Karl Heinz Brisch, Theodor Hellbrügge (Hrsg.): Die Anfänge der Eltern-Kind-Bindung
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 27.12.2024
Karl Heinz Brisch, Theodor Hellbrügge (Hrsg.): Die Anfänge der Eltern-Kind-Bindung. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 304 Seiten. ISBN 978-3-608-98780-5. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.
Thema
International renommierte Forscher und Kliniker stellen die neuesten Erkenntnisse zur vorgeburtlichen Bindung, zur Bedeutung von Hormonen sowie zu Störungen der Bindungsentwicklung vor. Sie berichten über Präventionsmaßnahmen und zeigen die Möglichkeiten und Grenzen psychotherapeutischer Interventionen auf, denn Bindung beginnt schon während der Schwangerschaft. Es handelt sich um die vierte Auflage.
Herausgeber
Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof., Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen; Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er war bis 2020 Vorstand des weltweit ersten Lehrstuhls für Early Life Care und leitete das gleichnamige Forschungsinstitut an der PMU in Salzburg. Theodor Hellbrügge (1919-2014), Prof. Dr. med., Dr. h.c. mult., em. Professor für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war ein Pionier und Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde und ein bedeutender Kinderarzt. Neben den Herausgebern selbst haben 15 Autor:innen Beiträge zu diesem Band verfasst.
Aufbau und Inhalt
Nach Vorwort und Einführung in die Grundthematik widmet sich zunächst Gisela Schleske den Schwangerschaftsphantasien von Müttern und ihre psychoanalytische Bedeutung für die frühe Mutter-Kind-Beziehung. Welche Wünsche, Ideen und Träume haben werdende Mütter in der Schwangerschaft und inwieweit haben diese Auswirkungen auf die Bindung – erst recht vielleicht, wenn das Kind dann jenen Phantasien eben nicht entspricht? Als einer der bekanntesten Neurologie-Experten des Landes beschäftigt sich anschließend Gerald Hüther mit dem Thema Vorgeburtliche Einflüsse auf die Gehirnentwicklung, während Carola Bindt – in diesem Fall schon fast historisch – der Frage nachgeht: Ungetrübtes Familienglück oder neue Risikokonstellation? Elternschaft und Kindesentwicklung nach reproduktionsmedizinischer Behandlung. Einer komplexen Zielgruppe widmen sich dann Ralph Kästner, Kristin Härtl und Manfred Stauber in ihrem Beitrag über Das Konzept der psychosomatischen Betreuung von drogenabhängigen Schwangeren. Sie gehen der Frage nach, welche Bedeutung für die Mutter-Kind-Beziehung durch diese Betreuungsform generiert wird.
„Bedding-in“ als Prophylaxe gegen Baby-Blues? Evolutionsmedizinische und kulturenvergleichende Aspekte heißt im Anschluss der Beitrag von Wulf Schiefenhövel, während Marshall Klaus deutlich herausstellt, welche Bedeutung Mutter und Vater von Anfang an für das Bindungsverhalten ihres Kindes haben: Die Bindungsbereitschaft der Eltern – Grundlage für eine sichere Bindungsentwicklung des Kindes ist dieser Beitrag überschrieben, in dem deutlich wird, dass Eltern emotional bereit sein müssen, sich auf die Bindungsbedürfnisse ihres Kindes einzulassen, um am Ende der sichere Hafen für den Nachwuchs sein zu können. Was lange unterschätzt wurde, ist die Tatsache, dass stressige Lebensumstände in der Schwangerschaft sich auf das Neugeborene auswirken können, was Harald Wurmser in seinem Text Einfluss der pränatalen Streßbelastung der Mutter auf die kindliche Verhaltensregulation im ersten Lebenshalbjahr beschreibt, bevor sich John H. Kennell dem wichtigen Thema Kontinuierliche Unterstützung während der Geburt: Einflüsse auf Wehen, Entbindung und Mutter-Kind-Interaktion widmet. Aus der Zwillingsforschung berichtet Alessandra Piontelli, die untersucht hat, wie sich Zwillinge und ihr Temperament sowie ihr Verhalten zueinander bereits im Mutterleib entwickeln: Zwillinge im Mutterleib – Die Entwicklung des Temperaments und das Verhalten der Zwillinge zueinander vor und nach der Geburt. Oxytocin ist als Bindungshormon vielen Menschen ein Begriff, seine Bedeutung für die Entwicklung einer guten Bindung gerade der Mutter zum neugeborenen Kind hoch, was Kerstin Uvnäs-Moberg in Zusammenarbeit mit Eva Nissen, Anna-Berit Ransjö-Arvidsson und Anne-Marie Widström in ihrem Beitrag Die Bedeutung des Hormons „Oxytocin“ für die Entwicklung der Bindung des Kindes und der Anpassungsprozesse der Mutter nach der Geburt darstellt. Im Kapitel Das Thema „Liebe“ schreibt Daniel Stern über eher philosophisch über das Verliebt-sein vor allem der Mutter in ihr Kind, das oft hinter wichtigeren Begrifflichkeiten wie Feinfühligkeit zu verschwinden scheint. Momente der Begegnung und die Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung ist der Text von Nadia Bruschweiler-Stern überschrieben, in dem sie postuliert, dass die Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung sich als Prozess aus Momenten der Begegnung entwickelt. Darunter versteht sie „besondere Momente, die es der Beziehung ermöglichen, auf eine höhere Ebene zu gelangen“ (S. 226).
Wie die Verarbeitung postpartaler Krisen in der Gruppenpsychotherapie gelingen kann, erläutert Fernanda Pedrina aus ihrer praktischen Erfahrung, während Phyllis Klaus über Kurzzeitpsychotherapie in der perinatalen Zeit zur Verringerung von psychischen und körperlichen Symptomen und zur Erleichterung der Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung berichtet. Dass therapeutische Interventionen sich an Mutter und Baby gleichzeitig richten können, verdeutlicht Ian Brockington in seinem Beitrag mit dem Titel Die Notwendigkeit von Behandlungseinheiten für Mutter und Kind (mother-baby units) in der Psychiatrie. Daran knüpft der Beitrag von Hans-Peter Hartmann und Bettina Grande an, die ihre Arbeit unter dem Titel Stationäre Behandlung von Müttern mit postpartalen psychiatrischen Erkrankungen und ihren Kindern nach dem „Heppenheimer Modell der Mutter-Kind-Behandlung“ vorstellen. Herausgeber Karl Heinz Brisch schließt den Band mit seinem Text über Prävention durch prä- und postnatale Psychotherapie ab.
Diskussion
Die Entwicklung der Bindung zwischen Eltern und Kind beginnt bereits vor der Geburt. Sie wird entscheidend durch Erfahrungen beeinflusst, die während der Schwangerschaft, bei der Geburt und in den ersten Lebensmonaten gemacht werden. Diese sensible frühe Entwicklungszeit kann erheblich belastet sein, etwa im Falle vorzeitiger Wehentätigkeit, wenn eine postpartale Depression, eine Drogenabhängigkeit oder der Verdacht auf eine Fehlbildung des Fetus vorliegt oder wenn die Eltern traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren. Die Autor:innen erläutern, welche Möglichkeiten professioneller Hilfestellung heute in Prävention, Beratung und therapeutischer Begleitung bereitstehen. Sie zeigen, was die perinatale Psychotherapie zu leisten im Stande ist, und stellen bedeutsame Ergebnisse aus der Grundlagenforschung zur Bindungsentwicklung während der Schwangerschaft und Geburt vor. Und obwohl die Erstauflage schon über 15 Jahre alt ist, gelingt auch heute noch ein faszinierender und vor allem wichtiger Blick bis in die frühesten Momente, in denen der Grundstein für eine funktionierende Eltern-Kind-Bindung gelegt wird. Am Rand sei kritisch angemerkt, dass es dem Verlag leider nicht gelungen ist, die Neuauflage an die aktuell geltenden Grammatikregeln (zum Beispiel „dass“ und nicht „dass“) anzupassen.
Fazit
Das Buch richtet sich an alle Berufsgruppen, die Kinder und Eltern in der Zeit vor und nach der Geburt betreuen, wie etwa Hebammen und Geburtshelfer, Kinderärzt:innen, Kinderpsycholog:innen, Kinderpsychiater:innen, Psychotherapeut:innen, Heilpädagog:innen, Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
Mailformular
Es gibt 126 Rezensionen von Wolfgang Schneider.
Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 27.12.2024 zu:
Karl Heinz Brisch, Theodor Hellbrügge (Hrsg.): Die Anfänge der Eltern-Kind-Bindung. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-608-98780-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32941.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.