Marc Zirlewagen (Hrsg.): Kurt Hahn
Rezensiert von Mag. Rainald Baig-Schneider, 29.04.2025

Marc Zirlewagen (Hrsg.): Kurt Hahn (1886-1974). Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik. ZIEL Verlag (Augsburg) 2024. 180 Seiten. ISBN 978-3-96557-144-0. 19,80 EUR.
Thema
Dieser Sammelband widmet sich dem Leben und Wirken des Reformpädagogen Kurt Hahn, Mitbegründer der Schule Schloss Salem. Nach einem ausführlichen Geleitwort von Jörg Ziegenspeck folgen Beiträge von Marc Zirlewagen, Michael Knoll, Angela Hartwig, Werner Michl, Hans-Peter Heekerens und Henrik Fass. Die Autor:innen beleuchten biografische, pädagogische, politische und zeitgeschichtliche Aspekte in Hahns Biografie, sowie in seinen pädagogischen Prinzipien. Zudem wird seine Zusammenarbeit mit Weggefährt:innen, exemplarisch anhand von Lina Richter thematisiert. Besonders hervorzuheben ist die kritische Auseinandersetzung mit den autoritären und konservativen Zügen in Hahns Pädagogik und sein ambivalentes Verhältnis zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus.
„Die Beiträge lassen das Leben und Werk Hahns anlässlich seines 50. Todestags Revue passieren – und das durchaus kritisch. So wird Hahns Leistung, insbesondere für die Erlebnispädagogik, zwar klar benannt, aber auch aus heutiger Sicht auf den Prüfstand gestellt.“ (www.ziel-verlag.de/produkt/​kurt-hahn-1886-1974/)
Entstehungshintergrund
Der anlässlich des 50. Todestag von Kurt Hahn im Zielverlag erschienene Sammelband ist Band 63 der von Jörg Ziegenspeck begründeten Schriftreihe „Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik“. Die erste Publikation dieser Reihe erschien 1986 im, von Jörg Ziegenspeck gegründeten, Verlag Edition Erlebnispädagogik anlässlich des 100. Geburtstages von Kurt Hahn unter dem Titel „Lernen fürs Leben – Lernen mit Herz und Hand. Ein Vortrag zum 100. Geburtstag von Kurt Hahn (1886–1974)“. Der Sammelband erscheint in zwei Reihen: einerseits in der seit Band 62 vom Ziel Verlag herausgegebenen Schriftreihe „Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik“, andererseits als Band 4 der Reihe „Beiträge zur Geschichte der Schule Schloss Salem“. Marc Zirlewagen ist Herausgeber dieses Sammelbandes sowie der letztgenannten Reihe
Herausgeber und Autor:innen
Als Herausgeber dieses Sammelbandes hat Marc Zirlewagen Autoren versammelt, die maßgeblich zur inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung der moderne Erlebnispädagogik beigetragen haben und aus ihrem langjährigen Blickwinkel das Lebenswerk Kurt Hahns betrachten. Ergänzend kommen Autorinnen dazu, die neue Perspektiven und aktuelle Einblicke zur Verfügung stellen.
Jörg W. Ziegenspeck
Jörg W. Ziegenspeck hat mit seinem Lebenswerk die moderne Erlebnispädagogik entscheidend geprägt. Er führte den Begriff ein, etablierte ihn inhaltlich und löste ihn aus der engen Fokussierung auf Kurt Hahn. Seine 1986 begonnene Schriftreihe „Wegbereiter der Erlebnispädagogik“ und seine Feststellung „die Wurzeln der Erlebnispädagogik liegen bei Wilhelm Dilthey und seiner Begründung der einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, in der das Erleben der eigenen Zustände und das Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistes als beide Möglichkeiten des Menschseins, die Wirklichkeit zu erfassen“ (Ziegenspeck, 1996a) markieren einen Paradigmenwechsel. Mit dem „Handbuch Erlebnispädagogik“ führte er das Thema an den allgemeinen pädagogischen Fachdiskurs heran. Ziegenspeck legte mit seinen Bezügen zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik das Fundament für eine theoretisch fundierte erlebnispädagogische Begriffsbildung und spielte auch in der institutionellen Entwicklung eine zentrale Rolle (Fischer/​Ziegenspeck 2000, Ziegenspeck 1996a und 1996b).
Michael Knoll
Michael Knoll war von 1975 bis 1985 Lehrer und Mentor an der Schule Schloss Salem. Als profunder Kenner Kurt Hahns veröffentlichte er zahlreiche Arbeiten über dessen Leben und Werk. Besonders hervorzuheben sind seine Herausgeberwerke, mit denen er viele englischsprachige Originaltexte Hahns einer breiten deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich machte (Knoll 1986, Knoll 1998).
Werner Michl
Werner Michl zählt zu den prägenden Persönlichkeiten der modernen deutschsprachigen Erlebnispädagogik. Sein Standardwerk „Erleben und Lernen“ liegt mittlerweile in der 8. Auflage vor. Er ist Mitbegründer der Fachzeitschrift „erleben & lernen“ sowie der gleichnamigen Buchreihe. Seine zahlreichen Veröffentlichungen und sein Engagement in der institutionellen Entwicklung haben die Erlebnispädagogik maßgeblich vorangebracht. Ohne sein Wirken wäre die Erlebnispädagogik heute nicht in dieser Form etabliert (Heckmair/​Michl, 2018, Michl, 2020).
Hans-Peter Heekerens
Hans-Peter Heekerens verfügt über eine langjährige theoretische und praktische Erfahrung in der Erlebnispädagogik. In seinen jüngsten Publikationen hinterfragt er kritisch Narrative und Mythen der erlebnispädagogischen Geschichtsschreibung. Als einer der wenigen deutschsprachigen Autoren macht er Netzwerke sichtbar, die sowohl zu Lebzeiten Kurt Hahns als auch darüber hinaus Einfluss auf die Entwicklung der Erlebnispädagogik hatten. Besonders bemerkenswert ist seine detaillierte Untersuchung, wann und wie der Begriff „Erlebnispädagogik“ Eingang in die deutschsprachige Literatur fand. Er zeigt auf, dass Kurt Hahn selbst diesen Begriff nie verwendete. In den letzten Veröffentlichungen beleuchtet er Hahns Umgang mit Frauen am Beispiel von Lina Richter und Mina Specht. Beide leisteten bedeutende Beiträge zur Entwicklung von Salem und Gordonstoun, wurden von ihm aber nie in den Vordergrund gerückt. Seine akribisch recherchierten Arbeiten liefern eine fundierte Grundlage für eine fachliche Neubeurteilung der Geschichte der modernen Erlebnispädagogik (Heekerens 2019, Heekerens 2021)
Marc Zirlewagen
Marc Zirlewagen gehört zur jüngeren Generation der Autor:innen. In den letzten Jahren hat er sich eine fundierte biografische und historische Expertise über Kurt Hahn und der Entwicklungsgeschichte von Schloss Salem erarbeitet. Er verbindet dieses Wissen mit aktuellen pädagogischen Ansätzen und schlägt so eine Brücke in die Gegenwart. Besonders wertvoll sind seine Arbeiten zu dem bisher in der deutschsprachigen Literatur weitgehend ausgesparten Zeitraum des Nationalsozialismus. Seine Publikationen beleuchten die verschiedenen Positionierungen und Haltungen innerhalb Salems zum Nationalsozialismus. Sie machen vielschichtige Ambivalenzen, Opportunismus und die unterschiedlichen Verhaltensweisen in dieser Zeit sichtbar. (Zirlewagen 2022a, Zirlewagen 2022b)
Angela Hartwig
Angela Hartwig ist als Urenkelin von Salem-Mitbegründerin Lina Richter eine neue Stimme in der erlebnispädagogischen Literatur. In ihrem 2024 erschienenen Buch „Der Pelikan – Das Leben der Lina Richter“ (Hartwig2024) zeichnet sie das Leben ihrer Urgroßmutter nach und würdigt deren eigenständige Rolle in der frühen Erlebnispädagogik. Gemeinsam mit Minna Specht und Waltraud Neubert spielte sie eine zentrale Rolle in der frühen Erlebnispädagogik. Ihr Artikel verdeutlicht, dass die Erlebnispädagogik schon von Beginn an maßgeblich von Frauen und Männern geprägt wird (Hartwig 2024).
Hendrick Fass
Hendrick Fass ist seit März 2023 Schulleiter der Internatsschule Schloss Salem. Zuvor leitete er zehn Jahre lang die Schule Birklehof wo er u.a. das musische Profil ausbaute und erlebnispädagogische Programme wie Outward Bound und den Duke of Edinburgh Award einführte. Hendrick Fass ist auch Mitgründer des bundesweiten Talentförderprogramms plus-MINT Deutschland. In seinem Beitrag beschreibt er, wie die Pädagogik der Gründungszeit heute in aktualisierter Form weitergeführt wird. „In dieser bewegten Zeit globaler und europäischer Krisen ist Salem ein optimaler Lebens- und Lernort, denn die Jugend erfährt hier im Geiste von Schulgründer Kurt Hahn Verantwortung mit Blick auf Demokratiebildung und Gemeinschaft“ (Pressemitteilung Schloss Salem 2023).
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband beinhaltet neben einem umfangreichen Geleitwort insgesamt neun Artikel von sieben Autor:innen.
Jörg W. Ziegenspeck: Geleitwort
Im biografischen Teil beschreibt der Autor, wie er sich in den 1980er Jahren als junger Erziehungswissenschaftler mit den Ideen Kurt Hahns auseinandersetzte. Geprägt von seiner eigenen Schulzeit in der Nachkriegszeit, reflektiert er über die Herausforderungen der Demokratisierung und die problematischen Kontinuitäten vieler pädagogischer Konzepte aus NS-Zeit. Hahns Ansätze boten ihm einerseits wertvolle Orientierung, andererseits aber auch Anlass zur kritischen Auseinandersetzung. Besonders im Fokus stehen Hahns Einfluss auf moderne Bildungsprozesse und die Kritik von Hartmut von Hentig. Ziegenspeck stellt die Frage, ob Hahns Erziehungsideale angesichts eines schwindenden demokratischen Gestaltungswillens heute noch zeitgemäß sind. Die Auseinandersetzung mit Hahn wird so zur Reflexion über Charakterbildung, Solidarität und Verantwortung in der heutigen Gesellschaft.
Marc Zirlewagen: Kurt Hahn – Eine biographische Notiz.
Marc Zirlewagen gibt einen kompakten Überblick über das Leben und Wirken Hahns. Er beschreibt die Herausforderungen, mit denen Hahn konfrontiert war, und geht dabei auch auf dessen ambivalentes Verhältnis zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus ein. Ergänzt wird der Beitrag durch die Nennung zahlreicher Wegbegleiter:innen sowie einer Auflistung der Ehrungen und Würdigungen die Hahn zu Lebzeiten erhielt.
Marc Zirlewagen: Zeugnisse über Kurt Hahn.
Hier werden verschiedene Aussagen über Kurt Hahn zusammengestellt, die unterschiedliche Aspekten seines Schaffens beleuchten – etwas die Gründung von Schloss Salem, seine Gedanken zur „Erziehung zur Verantwortung“ und das Konzept der „Erlebnistherapie“. Auch seine Ansichten zur Koedukation und zum Nationalsozialismus werden thematisiert. Die präzise zitierte Auswahl vermittelt den Leser:innen einen Einduck, wie Hahn wahrgenommen wurde und wird.
Michael Knoll: Kurt Hahn- ein politische Reformpädagoge.
Michael Knoll beleuchtet Hahns Lebensweg von der Jugend bis zu seiner Rolle als international anerkannter Reformpädagoge. Er zeigt, wie Hahn von einem politisch interessierten jungen Mann zu einer pädagogischen Persönlichkeit wurde. Dabei wird auch Hahns Emigration nach England dargestellt und die biographische Bedeutung anderer Lebensstationen nachgezeichnet. So wird der „bemerkenswerte Politiker und große Reformpädagoge jüdischen Ursprungs“ (Golo Mann), der „später Christ und Engländer wurde, in seiner Bedeutung als Vertreter der internationalen Friedens- und Sozialpädagogik“ (Ziegenspeck S. 22) vorgestellt. Am Ende wird Hahn als großer Pädagoge, kreativer Erzieher und genialer Organisator gewürdigt. Leider fehlen in dem Beitrag die Quellenangaben und damit die Möglichkeiten der Quellenkritik.
Angela Hartwig: Kurt Hahn und die Familie Richter.
Angela Hartwig beleuchtet die enge Verbindung zwischen Kurt Hahn und Lina Richter, die wesentlich zur Entwicklung von Schloss Salem beitrug. Bereits im Ersten Weltkrieg arbeitete Lina Richter mit Kurt Hahn zusammen. Sie war an vielen von Hahns reformpädagogischen Überlegungen beteiligt und ihre Zusammenarbeit erstreckte sich über Jahrzehnte. Sie trug wesentlich an der konkreten Umsetzung der pädagogischen Konzepte bei. Der Beitrag hebt Richters eigenständigen Bedeutung hervor und würdigt ihren Einfluss auf die frühe Erlebnispädagogik.
Werner Michl: Verwilderungswünsche, Abenteuerlust und Grenzerfahrungen – Anmerkungen zu Kurt Hahns Begriff der Erlebnistherapie.
Werner Michl stellt am Beginn seines Artikels Bezüge zwischen Kurt Hahns „Erlebnistherapie“ und der Tiefenpsychologie bzw. der Reformpädagogik her. Während Freud Erlebnisse als Ursache psychischer Traumata sah, betrachtete Hahn positive Erfahrungen als Mittel zur gesellschaftlichen Erneuerung. Inspiriert von Hermann Lietz entwickelte er eine spezifische Form eines Landerziehungsheims, in dem Forschungsgeist, körperliches Training, Erziehung und Gemeinschaft kombiniert wurde. Michl bezieht sich in weiterer Folge auf den von Hahn ab 1951 veröffentlichten Ansatz der „Erlebnistherapie“. Michl zeigt, dass Hahns Konzepte romantische Ideale mit pragmatischen Methoden verbinden und so „auf das echte Leben“ vorbereiten sollen. Hahn betonte stets, entgegen der oft geübten Kritik der potenziellen Weltfremdheit, die Bedeutung realer Herausforderungen. Michl hält fest, dass viele seiner Ansätze in der modernen Erlebnispädagogik und Bildung weiterhin relevant sind.
Hans Peter Heekerens: Kritische Anmerkungen zu Kurt Hahn.
Hans Peter Heekerens setzt sich mit Kurt Hahn, einer „Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“, kritisch auseinander. Heekerens hinterfragt Widersprüche in Hahns Denken, etwa seine autoritären Züge und seine teilweise konservativen moralischen Vorstellungen. Diese kritische Auseinandersetzung trägt dazu bei, ein differenzierteres Bild über Hahn zu gewinnen. Auch Hahns Netzwerke werden in Ausschnitten sichtbar gemacht. Sein Beitrag ist in vier akribisch recherchierten und auf eine Vielzahl von Quellen gestützt Abschnitten gegliedert. Im ersten lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen und diese weisen auf autoritäre, nationalistische und sexualmoralisch problematische Aspekte seiner Pädagogik hin. Im zweiten Abschnitt thematisiert er das politische Wirken Kurt Hahns und legt die bis weit in die Nachkriegszeit reichenden Netzwerke frei. Den dritten Abschnitt widmet er sich der problematischen, bzw. der eigentlich gar nicht vorhandenen, „Sexualpädagogik“ Hahns. Im letzten Abschnitt stehen seine Beziehungen zu Frauen im Zentrum. Diese hatten im Hintergrund einen großen Gestaltungsraum und Einfluss, gleichzeitig wurden aber die selbstständigen Leistungen seiner Weggefährtinnen von Hahn nie in den Vordergrund gerückt.
Henrik Fass: Kurt Hahn und Salem heute.
Henrik Fass beschreibt, wie Schloss Salem Hahns pädagogische Prinzipien heute weiterträgt und gleichzeitig an moderne Anforderungen anpasst. Das Leitmotiv „Erziehung zur Verantwortung durch Verantwortung“ bleibt erhalten, wird jedoch kontinuierlich weiterentwickelt. Salem versteht sich heute als Lernort, an dem Hahns Ideen nicht nur bewahrt, sondern aktiv fortgeführt werden – etwa in der Demokratiebildung und durch Gemeinschaftserfahrungen.
Marc Zirlewagen: 60 Jahre Kurt Hahn Archiv
Marc Zirlewagen hebt die Bedeutung des Kurt-Hahn-Archiv und der dazugehörigen Stiftung für die Bewahrung des Erbes Kurt Hahns hervor. Das Archiv stellt umfangreiche Materialien für die Forschung zu Hahns Leben und Wirken bereit. Die Stiftung selbst unterstützte seit ihrer Gründung über 650 Stipendiat:innen und trägt damit maßgeblich zur Umsetzung von Hahns Bildungsvison bei. Sie fördert nicht nur die Traditionspflege, sondern auch die Weiterentwicklung seiner Konzepte im aktuellen pädagogischen Diskurs.
Marc Zirlewagen: 40 Jahre Talente fördern und Zukunft stiften. Die Kurt Hahn Stiftung Marc Zirlewagen betont, dass Kurt Hahns Ideen auch heute noch Relevanz besitzen – allerdings nur dann, wenn sie an die aktuellen Herausforderungen angepasst werden. Der Sammelband zeigt: Die Weiterentwicklung von Hahns Erbe ist eine dauerhafte Aufgabe, die jede Generation neu gestalten muss.
Diskussion
Zu Beginn der Besprechung lässt sich inhaltlich gut an das Geleitwort von Jörg Ziegenspeck anschließen: „Die Vergangenheit in diesem Sinne verlebendigt zu haben, ist das große Verdienst von Marc Zirlewagen und den von ihm in diesem Sammelband zusammengeführten Arbeiten von kompetenten Autorinnen und Autoren.“ (Ziegenspeck S. 26).
Der Sammelband bietet eine fundierte, kompakte und dennoch detailreiche Darstellung zentraler Aspekte von Hahns Leben und Wirkens im deutschsprachigen Raum. Die Darstellung basiert auf der bisherigen deutschsprachigen Literatur. Darüber hinaus werden auch aktuelle Umsetzungen seiner Konzepte im Umfeld der Schule Schloss Salem diskutiert.
Kurt Hahn war ein progressiver Pädagoge in seiner methodischen Ansätzen, ein wertkonservativer Denker in seiner Haltung und ein international agierender Gründer (vgl. Stabler 1986, Flavin 1996). Im Zentrum dieses Sammelbandes stehen Hans pädagogischer Haltungen, erschlossen auf Grundlage seiner schriftlichen Überlieferungen im deutschsprachigen Raum.
Hahn war aber weniger schreibender Theoretiker als vielmehr Initiator, Propagandist, Lobbyist und Netzwerker (vgl. Heekerens S 121, Flavin1996, Friese 2000, Heekerens 2019, Heekerens 2021). Er verstand es, seine pädagogischen Ideen pointiert zu formulieren und sie auf zahlreichen Spendenreisen, Veranstaltungen, in Vorträgen bzw. Artikeln bewerben. Damit bewegte er Menschen zur Mitarbeit oder Finanzierung (vgl. Heekerens S. 121, Hartwig, S. 86, Friese 2000, Heekerens 2021) und konnte diese so in die Praxis umsetzen.
Die konkrete inhaltliche und praktische Umsetzung in den von ihm initiierten Institutionen lag über weite Strecken in den Händen anderer (vgl. Heekerens S. 127, Hartwig S. 86ff). Hahn wurde vielfach als gewinnende und inspirierend Persönlichkeit beschrieben zugleich jedoch auch als egozentrisch, ungeduldig, drängend und fordernd erlebt. Einen Einblick in die Ambivalenzen, die mit der Begegnung mit Kurt Hahn einhergehen konnten, vermittelt Angela Hartwig in ihrem Beitrag über Lina Richter (vgl. Hartwig S. 89). Es ist vermutlich die Trinität von visionärem Propagandisten, drängendem Umsetzer und kritischem Delegierer, die sein beeindruckendes Lebenswerk ermöglichte (vgl. Baig-Schneider 2024).
Dieser Sammelband folgt dem von Kurt Hahn selbst angestoßenen deutschsprachigen Narrativ einer von Salem aus kontinuierlich entwickelten, kohärenten Erlebnistherapie. Entwicklungen und Umbrüche im angloamerikanischen Raum zwischen 1933 und 1948 sowie ab den 1950er Jahren finden dabei nur wenig Berücksichtigung. Das betrifft insbesondere die verschiedenen Gründungsphasen, die jeweils mit dynamischen pädagogischen Schwerpunktsetzungen einhergingen, sowie die daraus resultierenden institutionellen Ausprägungen. Gerade diese Unterschiede führten jedoch zur vielgestaltigen „internationalen Erziehungsrepublik“ (Knoll S. 70). Der Begriff Erlebnistherapie, der erst 1951 aufkam, hat im internationalen Kontext keine Bedeutung.
In den von Kurt Hahn begründeten Einrichtungen waren, wie auch im Sammelband erwähnt, stets zahlreiche Persönlichkeiten aktiv an der konkreten Umsetzung beteiligt (vgl. insbesondere Hartwig S. 86, Ziegenspeck S. 21, Heekerens S. 127). Sie handelten dabei eigenverantwortlich und gestaltend. Bereits zu Hahns Lebzeiten entwickelten sich so dynamische Emanzipations- und Weiterentwicklungsprozesse auf struktureller und inhaltlicher Ebene. Diese Entwicklungen trugen wesentlich dazu bei, dass Hahns Ideen weltweit an aktuelle pädagogische Herausforderungen anknüpfen konnten. Sie waren daher auch strukturell von großer Bedeutung.
Durch die starke Fokussierung auf die Vorstellung einer in Salem entstandenen, scheinbar zeitlosen Erlebnistherapie werden diese Entwicklungen im deutschsprachigen jedoch Raum nur am Rande wahrgenommen. Entsprechend fließen die theoretischen und fachlichen internationalen Entwicklungen bis heute nur wenig in die modernen Erlebnispädagogik ein. In der ergänzenden Diskussion wird dieser Umstand anhand ausgewählter Aspekte des Sammelbands detaillierter dargestellt.
Dieser Sammelband ist aufgrund seiner fachlichen Tiefe und thematischen Breite ein herausragendes Werk für alle, die sich kompakt und dennoch differenziert über das Wirken des Pädagogen Kurt Hahn im deutschsprachigen Raum informieren möchten. Auf Grundlage der bisherigen rezipierten deutschsprachigen Literatur bietet er eine fundierte, prägnante und zugleich facettenreiche Darstellung zentraler Aspekte von Hahns Leben und seinen Einfluss auf die deutschsprachige Erlebnispädagogik.
Ergänzende Diskussion: das deutschsprachige Narrativ der Erlebnistherapie
Im Sammelband wird überwiegend von einem allgemein gültigen, im Salem entstandenen kohärenten Konzept einer Erlebnistherapie ausgegangen (vgl. Knoll S. 68ff, Michl S. 101ff). Auf die Zeit Kurt Hahns in Großbritannien zwischen 1933 und 1953 wird nur am Rande, bei Zirlewagen mit 9 Zeilen (Zirlewagen S. 39) bzw. bei Knoll mit 14 Zeilen (Knoll S. 61), bzw. nur biografisch in Bezug auf Lina Richter (vgl. Hartwig), eingegangen. Aber gerade zwischen 1933 und 1948 sind auf konzeptioneller, struktureller und institutioneller Seite dynamische Entwicklungsprozesse feststellbar, die bis heute nachwirken.
Gründungsphasen, dynamische Konzeptentwicklung und statisches Universalkonzept
Bei Kurt Hahn lassen sich drei Gründungsphasen mit unterschiedlichen pädagogischen Schwerpunkten und institutionellen Ausgestaltungen unterscheiden (vgl. Baig-Schneider 2025):
- Die Gründung von Internatsschulen (British Salem Schools) auf Basis seiner sieben Salemer Gesetzte (vgl. Hahn 1930) und der Idee der „grande passion“
- die Entwicklung eines Freizeitabzeichens, basierend auf den „vier Säulen“ körperliches Training, Expedition, Projektarbeit und Gemeinschaftsdienstes, umgesetzt in den Outward Bound Schools und dem Duke of Edinburgh‘s Awards
- die Gründung internationaler Internatsschulen nach dem Vorbild der British Salem Schools im Zeichen des Friedendienstes
Konzeptionell sind zwei inhaltliche Schwerpunkte erkennen:
- das schulische Internatskonzept
- das außerschulische Freizeitkonzept
Das schulische „British Salem System“ ist geprägt von der Idee der „grande passion“ und der Internatsgemeinschaft als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderung. Ausdruck dessen sind die 1930 in Englisch formulierten „7 Laws of Salem“ (Hahn 1930). Aufbauend auf diesem schulischen Internatskonzept entwickelte Hahn ab 1935 in Großbritannien die Idee eines freizeitpädagogischen Abzeichens (vgl. Hahn 1938a, Hahn 1938b, Hahn 1941). Dieses orientierte sich pragmatisch an vier zentralen Bereichen – den „fourfold achievements“ körperliches Training, Expedition, Projektarbeit und Gemeinschaftsdienst (vgl. County Badge Experimental Committee 1941). Daraus entstanden zwei unterschiedliche Umsetzungsformen: ab 1941 die Outward Bound Bewegung mit dem Fokus auf abenteuerliche Expeditionen in Projektform (vgl. Veevers/​Allison 2011, Freeman 2011) und ab 1956 in Form des Duke of Edinburgh‘s Award, der stärker auf den langfristigen Erwerb eines persönlichkeitsbildenden, sozialen Abzeichens ausgerichtet ist (vgl. Cobb 1986, Baig-Schneider 2025).
Trotz inhaltlicher Überschneidungen unterscheiden sich, vor allem bis 1944, die Konzepte in ihrer pädagogischen Begründung, der inhaltlichen Schwerpunksetzung und der institutionellen Umsetzung klar voneinander (vgl. Baig-Schneider 2022a). In dieser frühen Phase spielen Verfallserscheinungen und der moralisch geprägte Rettungsdienst noch keine explizite Rolle. Hahn zeigte sich in seinen pädagogischen Ideen und Konzepten bis etwa 1944 sehr dynamisch.
Ab 1944, zu einem Zeitpunkt als die institutionellen Grundlagen seiner Internatsschulen und seines Freizeitabzeichens bereits feststanden, sprach er von „decline and decay“ und von „activities which restore to the young the sources of human strength“ (Hahn 1944). Zunächst aber noch ohne klare Zuordnung der „declines“ zu den „activities“ Zwischen 1944 und 1948 ergänzte er seine Ideen, in Anlehnung an den amerikanischen Philosophen William James, mit dem Motiv des Rettungsdienstes als moralisches Äquivalent für den Krieg (Hahn 1948).
Erst ab diesem Zeitpunkt lässt sich ein englischsprachiges „Universalkonzept“ erkennen (vgl. Baig-Schneider 2022a). Ab 1951 transformierte er dieses für den deutschsprachigen Raum in das starre Konzept der „Erlebnistherapie“. Auf dieses wird im Sammelband überwiegend Bezug genommen. Hahn war jedoch ein pragmatischer Pädagoge, der international agierte und hauptsächlich auf Englisch publizierte und vortrug. Deshalb konnte er eine „“internationale Erziehungsrepublik“, die sich heute über fünf Kontinente erstreckt“ (Knoll, S. 70) begründen. Dieser Aspekt wird im Sammelband nur am Rande berücksichtigt. So finden sich bei den angeführten Zeugnissen über Kurt Hahn, dem international agierenden Pädagogen (vgl. Byatt 1976), keine einzige englischsprachige Persönlichkeit (vgl. Zirlewagen 46–55).
Netzwerker und Propagandist
Hahns Erfolg beruhte wesentlich auf seinem Netzwerk einflussreicher Unterstützer:innen. Dieser Aspekt wird im Sammelband angesprochen (vgl. Knoll, Hartwig, Heekerens), erhält aber jedoch, mit Ausnahme von Heekerens Beitrag (Heekerens S. 118ff), wenig strukturelle Bedeutung. Dabei orientierte sich Hahn bei der Umsetzung seiner Ideen stets pragmatisch an den zur Verfügung stehenden Ressourcen und war sehr flexibel in der Berücksichtigung der Vorstellungen seiner Unterstützenden. Seine ab 1933 stark zunehmenden Publikationen dienten hauptsächlich der Förderung seiner Projekte. Je nach Fokus waren diese Veröffentlichungen auf ein entsprechendes Zielpublikum zugeschnitten. Viele seiner Texte basieren auf Reden und Zeitungsartikeln, mit denen er sein Netzwerk pflegte, Menschen begeisterte oder die öffentliche Meinung beeinflussen wollte. Ein Beispiel ist seine Schrift „From boarding school zum training home“ in der sich zeigt, wie offen Hahn für verschiedene Formen der institutionellen Anbindung und der pädagogischen Scherpunktsetzung war (Hahn 1938).
Emanzipationsprozesse und Weiterentwicklungen
Hahns direkter Einfluss nahm meist nach einer Gründung ab. Andere übernahmen die Weiterentwicklung seiner Ideen. Der Sammelband zeigt dies anhand der Wegbegleiterinnen Minna Specht und Lina Richter (vgl. Hartwig, Heekerens). Diese Personen waren nicht nur Verwalter:innen, sondern gestalteten die „Hahnsche Erziehungsrepublik“ aktiv mit (vgl. Hartwig S. 86). Salem und Gordonstoun wären ohne Minna Specht, Lina Richter oder die Familien Zimmermann und Young (vgl. Veevers/​Allison 2011) kaum denkbar. Das Basiscurriculum für sein Freizeitabzeichen und die nachfolgende Umsetzung der Outward Bound Bewegung wurde maßgeblich von James Hogan (vgl. Hogan 1968) geprägt. Das Curriculum und die institutionelle Entwicklung des Duke of Edinburgh‘s Awards wurde stark von John Hunt beeinflußt (vgl. Hunt 1978 und Cobb 1986). Ohne Josh Miner gäbe es keine Outward Bound Bewegung in den USA (vgl. Miner/​Boldt 1981). Ziegenspeck bringt es in Bezug auf Zirlewagens Beitrag(vgl. Zirlewagen S. 30–44) auf den Punkt: „Dabei bleibt es nicht aus, dass viele Namen von Persönlichkeiten fallen, die Kurt Hahn nahestanden, ihn berieten und mit ihm im Gespräch waren […] die wie Kurt Hahn selbst, inzwischen historische Bedeutung haben“ (Ziegenspeck S. 21).
Diese Persönlichkeiten waren bereits zu Hahns Lebzeiten aktiv und führten mit ihm teils heftige Diskussionen. Aufgrund der ihnen praktisch zur Verfügung stehenden gestalterischen Möglichkeiten ergaben sich spätestens ab den beginnenden 1950er-Jahren in den verschiedenen Institutionen nachhaltige inhaltliche und strukturelle Emanzipationsprozesse. Zunächst in Großbritannien (vgl. Freeman, 2011), später auch im deutschsprachigen Raum (vgl. Friese, 2000). Im Zuge eines solchen Prozesses trat Hahn, vermutlich auch aus gesundheitlichen Gründen, 1953 als Schulleiter von Gordonstoun zurück (vgl. Zirlewagen S. 36, Friese 2000). Er kehrte in die Nähe von Salem zurück. Auch diese Rückkehr verlief nicht spannungsfrei, wie Ziegenspeck in seinem Geleitwort betont:
„Ohne die Rückkehr des Reformpädagogen aus dem englischen Exil wäre es in Salem wohl kaum gelungen, Anschluss an das ursprüngliche Konzept zu finden […] Das Vorher und das Nachher aber zeigte Bruchstellen, sodass eine kritiklose Wiederbelebung unmöglich war. Insbesondere für Kurt Hahn muss das mehr als schmerzlich gewesen sein, was er seine Kritiker durchaus auch spüren ließ“ (Ziegenspeck S. 9).
Hahn konnte die Entwicklungen in seinen Einrichtungen immer weniger mittragen. In seinen späteren Publikationen trat das Beharren auf ein universelles Konzept auf. Aus dem visionären Gründer wurde zunehmend eine beharrende „graue Eminenz“, die vielerorts nur noch am Rande wahrgenommen wurde (vgl. Byatt 1974). Die dynamischen Entwicklungsprozesse stehen im Sammelband weniger im Mittelpunkt, sondern die Auseinandersetzung mit Hahns theoretischem Konzept der Erlebnistherapie.
Von den „healing experiences“ zur Erlebnistherapie
Rund um den Zeitpunkt seiner Rückkehr bemühte sich Kurt Hahn, im deutschsprachigen Raum eine Outward Bound School, Kurzschule genannt, zu gründen (vgl. Heekerens 2021). Wie bei früheren Gründungen nutze er sein Netzwerk, organisierte viele Überzeugungsveranstaltungen und betrieb eine aktive Pressearbeit (vgl. Heekerens S. 122, Heekerens 2021). Hahn publizierte zwischen 1933 und 1946 ausschließlich auf Englisch und nutzte in dieser Zeit dementsprechend nur englischen Begriffe. Da der Begriff „Abenteuer“, character training through adventure“ war ein viel verwendetes Schlagwort in den britischen Outward Bound Schools (Freeman 2011), im Nachkriegsdeutschland wegen der NS-Vergangenheit problematisch war, musste ein neuer Begriff gefunden werden. Aus Formulierungen wie „preventive cure“ und „health giving experiences“ (Hahn 1938) bzw. „healing experiences“ (Hahn 1944) wurde schließlich der Begriff Erlebnistherapie (Hahn 1951). Warum Hahn gerade den Begriff „Erlebnis“ wählte, den er zuvor nur gelegentlich und ohne inhaltliche Erklärung, verwendet hatte, um „Adventure“ und „Experience“ zu übersetzen ist bislang nicht geklärt. „Erlebnis“ ist allerdings in der modernen Erlebnispädagogik, wie auch in diesem Sammelband, als Überbegriff für eine lebendige pädagogischen Praxis zu verstehen und weniger als theoretischer Fachbegriff.
Das deutsche Narrativ der Erlebnistherapie
Erst im Zuge des Rückkehrprozesses nach Deutschland propagiert Kurt Hahn ab 1951 mit der Erlebnistherapie (vgl. Heekerens, 2019) eine speziell für den deutschen Raum aufbereitete Version seines erst 1948 fertiggestellten Universalkonzepts (Hahn 1951, Hahn 1952). Dabei blendete er die unterschiedlichen organisatorischen Entwicklungen und Ausgestaltungen aus und projizierte dieses Konzept rückblickend auf Salem zurück: „Die in Salem demonstrierte Erlebnistherapie bildet die Grundlage der Outward Bound Bewegung“ (Hahn 1957). Damit führt er ein spezifisches, historisch nicht haltbares Narrativ in die deutschsprachige Literatur ein. Dieses beruht auf drei zentralen Aussagen, die bis heute, auch in diesem Sammelband, nachwirken:
- Es gibt im deutschsprachigen Raum eine lineare pädagogische Konzeptentwicklung von Salem (1920) bis zur Gründung der Kurzschulen (1952), die die Entwicklungen im angloamerikanischen Raum ausspart
- Das Erlebnis ist ein zentraler Begriff dieses pädagogischen Konzepts
- Der Kern der Erlebnistherapie besteht in der festen Verknüpfung von vier Verfallserscheinungen mit vier spezifischen pädagogischen Heilmitteln.
Dadurch ergibt sich für den deutschsprachigen Raum ein spezifisches Deutungsangebot. Die vier Schwerpunkte seines Freizeitabzeichens werden in der Erlebnistherapie strikt mit vier Verfallserscheinungen gekoppelt. Dadurch erhält die Erlebnistherapie eine defizitorientierte Ausrichtung. In der englischen Tradition hingegen gelten diese vier Schwerpunkte seit 1941 als ressourcenorientierte „Säulen“ der Persönlichkeitsentwicklung und haben damit überwiegend keine defizitäre Konnotation (vgl. Outward Bound Trust).
Hahn führte wie gesagt den Begriff „Erlebnisses“ zwar sehr präsent ein, allerdings ohne ihn näher zu definieren. Die lineare Erzählweise kann als Versuch Hahns gedeutet werden, seinem in der Realität schwindenden Einfluss entgegenzuwirken. In der Praxis führte dies dazu, dass sich in Großbritannien und den USA dynamische (Weiter)Entwicklungsprozesse ergaben (vgl. Freeman 2011, Seaman et all 2020, Baig-Schneider 2022b), während man sich in der deutschsprachigen Fachliteratur überwiegend mit dem Konzept der Erlebnistherapie begnügte. Dabei wurde bis heute der Begriff „Erlebnis“ fachlich nicht klar verortet, auch wenn beim Einsetzen der modernen Erlebnispädagogik Ansätze zu finden sind (vgl.Fischer/​Ziegenspeck 2000, Schott 2003, Schenz 2006, Baig-Schneider 2023b). Da die internationalen Entwicklungen ausblendet wurden, konnte dementsprechend auch kein direkter Bezug hergestellt werden (vgl. Baig-Schneider 2021a). Die theoretisch-curricularen Entwicklungen aus dem angloamerikanischen Raum, insbesondere die bereits zu Hahns Lebzeit begonnene Verknüpfung mit den Theorien von John Dewey (vgl. Seaman et al 2020), auf den sich Hahn selbst nie bezog, fanden im deutschsprachigen Raum kaum Niederschlag. Sie wurden meist nur als methodische Ergänzung in die moderne Erlebnispädagogik integriert.
Folgen des deutschsprachigen Narratives und Ausblick
Abgesehen von diesen methodischen Übernahmen blieb man theoretisch überwiegend beim Narrativ der pädagogischen Erlebnistherapie. Die Versuche, vor allem auch beim Einsetzen der modernen Erlebnispädagogik, diese mit anderen pädagogischen Traditionen und Bezügen integrativ zu verknüpfen, blieben daher oft wenig nachhaltig.
Der Prozess, die moderne deutschsprachige Erlebnispädagogik auf eine breitere inhaltliche Basis zu stellen und sie kohärent sowie systematisch weiterzuentwickeln, begann mit dem Impuls Jörg Ziegenspecks im Jahr 1986. Seitdem wurde er durch zahlreiche Beiträge – darunter viele der Autoren dieses Sammelbandes – bereichert, abgeschlossen ist er bis heute nicht.
Diese Rezension versteht sich als ein Versuch, sich dieser Herausforderung zu stellen und mögliche Brücken zu schlagen. Sie endet daher mit den Worten Jörg Ziegenspecks aus diesem Sammelband:
Mit Golo Mann kann das folgendermaßen expliziert werden: „Jede Generation muss sich ihren Begriff von der Vergangenheit selber machen. Keine begnügt sich mit dem, was andere vor ihr leisteten, mögen sie auch Meister gewesen sein. Die Vergangenheit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrungen und Fragestellungen. Das Spätere kommt aus dem Früheren; es wirkt aber auch auf das Frühere zurück, durch welches es bedingt ist“. Die Vergangenheit in diesem Sinne verlebendigt zu haben, ist das große Verdienst von Marc Zirlewagen und den von ihm in diesem Sammelband zusammengeführten Arbeiten von kompetenten Autorinnen und Autoren. Hieran anzuschließen und aufzubauen wird den nachfolgenden Generationen damit gleichzeitig zur Aufgabe und Pflicht. Es bedarf nicht des Bruchs, wir benötigen Brückenbauer“ (Ziegenspeck S. 26).
Fazit
Der Sammelband bietet eine fundierte, kompakte und detailreiche Darstellung zentraler Aspekte von Hahns Leben und Wirken im deutschsprachigen Raum. Die Grundlage bildet dabei die bisherige rezipierte deutschsprachige Literatur. Weniger im Fokus steht Hahns Rolle als internationaler Pädagoge, Netzwerker und Begründer einer „internationalen Erziehungsrepublik“ sowie der Einfluss seines Narrativs auf die moderne Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum. Der Sammelband ist daher besonders für Leser:innen zu empfehlen, die sich kompakt, fachlich fundiert und mit thematischer Tiefe über Hahns Wirken im deutschsprachigen Raum informieren möchten.
Literatur
Baig-Schneider, R. (2018): Was nach 1945 kam. Die Entwicklung zur modernen Erlebnispädagogik. In: W. Michl und H. Seidel (Hrsg.): Handbuch Erlebnispädagogik (2. Auflage), München: Reinhardt.
Baig-Schneider, R. (2021a). Entwicklungsprozesse zur modernen Erlebnispädagogik im internationalen Kontext. In: erleben und lernen, Heft 3&4, (58-60).
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Rezension von
Mag. Rainald Baig-Schneider
Mag. phil., Erlebnispädagoge be, Leitung Bereich Bildung&Erlebnispädagogik des Arbeitskreis Noah
Forschungsschwerpunkt: Theorie und Praxis der modernen Erlebnispädagogik
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