Ernst G. De Langen: Sprachverlust und Gehirn - Fallbeispiele
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 05.06.2025

Ernst G. De Langen: Sprachverlust und Gehirn - Fallbeispiele. Erkenntnisse aus Klinik und Wissenschaft. Springer (Berlin) 2024. 219 Seiten. ISBN 978-3-662-68945-5. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 55,50 sFr.
Thema
Die Sprache kann gegenwärtig als eines der Alleinstellungsmerkmale der Specie Homo sapiens bezeichnet werden. Die hypertrophe Ausgestaltung der Großhirnrinde und hierbei besonders das präfrontale Areal werden meist als primäre Ursache für diese Kompetenz angeführt (Roth 2010). Wenn nun deutliche Einbußen im Sprechen und auch im Schreiben vorliegen, dann sind vor allem Erkenntnisse der Neurologie und Neuropsychologie im diagnostischen und therapeutischen Bereich der Zugang zur Behandlung. In der vorliegenden Publikation wird anhand von Fallstudien und Fallbeispielen das weite Spektrum an erworbenen Störungen u.a. in den Bereichen Sprache, Schriftsprache und Artikulation aufgezeigt. Des Weiteren wird die Pathogenese der Störungen erläutert und der Bezug zur funktionellen Neuroanatomie beschrieben.
Autor
Dr. Ernst G. de Langen (Studium der Phonetik und der sprachlichen Kommunikation, Psycholinguistik und Sprechwissenschaft, Habilitation in Allgemeiner Sprachwissenschaft und Patholinguistik) ist in der Klinik für Neurologie/​Neuropsychologie des Klinikums Passau tätig.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit besteht aus 21 Kapiteln. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen illustrieren den Text.
In den ersten vier Kapiteln wird Grundsätzliches zu den Sprachstörungen ausgeführt. So wird zu Beginn ausdrücklich auf die Komplexität der erworbenen Sprachstörungen hingewiesen, die einen multidisziplinären Zugang erforderlich macht. Von Bedeutung sind hierbei vor allem neurowissenschaftliche Erkenntnisse, um ein Verständnis für Diagnostik und Therapie krankhafter Veränderung im Sprachverhalten ermitteln zu können. Diesbezüglich wird auf neueres Wissen hingewiesen, demnach sich das Sprachvermögen nicht auf wenige Zentren im Gehirn beschränkt, sondern sich netzwerkartig über verschiedene kortikale Areale erstrecken soll. Neue Erkenntnisse sind hierbei vor allem der Entwicklung der Neuroradiologie zu verdanken. Musste früher erst das Ableben der Sprachgestörten abgewartet werden, um post mortem die physiopathologischen Befunde ermitteln zu können, so können gegenwärtig dank Computer- und Kernspintomographie bereits in-vivo die radiologisch sichtbaren Korrelate des Sprechens und auch der Sprachstörungen beobachtet werden. Methodische Ansätze in diesem Forschungsbereich sind u.a. neben der Phylogenese und Ontogenese, degenerative Prozesse, neurophysiologische Methoden, molekulargenetische Ansätze und Läsionsanalysen nebst Klinik. Es folgen Ausführungen über die „Architektur der Sprache“ (das psycholinguistische Logogen-Modell als „Bauplan der Sprache“) und kritische Anmerkungen zum Begriff des Syndroms im linguistischen Bereich aufgrund einer fehlenden Homogenität („Standardsyndrome“ wie globale Aphasie, Broca-Aphasie, Wernicke-Aphasie und amnestische Aphasie). So konnte z.B. bei frontalhirngeschädigten Schlaganfallpatienten mittels bildgebender Verfahren gezeigt werden, dass Schädigungen subkortikal gelegener Nervenfaserbündel und nicht die Broca-Areale mit ihren Läsionen die entscheidenden Ursachen für Aphasien sind.
In den folgenden Kapiteln (Kapitel 5 – 19) werden u.a. die folgenden Fallbeispiele pathogener Störungen aus dem Spektrum der Sprachbeeinträchtigungen und -störungen einschließlich verschiedener Formen von Lese-, Schreib- und Rechenschwächen mitsamt den Behandlungsmöglichkeiten und Heilungschancen detailliert dargestellt:
- Aphasien: transkortikale Aphasie, Leitungsaphasie, akute Aphasie, zerebelläre Aphasie und primär progriente Aphasie
- Neurogener Mutismus (krankheitsbedingtes Schweigen)
- Automatisierte Sprache (Disinhibition bzw. Enthemmung: u.a. Perseverationen und Echolalien)
- Tiefenalexie (partielle Lesestörungen)
- Neglectdyslexie (schlaganfallbedingte Lesestörung)
- Neurogene Redeflussstörung (Stottern)
- Spasmodische Dysphonie (neurologisch bedingter Sprechkrampf)
Langen führt aus, dass bei Sprachstörungen überwiegend Schlaganfälle (Hirninfarkte) mit damit verbundenen Läsionen in bestimmten Hirnarealen die Ursache für das Leiden (ca. 80 Prozent) sind. Bei den Schlaganfällen selbst ist bei 30 Prozent der Fälle eine Aphasie ein Krankheitssymptom nebst der Möglichkeit einer Spontanremission. Weitere Ursachen für die sprachbezogenen Minder- und Fehlleistungen sind u.a. Schädel-Hirn-Trauma, neurodegenerative Erkrankungen (u.a. Demenzen). Doch auch posttraumatische Belastungen und neuropsychiatrische Kommunikationsstörungen können Gründe für diese Defizite sein. Weitere Ätiologien sind Dauerstress verbunden mit einem massiven Schlafmangel und Intoxikationen einschließlich Drogenmissbrauch. Und auch die Genetik ist hierbei von Bedeutung.
Bezüglich der Behandlung und der therapeutischen Ziele wird angeführt, dass hierbei das Spektrum je nach Krankheitsursache und Schweregrad recht vielschichtig ist. So kann in vielen Fällen eine Heilung erzielt werden. Bei chronischen Verläufen kann durch Therapie eine Verbesserung bzw. Stabilisierung der Kommunikationsfähigkeit herbeigeführt werden. Bei neurodegenerativen und damit progredienten Erkrankungen wird teilweise eine Verlangsamung der sprachbezogenen Symptomatik erreicht. Der Autor weist u.a. darauf hin, dass in manchen Fällen nicht nur das Hirn, sondern auch die Seele stark beeinträchtigt ist, so dass neben der Sprachtherapie auch zusätzlich eine Psychotherapie indiziert ist. Des Weiteren führt er aus, dass es in diesem großen Bereich von krankhaften Einbußen der verschiedenen Kommunikationsformen auch Fälle gibt, die gegenwärtig noch nicht therapiert werden können.
In den beiden abschließenden Kapiteln (Kapitel 20 und 21) beschäftigt sich der Autor u.a. mit der evolutionären Perspektive der Sprachentwicklung, also der stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese). So vertritt er u.a. die Ansicht, dass manche Störungen in diesem Bereich erst zu verstehen sind, wenn allseits anerkannte und damit empirisch überprüfbare Erkenntnisse über die Entstehung der Sprache bei den humanoiden Primaten vorliegen würden. So beschäftigt sich gegenwärtig der fachliche Diskurs u.a. mit der Frage, ob sich die Sprache aus der Kommunikation mittels Gesten entwickelt haben könnte. Oder ob hierbei eventuell ein paralleler oder hybrider Prozess anzunehmen ist.
Diskussion
Eine äußerst faktenreiche und vielschichtige Publikation liegt hier vor. Man spürt, dass der Autor nicht nur über jahrzehntelange Erfahrung als Therapeut verfügt, sondern dass er gleichzeitig im wahrsten Sinne auch ein Sprachforscher ist. So versteht er es, das Strukturgefüge und gleichzeitig auch die Interaktionen in den verschiedenen Hirnareale bezüglich der menschlichen Kommunikation plastisch und auch für Berufsfremde nachvollziehbar darzustellen. Die Fallbeispiele zeigen deutlich, mit welchen seelischen Qualen Sprachstörungen verbunden sind. Wenn die Betroffenen ihr Denken nicht mehr angemessen kommunizieren können, wenn sie manchmal um jedes Wort oder jeden Satz innerlich kämpfen müssen, dann kann man die damit verbundene Verzweiflung nachvollziehen. Gleichzeitig wird aber auch damit bewusst gemacht, welche Bedeutung die Sprachtherapie für das Wohl der kommunikativ massiv eingeschränkten Patienten besitzt.
Fazit
Laut Klappentext wird das Fachbuch als eine „Fundgrube“ für Sprachtherapeuten und Interessierte aus den Disziplinen Logopädie, Neurologie und Neuropsychologie angekündigt. Dieser Einschätzung kann sich der Rezensent voll anschließen.
Literatur
Roth, G. (2010) Wie einzigartig ist der Mensch. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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