Rolf Göppel, Ulrike Graf (Hrsg.): Was Resilienz stärkt
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 29.04.2025

Rolf Göppel, Ulrike Graf (Hrsg.): Was Resilienz stärkt. Chancen und Risiken eines boomenden Konzepts. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 223 Seiten. ISBN 978-3-17-043259-8. 34,00 EUR.
Die Herausgeber*innen
Dr. Rolf Göppel ist dort Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Dr. Ulrike Graf ist Professorin für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Thema
Das Konzept der Resilienz hat in der Psychologie und Pädagogik, aber auch im öffentlichen Diskurs eine erstaunliche Karriere gemacht. Das Buch prägt der Anspruch, sowohl die Fortschritte und Chancen der Resilienzforschung und -förderung angesichts aktueller Krisen und Transformationsprozesse in unseren Gesellschaften konstruktiv zu erörtern als auch die Risiken und Grenzen des Ansatzes kritisch zu reflektieren. (aus dem Klappentext).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst nach einer ausführlichen Einleitung durch die Herausgeber*innen insgesamt 19 Kapitel, zusammengefasst in vier Teilen.
Teil 1: Chancen und Perspektiven des Resilienzkonzepts im pädagogischen Feld
Klaus Fröhlich-Gildhoff beginnt mit einem Kapitel über Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Er führt aus, dass es Konzepte braucht, die über das einzelne Kind hinausgehen und alle Mitglieder des Systems, Eltern, Pädagog*innen, Lehrer*innen und weiter Akteure des Umfeldes als Netzwerkpartner*innen mit einbeziehen. Er bespricht auch die Evaluation und Implementationsfaktoren.
Sabine Andresen berichtet über Bemühungen der Aufarbeitung von Gewalt in der Kindheit im Rahmen der Arbeiten der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ Aus der Analyse von Berichten wird die Rolle des Umfelds, von signifikanten Dritten, als zu stärkende Ressource sehr deutlich.
Ausgehend von allgemeinen prozessphilosophischen Überlegungen geht Michael Fingerle unter dieser Perspektive auf die menschliche Entwicklung und im Besonderen auf Resilienz und Vulnerabilität ein. Er beschreibt Resilienz als allgemein menschliches Phänomen, dass aus dem Zusammenwirken basaler humaner adaptiver Systeme mit der Umwelt entsteht, um Menschen zu befähigen, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen, und entwickelt prozessethische Implikationen.
Im letzten Beitrag dieses Teils zeigt Isabella Helmreich Problembereiche auf; sie bezeichnet sie als das Resilienz-Paradox in der Forschung (mangelhafte Ergebnisse verursacht durch definitorische und methodische Unschärfen des Konzepts sowie die dynamische Natur des Resilienzprozesses) und das Paradox in der Prävention (Gefahr des Missbrauchs durch die Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die die psychische Gesundheit beeinträchtigen; Verankerung der Verantwortung beim (nichtresilienten) Individuum).
Teil 2: Probleme und Widersprüche des Resilienzkonzepts im pädagogischen Feld
Anne Kirschner thematisiert das Verhältnis Bildung und Resilienz und verbindet machtanalytische und ideologiekritische Zugänge, indem sie das Verhältnis von Anpassung und Widerstand in bildungsprogrammatischen Texten untersucht.
Kritisch sehen auch Kirsten Pulu in ihrem Beitrag über die Diskreditierungen »sozioökonomisch benachteiligter« Schüler*innen in einer Pisa-Sonderauswertung zum »Erfolgsfaktor Resilienz« und Thomas Müller in seinem Beitrag zu verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen das Verständnis, die Diskussion und die Auswirkungen des Resilienzkonzeptes. Müller beklagt die mangelnde Sensibilität gegenüber dem verletzlichen Subjekt und greift den Begriff „Vulneranz“ auf. Kritisch äußert sich auch Robert Schneider-Reisinger aus der Perspektive einer materialistischen (Behinderten‐)Pädagogik.
Im Anschluss stellt Jennis Schramm heraus, dass unter bestimmten Randbedingungen aggressives Verhalten als Ausdruck psychischer Widerstandskräfte gesehen werden kann. Am Beispiel eines sexualisierten Übergriffes in einer Schule fragen Monika Götsch und Sandro Bliemetsrieder im Rahmen einer soziologischen Hegemoniekritik, ob die Pädagogik außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen werden kann.
Teil 3: Herausforderungen und Möglichkeiten der Förderung von Resilienz im pädagogischen Feld
Im ersten Kapitel dieses Teils stellen Telse Iwers und Angela Rohde die Methode der Introversion vor, um im (beruflichen) Alltag Gelassenheit als Strategie zur Bewältigung in Konflikten zu fördern.
Der Focus des Beitrags von Birgit Behrisch richtet sich auf die Resilienz des Systems Familie, besonders bei chronischer Erkrankung eines Elternteils. Sie berichtet auch über ein kleines Forschungsprojekt.
Ramona Thümmler und Janieta Bartz betrachten Kinder, die unter ökonomisch benachteiligten Strukturen aufwachsen, und diskutieren Vulnerabilität und Vulnerantialität. Britta Klopsch und Carsten Rohlfs berichten über ein Forschungsprojekt zu individuellen Einstellungen und Lernerfahrungen bei Kindern aus bildungsfernen Milieus in der Corona-Pandemie.
Auch Jörg Kohlscheen und Ronja Struck berichten Ergebnisse eines Forschungsprojekts, gewonnen in Interviews mit Eltern und Kindern, in denen die Bedeutung „weißer Flecken in kognitiv-evaluativen Landkarten“ am Beispiel „Draußenspielen“ diskutiert wird. Abgeschlossen wird dieser Teil durch die Analyse von resilienzorientierten Aussagen in ausgewählten Kinderbilderbüchern (Ulrike Graf)
Teil 4: Rückblicke und Bilanzierungen im Hinblick auf die Bewältigung risikobehafteter Kindheiten
Resilienz kann erst im Nachhinein aus der Lebensgeschichte abgeleitet werden. Deshalb analysiert Rolf Göppel Autobiografien von Schriftsteller*innen, in denen von extremen Varianten problembeladener und konflikthafter Kindheiten erzählt wird. Margherita Zander diskutiert ebenfalls anhand dreier autobiografischer Schriften mit traumatischen Kindheitserinnerungen, ob durch diese autobiografische Selbstreflexion eine resiliente Kindheitsbewältigung erfolgen kann. Anne Bödicker erforscht anhand von Interviews mit Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung das Spannungsfeld von Resilienz und Verwundbarkeit.
Diskussion
Resilienz ist als Konzept in Mode gekommen. Es soll vieles erklären. Es besteht der Anspruch, dass Individuen, aber auch Institutionen und Gesellschaften resilient sein sollen angesichts der vielen Krisen (Klima, Kriege, usw.). Das Konzept scheint auf viele Lebensumstände und Strukturen anwendbar zu sein.
In den meist kurzen Beiträgen wird das Thema aus vielen Perspektiven betrachtet und die Chancen, aber auch die Risiken und Widersprüche werden klar und deutlich herausgearbeitet. An einigen Beispielen werden auch Möglichkeiten der Resilienzförderung aufgezeigt. Besonders interessant finde ich die bilanzierenden Rückblicke im vierten Teil.
Neben allen positiven Aspekten für das einzelne Individuum wird wiederholt die Gefahr der gesellschaftlichen Logik der Selbstoptimierung thematisiert, einer kategorisch individualisieren Umdeutung. Resiliente Kinder und Jugendliche überwinden „schicksalhafte“ Erfahrungen, wogegen weniger resiliente Kinder unfähig sind, Verantwortung zu übernehmen. Dabei werden strukturelle diskriminierende Umstände relativiert, gesellschaftliche und persönliche Machtstrukturen vernachlässigt. Michael Fingerle merkt zu Recht an: „Wettbewerb ist so lange ethisch vertretbar, wie er die Solidarität nicht irreparabel schädigt […] oder Einzelne nicht irreparabel beschädigt.“ (S. 55). Und Rolf Göppel schlussfolgert, dass die Verantwortung einer seriösen Resilienzforschung auch darin besteht, „sich gegen die Simplifizierungen und Übertreibungen, die Individualisierungen und Heroisierungen und die marktschreierischen Versprechungen, die mit der Popularisierung des Konzepts so häufig einhergehen, zur Wehr zu setzen“ (S. 197).
Insgesamt regt das Buch dazu an, sich mit den Themen Resilienz und Vulnerabilität konstruktiv, aber auch kritisch auseinanderzusetzen.
Zielgruppen
Personen, die in Forschung und Lehre sich mit Resilienz beschäftigen, und Personen, die im (Berufs-)Alltag mit benachteiligten Personengruppen arbeiten, so z.B. Pädagog*innen und Lehrer*innen
Fazit
Das Buch thematisiert Fortschritte und Chancen der Resilienzforschung und -förderung sowie Risiken und Grenzen des Ansatzes. Die kritische Reflektion regt den/die Leser*in an, sich konstruktiv, aber auch kritisch, mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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