Craig J. Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar et al.: Zerfallserscheinungen der Demokratie
Rezensiert von Peter Flick, 06.12.2024
Craig J. Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar, Charles Taylor: Zerfallserscheinungen der Demokratie.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2024.
459 Seiten.
ISBN 978-3-518-30019-0.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR,
CH: 38,50 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2419.
Thema
Nicht erst die Wahl Donald Trumps 2024 hat gezeigt, dass die pluralistisch-repräsentativen Demokratien des Westens eine tiefe Krise durchmachen. In ihrem Buch stellen die Autoren fest, dass sich das klassische Modell der repräsentativen Demokratie, global betrachtet, auf dem Rückzug befindet. Grund genug für Craig Calhoun, Dilip P. Gaonkar, und Charles Taylor nach den inhärenten Schwächen dieses Modells zu fragen.
In ihren Beiträgen wollen sie dabei nicht bei der Diagnose einer „demokratischen Regression“ (A. Schäfer/M. Zürn) stehenbleiben. Die Demokratiekrise bietet in ihren Augen die Chance für ein umfassendes „Projekt der Erneuerung“ (34) der Demokratie, das allerdings mehr bloße „Reparaturmaßnahmen“ umfassen soll.
Die Autoren
Die Autoren sind profilierte Vertreter ihrer Fachrichtungen. Craig Calhoun lehrt als Professor für Sozialwissenschaften an der Arizona State University in Phoenix. Dilip Parameshwar Gaonkar leitet als Direktor das Zentrum für Transkulturelle Studien der Northwestern University in Evanston. Der Kanadier Charles Taylor ist einer der weltweit renommierten Sozialphilosophen der Gegenwart. Zuletzt erschien 2017 sein Buch „Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens“.
Aufbau und Inhalt
Einleitung (9 ff.)
In der gemeinsamen Einleitung betonen die Autoren vor allem drei Faktoren, die zu einer „Abwärtsspirale“ in den Kernländern der repräsentativen Demokratie geführt hätten: zum einen die politischen Apathie, die durch eine „Entmächtigung der Bürger“ verursacht wurde, die nach der Aufbruchphase der Demokratisierung in den 60er Jahren eingesetzt habe; zweitens, die deregulierte Ökonomie und die dadurch wachsende „soziale Ungleichheit“; drittens, die fehlende Einigkeit aller demokratischen Kräfte über die „Spielregeln“ der Demokratie. Eine ausgeprägte Tendenz zur politischen Feindbildung und ein „majoritären Streben nach politischen Siegen“ (11) vergifteten, wie das Beispiel USA zeigt, das politische Klima und verhinderten so eine Polarisierung im demokratischen Sinn.
Kapitel 1: Zerfallserscheinungen der Demokratie (36 ff.)
In Kapitel 1 erläutert Charles Taylor dann sein „Telic Concept“ der Demokratie, das eine normative Ausrichtung auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität beinhaltet, wohl wissend, dass dabei ein ideales Gleichgewicht nie zu erreichen sei. Das erfordere allerdings von den politischen Eliten und der Bürgerschaft, dass sie die historisch gewachsenen Prinzipien der Demokratie und ihre institutionelle Praxis ständig weiterzuentwickeln. Dieser Antrieb, die in der Demokratie angelegte Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit auszugleichen, sei ins Stocken geraten. Wenn man nicht bei der Klage über den „Vertrauensverlust“ (47 f.) gegenüber dem demokratischen Staat stehen bleiben will, sei es jetzt an der Zeit, die Demokratie zu erneuern. Dabei seien drei Punkte wichtig: erstens, der „schwindenden Wirkmacht der Bürger“(42 f.) und dem „Verlust an Gruppensolidarität“(43) entgegenzuwirken; zweitens die durch „Parteien der Linken“ (44) mitgetragene Wirtschafts- und Finanzpolitik zu revidieren; drittens, gegenüber der wachsenden „Intransparenz“ (50 f.) politischer Prozesse und der scheinbaren „Alternativlosigkeit“ ihrer Entscheidungen, Handlungsoptionen deutlich zu machen.
Kapitel 2:Widersprüche und Doppelbewegungen (78 ff.)
Kapitel 3: Kompromisse mit dem Kapitalismus (146 ff.)
Die beiden von Greg Calhoun verantworteten Kapitel sind aus politisch-ökonomischer Sicht komplementäre Ergänzungen zu Charles Taylors demokratietheoretischer Diagnose. Im Rückgriff auf Karl Polanyi beschreibt er die Zäsuren in der US-amerikanischen und europäischen Geschichte als Prozesse der staatlichen „Einbettung“ und „Entgrenzung“ der agonalen Marktstrukturen. Sie werden von ihm als „Doppelbewegung“ des Wachstums und der Verbesserung der Lebensbedingungen, aber auch als verhängnisvolle „Disruptionen“ und „drastische Formen der Enteignung“ (145) beschrieben (Kapitel 2). Die „goldenen Jahrzehnte“ des Nachkriegswachstums, die „ Kompromisse“ in Gestalt wohlfahrtstaatlicher Regulierungen möglich machten, würden nicht wiederkehren. Aber Calhoun hält es für möglich, dass sich gegen eingewurzelte neoliberale Freiheitsvorstellungen sozialen Bewegungen organisieren lassen, „um für mehr Gleichheit und Solidarität zu sorgen.“ (212, Kapitel 3).
Kapitel 4: Authentizität und Meritokratie (213 ff.)
G. Calhoun und Charles Taylor zeigen in Kapitel 4, wie die Ideen einer identitären „Authentizität“ und eines expressiven Individualismus im Bündnis mit einem meritokratischen Leistungsgedanken als wirksames ideologische Bindemittel fungieren, um eine egalitäre Bildungspolitik zu verhindern. Im Zentrum der Kritik steht das westliche Bildungssystem als Träger einer Ideologie, die auf die Zementierung bestehender Statushierarchien und den „persönlichen Erfolg“ (244) fokussiert sei.
Kapitel 5: Machen wir den >demos< sicher für die Demokratie? (258 ff.)
Kapitel 6: Die Struktur demokratischer Zerfallserscheinungen und das Gebot der direkten Aktion (291 ff.)
In beiden Kapiteln bekundet Delip P. Goankar im Unterschied zu den beiden anderen Autoren seine Skepsis gegenüber den Hoffnungen auf eine diskursive Erneuerung des westlichen Demokratiemodells. Er erinnert zunächst an die Angst der Demokratietheoretiker vor dem >demos<. Sie beginne schon bei Platon und Aristoteles und ende bei den modernen liberalen Demokratietheoretikern, wie Robert A. Dahl oder Joseph Schumpeter, die aus ihren Vorbehalten gegenüber den dunklen Seiten der „Volksherrschaft“ keinen Hehl machten. Goankar erinnert daran, dass die „hässliche Demokratie“ des Autoritarismus durch „demokratische Wahlen an die Macht“ (269) komme und ein allgemeines Wahlrecht alleine keine egalitäre Politik garantiere. In Kapitel 6 äußert Goankar im Gegensatz zum verhaltenen Optimismus seinen Mitautoren die Befürchtung, dass wir, global betrachtet, auf eine Phase des Autoritarismus zusteuern und plädiert dafür, angesichts dieser Lage, den Fokus stärker auf die „außerdiskursiven und körperlichen Ebenen der direkten Aktionen“ (312), zu legen und verweist auf eine breite Palette an direkten Aktionsformen (320 ff.).
Kapitel 7: Was tun? (331 ff.) und Schluss (413 ff.)
Das von Calhoun und Taylor geschrieben Kapitel „Was tun?“ ist vor allem im Blick auf die USA formuliert und skizziert möglichen Handlungsfelder eines egalitären „Demokratieprojekts“. Der „Schluss“ betont die großen Linien der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die es für die Autoren nicht hoffnungslos erscheinen lässt, dass es nach einer chaotischen Übergansphase der Rückentwicklung der Demokratien gelingen kann, eine „neue Ära der Demokratie“ (413) einzuleiten.
Diskussion
Wo sich andere Politikwissenschaftler, wie Ingolfur Blühdorn („Simulative Demokratie“, 2013) und Veith Selk („Demokratiedämmerung“, 2024) mit der Dekonstruktion des repräsentativ-pluralistischen Demokratiemodells begnügen, setzen die Autoren im vorliegenden Buch auf ein starkes transformatives „Wir“, die das normativen Konzept einer egalitären Demokratie erneuern möchte. Es bleibt die Skepsis, wie das von den Autoren skizzierte Erneuerungsprojekt zu realisieren ist, wenn weder die „Parteien der Linken“ noch die eines „anständigen Konservatismus“, die die „Spielregeln eines fair play“ respektieren (Ernst Fraenckel, Deutschland und die westliche Demokratie, 1973, 199 f.), derzeit Anstalten machen, ihre gegensätzlichen Positionen auf demokratische Weise zu schärfen.
Fazit
Von zahlreichen anderen Analysen zum Thema „Demokratiekrise“ hebt sich das vorliegende Buch dadurch positiv ab, dass es versucht, mögliche Handlungsfelder für eine soziale Erneuerung der Demokratie aufzuzeigen und dabei am Leitgedanken einer egalitären Freiheit festhält.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 06.12.2024 zu:
Craig J. Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar, Charles Taylor: Zerfallserscheinungen der Demokratie. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2024.
ISBN 978-3-518-30019-0.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2419.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32929.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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