einzelheiten und Verantwortliche kamen erst viel später ans Licht, teils erst nach der Jahrtausendwende. Bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien wurden Lumumbas Nachfahren erst 2022 jene Goldzähne zurückgegeben, die sich der verantwortliche belgische Kolonialoffizier aus dem Mund des Toten gebrochen hatte. Anschließend hatte er dem afrikanischen Staatsmann auch noch einige Finger abgeschnitten -ein perverses Souvenier, das deutlich dokumentiert, wer in diesem Kontext die „Wilden“ waren. Im keineswegs allzu reuigen Belgien dachte niemand an Reparationszahlungen, an die Rückgabe geraubter Reichtümer, man tat so, als sei „die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen“ (ebd.).

In Kapitel 1, »Belgisch-Kongo« wird erzählt, wie mit der Berliner Konferenz 1885/86 eine Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopold II beginnt, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakrierte (S. 13). Der König engagierte 1878 den berühmten britischen Afrikaforscher Henry Morton Nk, um seine gewaltige Kolonie mit Gewalt, List und Tücke zu unterwerfen. Stanley ließ bei einer Rundreise etwa 450 lokale „Häuptlinge“ gegen die buchstäblichen Glasperlen-„Geschenke“ ihre Kreuze unter ihnen völlig unverständliche Papier setzen. Mit diesen „Verträgen“ befanden sich Land und Menschen dann (aus europäischer Sicht) im Besitz des Belgiers. Stanley ließ „unter Einsatz massiver Gewalt und Unterdrückung“ (S. 19) Eisenbahnen zur Ausbeutung des Kongo und seiner Bevölkerung bauen, ca. 20.000 Zwangsarbeiter wurden dabei zu Tode geschunden. Ziel war zunächst Elfenbein, später Kautschuk, den Belgien an die Automobil-Industrie verkaufte. Die „Kongogräuel“ dienten der Motorisierung der reichen weißen Eliten, etwa zehn Millionen Menschen wurden massakriert, um die Fronarbeit zu erzwingen; Abertausende wurden verstümmelt, meist durch Abschlagen der rechten Hand (S. 28). Der Kolonialdiktator versechzigfachte von 1890 bis 1901 die Kautschukausbeute, bis seine Gräueltaten an die Öffentlichkeit kamen. Dann verkaufte er „seine“ Kolonie an die belgische Regierung, die jedoch die Ausbeutung kaum weniger brutal fortsetzte (S. 30).

Kapitel 2, »Das ganze Afrika« versucht eine biografische Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Der charismatische junge Mann beherrschte neben Französisch vier einheimische Sprachen und gehörte zu einer winzig kleinen Schicht schwarzer Kolonialbediensteter. Vom Postschalterbeamten stieg er in zehn Jahren zum Assistenten eines Soziologen auf, der den Kongo erforschen wollte. Er wurde Mitglied einer belgischen liberalen Partei, wurde 1958 Mitgründer der ersten gesamtkongolesischen Partei MNC (S. 44). Belgisch Kongo war inzwischen strategisch wichtiger Rohstofflieferant, förderte 75 Prozent der Weltkobalterze, Kupfer, Silber und sogar das Uran für die ersten Atombomben der USA. Lumumba traf den ersten Präsidenten des 1958 befreiten Ghana, Kwame Nkrumah (1909-1972) und organisierte Proteste gegen die Kolonialherrschaft Belgiens, wurde inhaftiert. Mitte 1960, die Entkolonialisierung stand bevor, denunzierten belgische Autoritäten den keineswegs marxistischen Lumumba in einer antikommunistischen Rufmordkampagne aggressiv als neuen „Hitler“ (S. 53). In Verhandlungen vor der Entlassung aus der Kolonialdiktatur hatten die Belgier trickreich ihre Herrschaft über Land und Rohstoffe fortzuschreiben gewusst. Eine Wahl unter belgischer Aufsicht machte Lumumbas MNC zur stärksten Kraft und ihn zum Premier. Am 30. Juni hielt der belgische König zur Amtsübergabe des Regierungsmandats eine salbungsvolle Rede, die angebliche Zivilisierungserfolge pries, die die Afrikaner Belgien zu verdanken hätten, aber Kongogräuel und Ausbeutung verschwieg. Lumumba, den man trotz seiner Wahl zum Premierminister wohlweislich nicht als Redner vorgesehen hatte, ergriff dennoch das Wort und stellte in maßvoller Kritik klar, dass man dies anders bewertet.

Kapitel 3, „Glanzstück des Antikolonialismus“ referiert im Wortlaut die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit, ein panafrikanisches Manifest für Freiheit und Menschenwürde.

Kapitel 4, „Das Ende der Hoffnung“ erzählt von der Intrige, die Lumumba durch einen Putsch des kolonial-kompatiblen Präsidenten Kasavubu und des von der CIA gestützten Oberst, des späteren Diktators, entmachtet hatte. Zuvor ließ man die Rohstoff-Provinz Katanga gegen Lumumbas Regierung rebellieren, um das Land ins Chaos zu stürzen. Vom gewaltsam erzwungenen Hausarrest aus gelang es Lumumba jedoch, Widerstand zu organisieren, und während belgische Truppen Westkongo besetzten, blieb der Ostkongo zunächst in der Hand von Lumumbisten. Das Kapitel beschreibt drastisch, wie der Hoffnungsträger, der von Felwine Sarr in seinem Manifest „Afrotopia“ neben Nelson Mandela und Kwame Nkrumah gestellt wird (S. 96), von geheimdienstlichen Verschwörern schließlich nach einer gescheiterten Flucht mittels lokaler Schergen vor laufender Kamera gedemütigt, gefoltert und dann ermordet wurde. (Netzphilosophie)

Der UN-Beauftragte Dag Hammarskjöld hatte vergeblich für Lumumba plädiert (S. 93) und starb am 18. September 1961 beim Abschuss seines Flugzeugs durch Katanga-Söldner „wohl auch mit Billigung der CIA“ und der Briten (S. 103). (Telepolis) 

Kapitel 5, „Che Guevara und Lumumba“, erzählt, wie eine kubanische Guerillagruppe unter Che Guevara vergeblich versuchte, für die Seite Lumumbas gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Kolonialverbrecher einzugreifen. Kapitel 6, „Der Kongo und wir“, beschwört die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen und kritisiert den aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens -etwa den ausgebeuteten Kinderarbeitern, die bis heute für Hungerlöhne das Coltan für unsere Handys aus dem Boden kratzen müssen.

Diskussion

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in unserem Mediensystem und auch in unserer historischen Literatur sehr viel über die Verfehlungen und Verbrechen nichtwestlicher Länder hören, vorzugsweise solcher, die sich selbst „sozialistisch“ nennen oder nannten. Sehr viel weniger hören wir über Untaten westlicher Länder, wobei derzeit immerhin Verbrechen der Kolonialzeit im Gespräch sind, etwa der deutsche Völkermord an Nama und Herero. Dabei wird jedoch regelmäßig die Frage ausgeklammert, warum die in den 1960er Jahren von der europäischen Kolonialherrschaft befreiten Länder insbesondere Afrikas trotz ihres Reichtums an Plantagen und Bodenschätzen fast alle dennoch seit über 60 Jahren in bitterer Armut verharren. Dies gilt besonders für den gewaltigen Kongo, die Schatzkammer Afrikas, aber zugleich ein von Gewalt zerrüttetes Armenhaus. Das Wissen unserer Kultureliten über den Kongo endet oft bei Bismarcks Afrika-Konferenz 1885 und den vom belgischen König Leopold begangenen „Kongo-Gräueln“, einem der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Vielen offenbar unbekannt ist die Ermordung von Patrice Lumumba durch westliche Schergen 1961, die unmittelbar zur weiteren und bis heute andauernden Ausbeutung und Verarmung des Landes führte: Siehe etwa die kürzlich ausgestrahlte Scobel-Sendung „Aufbruch Afrika“, die afrikanische Verelendung sehr bequem auf korrupte lokale Despoten zurückführte; es fehlte jedoch die Frage, ob diese Diktatoren durch die alten Kolonialherren an die Macht gekommen sein könnten. Schumanns Buch leistet hier dringend benötigte Aufklärungsarbeit und erklärt, wie westliche Intrigen, Interventionen und Gewalttaten den Hoffnungsträger Lumumba durch willfährige Despoten ersetzten.

Fazit

Die Biografie “Patrice Lumumba” hinterfragt unser oft selbstgefälliges Afrika-Bild durch die Dokumentation „postkolonialer“ Staatsverbrechen Belgiens, der USA und weiterer westlicher Länder. Die brutale Ermordung des großen Panafrikaners Lumumba wird in historischen und aktuellen Kontext gestellt und ihre Bedeutung für die andauernde Ausbeutung des Kontinents und insbesondere des Kongo durch westliche Konzerne engagiert und kritisch dargestellt.

Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 17 Rezensionen von Thomas Barth.

Kommentare

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Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 20.11.2024 zu: Gerd Schumann: Patrice Lumumba. PapyRossa Verlag (Köln) 2024. ISBN 978-3-89438-829-4. Reihe: Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32928.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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