Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 07.03.2025

Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Unionsverlag (Zürich) 2024. 379 Seiten. ISBN 978-3-293-00603-4. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 35,00 sFr.
Thema
Der ungelöste Nahostkonflikt aus der Sicht eines Historikers palästinensischer Herkunft und unter Berücksichtigung seiner eigenen familiären Geschichte.
Autor
Rashid Khalidi ist 1948 in New York geboren, hat in Yale und Oxford studiert und bekleidet den Lehrstuhl für Modern Arab Studies an der Columbia University/New York und ist Mitherausgeber des Journal of Palestine Studies.
Entstehungshintergrund
Ist der immer noch ungelöste Nah-Ost-Konflikt zwischen Israel und Palästina, der auch Teil der Lebensgeschichte der Familie des Autors ist, und durch den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und den anschließenden Gaza-Krieg erneut eine destruktive Aktualität bekommen hat.
Aufbau
Wie schon der Titel sagt, handelt es sich um die hundertjährige Geschichte Palästinas, die schrittweise ‚Kolonisation‘ die mit der zionistischen Bewegung begann. Entsprechend geben die sechs Unterkapitel den zeitlichen Ablauf dieser ‚Kriegserklärungen‘ aus palästinensischer Sicht wieder: 1917–1939, 1947–1948, 1967, 1982, 1987–1995, 2000–2014, gefolgt von einen Rückblick und Ausblick ‚Ein Jahrhundert des Krieges‘ und einem Schlusskapitel aus aktuellem Anlass ‚Inmitten des jüngsten Krieges: Nachbemerkung zur deutschen Ausgabe‘.
Vorwort
Khalidi stellt in diesem Buch sechs Wendepunkte nach der Balfour-Deklaration 1917 (Gründung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk) im Kampf um Palästina vor, die über das Schicksal der Palästinenser entschieden haben, und den vom Beginn an ‚kolonialen Charakter‘, beschreiben. Er greift dabei sowohl auf persönliche familiäre Erfahrungen als auch auf wissenschaftliche Ergebnisse zurück.
1917-1939: Die erste Kriegserklärung
1917 mussten sich die Palästinenser mit der Londoner Kolonialmacht, die an die Balfour-Deklaration gebunden war, und mit der jüdischen Siedlerbewegung befassen. Letztere enthielt sowohl eine nationale Mission, als auch eine ‚biblische religiöse Rechtfertigung‘ und verfügte über internationale Unterstützung und finanzielle Ressourcen. 1922 teilte die britische Regierung das Mandatsgebiet in den Teil westlich des Jordans (jüdische Heimstätte) und östlich (Emirat Transjordanien). Bereits vor dem Abzug der Britten 1948 hatte sich so etwas wie ein junger jüdischer Staat entwickelt.
1947-1948: Die zweite Kriegserklärung
1947 kam es nach einer UN-Abstimmung zu einer Teilung des verbliebenen Landes, der Gründung des Staates Israel 1948 und dem arabisch-israelischen Krieg mit den katastrophalen Folgen (Nakba) für die Palästinenser (Vertreibung, Enteignung, Entwurzelung). Nur ein kleiner Teil konnte sich der Vertreibung entziehen. Die zionistische Bewegung und die verstärkte Einwanderung nach dem Holocaust wurden von den USA unterstützt, während die Arabische Liga die Palästinenser enttäuschte. Infolgedessen verloren sie zunehmend die Kontrolle über ihr Land. Eine ‚ethnische Säuberung‘ hatte bereits partiell vor dem Teilungsplan begonnen. Es fehlte eine Unterstützung für einen eigenen Staat und gegenseitigen Terrorangriffen, z.B. 1956 durch israelische Besatzungstruppen zu Massakern durch israelische Besatzungstruppen im Gazastreifen und den Flüchtlingslagern (Chan Yunis und Rafah).
1967: Die Dritte Kriegerklärung
Bei einer multilateralen Nahost-Friedenskonferenz unter Jimmy Carter 1967 sollte es um die Einbeziehung aller Konfliktparteien, u.a. die PLO als Vertretung der Palästinenser, zur Gründung eines eigenen Staates gehen. Einspruch kam von der neu gewählten Likud-Regierung in Israel und vom ägyptischen Präsidenten. Auch beim bilateralen Camp-David-Prozess, der 1979 zu einem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag führte, war die PLO ausgeschlossen und wurde die ‚Kolonisierung‘ (zunehmende Landnahme Palästinas durch Siedler) fortgesetzt. Die PLO sah sich mit der israelischen, syrischen und libanesischen Armee konfrontiert, und im ‚Verborgenen‘ auch mit USA, Iran und Saudi-Arabien.
1982 - Die Vierte Kriegerklärung
Der Libanon, vor allem Beirut, war bereits in die kriegerischen Auseinandersetzungen (Luftangriffe und Invasion) Israels gegen die PLO einbezogen, die vor allem die Zivilbevölkerung trafen. Aufgrund von US-Zusicherungen verließ die PLO Beirut, dennoch wurden die israelischen Angriffe fortgesetzt, u.a. auf die Flüchtlingslager Sabra und Schatila. Eine Folge von 1982 war der Aufstieg der Hisbollah im Libanon (Feindschaft gegen Israel und USA). Gleichzeitig bildete sich in Israel eine Gegenbewegung ‚Peace Now‘ gegen die fortgesetzten kriegerische Auseinandersetzungen.
1987-1995 - Die fünfte Kriegerklärung
Eine erste Intifada (Aufstand) begann in den besetzten Gebieten Palästinas, der von Israel niedergeschlagen wurde, während die PLO gelähmt in Tunis saß. Das Camp-David-Abkommen und der israelisch-ägyptische Friedensvertrag 1979 wurde – auch aufgrund von Fehleinschätzungen von Jassir Arafat und der Abhängigkeit vom Irak – auf Kosten der Palästinenser abgeschlossen. 1992 legten sie einen Entwurf für eine palästinensische interimistisches Selbstverwaltungsbehörde (PISGA) vor, den Israel nicht akzeptierte. Innerpalästinensische Spannungen und der Druck und die Überlegenheit Israels verhinderten auch beim Oslo-Abkommen 1994 eine politische Lösung (z.B. die Bildung eines souveränen palästinensischen Staates).
2000-2014 - Die sechste Kriegserklärung.
Die ‚Kolonisierung‘ durch die Siedler wurde seitens Israel fortgesetzt, die Lebensbedingungen in Palästina verschlechterten sich zunehmend und bestimmten den Alltag. Es kam zur zweiten Intifada nach der Besetzung des Ostteils von Jerusalem durch Israel und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter der Führung der Hamas und ihres Juniorpartners Islamischer Dschihad. Arafat starb 2004, und Abbas hat seit 2009 kein demokratisches Mandat mehr. Wegen des Gazastreifen kam es 2008/2009 zu kriegerischen Auseinandersetzungen und 2014 zu einer israelischen Bodenoffensive. Die Parlamentswahlen 2006 hatte die Hamas gewonnen, gegen ihre Aufnahme in eine Koalition legte Israel jedoch in Veto ein (das ‚Terrorismus-Etikett‘ war allerdings nicht nur ein Etikett). Dennoch übernahm die Hamas die Kontrolle in Gaza. In der Folgezeit prägten gegenseitige Angriffe den Alltag. Ein Friedensprozess hatte auch in der amerikanischen Außenpolitik keine Priorität mehr.
Rückblick und Ausblick. Ein Jahrhundert des Krieges
Dass es sich um eine fortgesetzte Besetzung palästinensischer Gebiete handelt, zeigte sich als Trump Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärte und die amerikanische Botschaft dorthin verlegte. Auch bestehen seitens Israel nach wie vor Pläne für eine Annexion des palästinensischen Westjordanlandes. Auch bestehen die Ungleichheit und Einschränkungen der Rechte der Palästinenser, die in Israel wohnen, nach wie vor. Illusionen halten sich auf beiden Seiten: Bei den Israelis die Verzerrungen des Geschichtsbildes (sie kamen nicht in ein ‚leeres Land‘) und bei den Palästinensern, dass die Israelis kein ‚richtiges Volk‘ seien. Gespräche müssten auf der Grundlage gegenseitiger gleichberechtigter Anerkennung erfolgen, wenn es überhaupt zu einem Ende der hundertjährigen ‚kriegerischen Auseinandersetzung‘ kommen soll. Denn die Israelis werden das Land nicht wieder verlassen, aber die Palästinenser ebenfalls nicht. Nur gemeinsam kann Stabilität und Gerechtigkeit durch gegenseitige Anerkennung und einen dauerhaften Frieden hergestellt werden.
Inmitten des jüngsten Krieges. Nachbemerkung zur deutschen Ausgabe
Der Terror-Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und seine Folgen für die Israelis und die Palästinenser in Gaza hat inzwischen vor allem zivile Opfer gekostet und zwar auf beiden Seiten, wenn auch stärker unter den Palästinensern. Das sind die Folgen dieses ungelösten ‚kolonialen‘ Krieges. Der Terror der Hamas hat zu einer tiefgreifenden Erschütterung der israelischen Gesellschaft geführt; die Folgen für die Palästinenser lassen sich noch nicht abschätzen. Die Autonomiebehörde in Ramallah hat keine Legitimation mehr, aber die Gleichgültigkeit gegenüber den palästinensischen Opfern auch nicht. Ein Frieden auf der Basis gegenseitiger Anerkennung, Akzeptanz und gleichen Rechten sind für die zukünftigen Generationen die einzige Lösung.
Diskussion
Dieses Buch, das eine über 100 Jahre alte Geschichte von ökonomischen, ideologischen, kriegerischen, diplomatischen, terroristischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern engagiert, was die Folgen anbetrifft, beschreibt, ist fokussiert auf die palästinensische Perspektive. Die israelische Sicht fehlt nicht ganz, verdiente aber nach dem Überfall der Hamas 2023 und früheren Traumatisierungen (Antisemitismus und Holocaust) auch eine Berücksichtigung.
Khalidi beschreibt einen von Anfang an bestehenden Konflikt, da die Israelis nicht in ein ‚leeres Land‘ kamen, und es sich aus palästinensischer Sicht um eine ‚Kolonisation’ durch ökonomische, administrative und (kalte und heiße) kriegerische Gewalt handelte. Allerdings fehlte es auch den Palästinensern an Einheit und Geschlossenheit, anstelle von Terror eigene nationale Ziele ohne Gewalt durchzusetzen.
Die Geschichte der Vertreibung der Palästinenser aus ihrem angestammten und bewohnten Land wird als ein Kolonisierungsprozess beschrieben, indem mit ökonomischer (Landkäufe) und militärischer Macht eine zunehmende Inbesitznahme erfolgte, mehr oder weniger unterstützt durch England und die USA, aber auch historisch vor allem nach dem Holocaust durch die Einwanderung von jüdischen überlebenden Opfern aus Europa.
Die ursprünglich religiös begründete ‚Heimkehr‘ in das gelobte, von Gott versprochene Land als mythologische und religiöse Überzeugung hat inzwischen ihre Berechtigung verloren, da nicht alle Israelis religiös sind, nicht alle Juden und nicht alle Zionisten. Eher handelt es sich inzwischen um das Projekt einer ‚verspäteten Nation‘, das ohne die massive moralische, finanzielle und militärische Unterstützung, vor allem von den USA, sich nicht so hätte behaupten und entwickeln können, was vom Autor als ‚Kolonisierung‘ nicht nur bezeichnet, sondern auch – nachvollziehbar – so erlebt wird. Diese wurde intensiviert nach der Staatsgründung Israels und dem arabisch-israelischen Krieg mit der Folg einer massiven Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die als Nakba (‚Katastrophe‘) in die Geschichte der Palästinenser eingegangen ist und einer Kontolle des palästinensischen Westjordanlandes (inzwischen auch wieder von Gaza), deren Status bis heute nicht autonom ist. Militarisierung gibt es auf beiden Seiten, wobei die überlegene israelische Armee auch die gegen geltendes Recht verstoßende Siedlerbewegung schützte, und schützt.
Die negative Entwicklung hat auf beiden Seiten zu kriegerischen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Opfer unter der Zivilbevölkerung – an Zahl höher bei den Palästinensern als bei den Israelis – geführt. Dennoch ist die ‚Kolonisierung‘ bislang nicht erfolgreich, und deshalb muss der Status geklärt werden: Zwei Staaten mit gegenseitiger Anerkennung, oder e i n Staat mit einer Verfassung, die zwei Nationalitäten einen gleichberechtigen Status garantiert.
Denn: In politischen und sozialen Konflikten ergibt nicht ‚minun mal minus plus‘ sondern -dass alles nur noch schlimmer ist oder wird. (Adorno)
Fazit
Lesenswert, aber kritisch zu lesen und zum Nachdenken anregend.
Das Buch ist leidenschaftlich von einem Autor palästinensischer Herkunft geschrieben und liest sich zeitweise wie eine Anklageschrift, dennoch ist der Autor nicht unsensibel für die Traumatisierungen und Verletzungen Israelischer Bürger. Da die ‚Kolonisierung‘ durch Israel bislang am Widerstand der Palästinenser gescheitert ist, bleibt nur der Weg einer gegenseitiger Anerkennung und Verhandlung oder eine Fortsetzung des ‚Krieges‘ mit weiteren Opfern auf beiden Seiten.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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