Michael Ermann: Psychotherapie und Psychosomatik
Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 11.06.2025

Michael Ermann: Psychotherapie und Psychosomatik. Ein Lehrbuch auf psychoanalytischer Grundlage. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 8., erweiterte und überarbeitete Auflage. 674 Seiten. ISBN 978-3-17-043051-8. 59,00 EUR.
Thema
Diesem erstmals 1994 erschienen und nun in 8., erweiterter und überarbeiteter Auflage publizierten Lehrbuch liegt ein psychoanalytisch orientierter Ansatz zugrunde, der die Beziehungserfahrungen des Menschen in das Zentrum der Betrachtung rückt und mit trieb-, ich- und selbstpsychologischen Aspekten verknüpft. Daneben werden bei der Darstellung allgemeine psychotherapeutische und psychosomatische Basisinformationen vermittelt. Das Werk ist „von der Überzeugung getragen, dass das psychodynamische Denken gerade in einer Zeit zunehmender Technisierung der Medizin einen unverzichtbaren Zugang zum Menschen in Gesundheit und Krankheit, zu seinem Erleben, seinen Beziehungen, seiner Sozialisierung und seinen kulturellen Schöpfungen eröffnet“ (S. 8).
Autor
Michael Ermann ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker in Berlin und ist vor allem als Supervisor und Berater tätig. Er ist emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er 25 Jahre lang der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Klinik vorstand.
Entstehungshintergrund
Als das Lehrbuch 1994 erstmals erschien, hatte Michael Ermann es für den Gebrauch im Medizinstudium, speziell für das damals neue Fach „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ geschrieben. Als Idee zieht sich die Systematisierung des psychodynamischen Zugangs zur Psychopathologie durch alle Auflagen. Sie beruht auf den drei Säulen der reaktiven, neurotischen und posttraumatischen Störungen, wobei die neurotische Pathologie anhand der Kategorien der Strukturdiagnostik weiter aufgeschlüsselt wird. Daraus ergibt sich ein differenzieller psychodynamischer Behandlungsansatz mit den drei Polen einer einsichtsorientierten, einer erfahrungsorientierten und einer strukturorientierten Behandlungsstrategie. Für die 8., gründlich überarbeitete und aktualisierte Auflage wurde der intersubjektive Ansatz weiter ausgearbeitet, die Darstellung der Krankheitsbilder auf den neuesten Stand gebracht und die OPD-3 in die Diagnostik übernommen.
Aufbau und Inhalt
Das Werk umfasst neben einem Vorwort und einer Einleitung vier Hauptkapitel mit diversen Unterkapiteln sowie einen Anhang mit der Klassifikation psychogener Störungen nach ICD-10, einem Glossar, einem Literaturverzeichnis und einem Sachverzeichnis.
In der Einleitung beschreibt Michael Ermann das Arbeitsfeld der Psychotherapie und Psychosomatik, gibt Definitionen, skizziert den historischen Hintergrund, gibt einen Überblick über die aus der Psychologie, der Psychiatrie und den Neurowissenschaften stammenden Grundlagen und schildert die traditionellen Aufgaben der Psychotherapie ebenso wie die neueren Aspekte, z.B. die somatopsychische Medizin (die Behandlung von primär körperlich Kranken bei der Krankheitsbewältigung).
Das erste Hauptkapitel ist dem Thema „Krankheit und Krankheitsentstehung“ gewidmet. In drei Unterkapiteln werden die psychosozialen Aspekte, Erleben und Entwicklung aus psychodynamischer Sicht und die Entstehung von psychogenen Störungen behandelt. Das letztere hat der Autor als Basis für das Verständnis der Neurosenentstehung konzipiert und empfiehlt, es, ebenso wie das vierte Unterkapitel (Psychoanalytische Entwicklungs- und Strukturdiagnostik), vor dem Studium spezieller Fragen durchzuarbeiten.
Das zweite Hauptkapitel „Diagnostik“ umfasst die Kapitel „Psychoanalytische Entwicklungs- und Strukturdiagnostik“ und „Klinische Diagnostik“ (wobei hier auch die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik, OPD, dargestellt wird).
Dem Thema „Krankheitsbilder“ ist das umfangreichste dritte Hauptkapitel gewidmet. In neun Unterkapiteln werden die reaktiven Störungen, Posttraumatische Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Psychische Störungen (Psychoneurosen), Somatoforme Störungen (Organneurosen), Verhaltens- und Entwicklungsstörungen, Psychosomatosen, Nichtorganische Psychosen und die Psychosomatik in somatischen Fachgebieten behandelt.
Im vierten Hauptkapitel stellt der Autor die verschiedenen psychodynamisch orientierten „Behandlungen“ dar: die Psychotherapie (Grundlagen und Versorgung), eine Einführung in die Psychoanalyse, Psychodynamische (psychoanalytisch begründete) Verfahren, Psychodynamische Gruppenpsychotherapie, Paar- und Familientherapie, stützende und übende Verfahren, Entwicklungen im Umfeld der Psychoanalyse sowie Medikamente in der Psychotherapie und Psychosomatik.
Diskussion
Es ist Michael Ermann zu danken, dass er die Mühe auf sich genommen hat, dieses umfangreiche Werk für die 8. Auflage überarbeitet und aktualisiert zu haben. Es bietet Psycholog:innen und Ärzt:innen in Fort- und Weiterbildung ebenso wie praktizierenden Psychotherapeut:innen einen umfassenden Überblick über die Gebiete der Psychotherapie und Psychosomatik auf psychoanalytischer Grundlage. Positiv hervorzuheben ist, dass der Autor in diesem Lehrbuch, im Gegensatz zu vielen anderen in der Gegenwart publizierten Werken, den Neurosebegriff beibehält und zeigt, dass das psychoanalytische Neurosenkonzept durchaus kompatibel ist mit den ICD-Diagnosen, diese aber in fruchtbarer Weise durch die psychodynamische Sicht erweitert. Auch die Übersicht über die verschiedenen psychodynamischen Therapiemodelle weist darauf hin, dass die psychoanalytische Theorie eine effiziente Grundlage für ganz unterschiedliche Behandlungsformen ist. Dass die wichtigsten Informationen jeweils in Kästchen und Tabellen zusammengefasst werden, erleichtert die Lektüre dieses Buches und ermöglicht es den Leser:innen, sich einen schnellen Überblick über die wesentlichen Inhalte zu verschaffen.
Fazit
Ein sehr empfehlenswertes Lehrbuch, das Psycholog:innen und Ärzt:innen in Aus- und Weiterbildung ebenso wie praktizierenden Psychotherapeut:innen einen hervorragenden Überblick über die auf der psychoanalytischen Theorie beruhenden Krankheitskonzepte und Behandlungsmodelle vermittelt.
Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Klinische Psychologie Universität Basel, Psychoanalytiker (DPG, DGPT)/psychologischer Psychotherapeut in privater Praxis in Basel
Mailformular
Es gibt 22 Rezensionen von Udo Rauchfleisch.