Francis Seeck, Claudia Steckelberg (Hrsg.): Klassismuskritik und Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Nicole Biedinger, 10.03.2025

Francis Seeck, Claudia Steckelberg (Hrsg.): Klassismuskritik und Soziale Arbeit. Analysen, Reflexionen und Denkanstöße.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
248 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7871-8.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: Diversität in der Sozialen Arbeit.
Thema
Der Sammelband mit dem Titel „Klassismuskritik und Soziale Arbeit“ darf nicht falsch verstanden werden als ein Sammelband mit Kritik zur Diskriminierung entlang der Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Sondern es geht vielmehr darum, Klassismus unter verschiedenen Perspektiven kritisch zu beleuchten, so z.B. aus der Perspektive von betroffenen Personen, historisch betrachtet oder im Rahmen des Studiums der Sozialen Arbeit. Da die Herausgeberinnen die Beschäftigung mit Klassismus für die Soziale Arbeit als zentral erachtet, stellen alle Kapitel mehr oder weniger explizit einen Bezug zur Sozialen Arbeit her. Besonders wird dabei der Blick auf die Verschränkungen mit anderen Formen der Diskriminierung geschärft und viele auch für die Praxis relevante Denkanstöße gegeben.
Herausgebende Personen
Herausgegebn wird der Sammelband von Francis Seeck und Claudia Steckelberg. Beide halten eine Professur inne, Francis Seeck für Theorien und Handlungslehre der Sozialen Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie- und Menschrechtsbildung an der Technischen Hochschule Nürnberg und Claudia Steckelberg für Wissenschaft Soziale Arbeit an der Hochschule Neubrandenburg. Gemeinsam ist ihnen ein Schwerpunkt auf (Anti-)Diskriminierung, wobei Francis Seeck u.a. als Antidiskriminierungstrainerin tätig ist. Im Sammelband konnten zahlreiche Autor*innen aus unterschiedlichen Kontexten zusammengebracht werden. Neben einer Vielzahl von Wissenschaftler*innen auf unterschiedlichen Qualifikationsniveau kommen auch Expert*innen in eigener Schreibsache, Referentinnen unterschiedlicher Organisationen, Studierende, Sozialarbeiter*innen und Mediziner*innen zu Wort. Somit schaffen die Herausgebende eine beeindruckend vielfältige Zusammensetzung für ihren Sammelband, der sowohl wissenschaftliche als auch praktische Denkanstöße liefern kann.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband möchte für Fachkräfte aus der Praxis ein gut lesbares und verständliches Werk sein, bei dem verschiedene Perspektiven der Sozialen Arbeit abgebildet werden. Hierbei sollen nicht wie so oft überwiegend die sozialen Probleme als Probleme der Adressat*innen thematisiert werden, sondern es soll zum Nachdenken bezüglich unterschiedlicher Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten in der professionellen Beziehung anregen.
Aufbau
Der Sammelband gliedert sich in sechs größere Abschnitte, die jeweils zwei bis fünf Kapitel umfassen. Da der Sammelband ausgesprochen vielfältig ist, werden im Folgenden alle Kapitel aufgelistet. Da leider keine Nummerierung der Themenblöcke vorliegt, ergänze ich diese, um die spätere Zuordnung im Inhalt zu erleichtern.
- Klassismuskritik aus Perspektive der Nutzer*innen
- Theorien der Sozialen Arbeit aus klassismuskritischer Perspektive
- Historische Perspektiven
- Intersektionale Perspektiven
- Klassismuskritik in Handlungsfeldern Sozialer Arbeit
- Klassismuskritik in Lehre und Studium Sozialer Arbeit
Inhalt
Der erste Abschnitt des Sammelbandes versteht sich als die Möglichkeit, dass Nutzer*innen eine Stimme gegeben wird. Dies wird in besonderer Weise im ersten Beitrag der Autor*innengruppe Expert*innen in eigener (Schreib-)Sache deutlich. Dieses Kapitel darf nicht als wissenschaftliche Studie verstanden werden, vielmehr stellt es eigene bzw. protokollarische Darstellungen von wohnungslosen bzw. wohnungssuchenden Menschen dar. Auch der zweite Beitrag ist sehr stark von Eigendarstellungen ohne analytische Basis zu verstehen. Hier werden Sichtweisen, Herausforderungen und Erfahrungen von Menschen, die eigene Erfahrungen durch stationäre Hilfen zur Erziehung mitbringen, dargestellt. Formal stellt Tanja Abou eine autoethnografische Forschung von sog. Care-Leavern vor. Dieses Kapitel mündet in einem weiteren Beitrag, der nochmal Jugendliche in stationären Einrichtungen selbst zu Wort kommen lässt. Allen Kapiteln gemein ist, dass Diskriminierungen auf Basis ihrer Klassenzugehörigkeit explizit gemacht werden bzw. indirekt angenommen werden. Und dies wird durch Betroffene sehr eindrücklich dargestellt und an zahlreichen Beispielen beschrieben.
Der zweite Abschnitt widmet sich nun dem theoretischen Ansatz des Klassismus und nimmt dabei eine klassismuskritische Perspektive ein. Zunächst wird durch Francis Seeck eine Begriffserklärung vorgenommen, gerade auch mit Blick auf eine diskriminierungskritische, menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit. Im Anschluss daran geht Moritz Fritzsche auf die Bedeutung von Paulo Freire ein, indem er die Auswirkungen von Klassismus als Folge von antidialogischen Aktionen begreift. Daran werden direkt bedeutende Arbeitsprinzipien der Sozialen Arbeit angeschlossen. Abgerundet wird dieser Beitrag durch den Bezug auf die Lebensweltorientierung und der Frage, wie man dies in einer Klassengesellschaft umsetzen kann. Es wird die Frage aufgeworfen, wie ein Zusammenhang zwischen Individuum und Struktur und danach wie spezifische Verhaltensweise durch die Klassenzugehörigkeit bestimmt wird. Moritz Fritzsche geht davon aus, dass durch Klassismuskritik eine Haltung bei Fachkräften entstehen kann, um dann antiklassistisch zu handeln.
Im dritten Abschnitt geht es um die historische Perspektive auf Klassismuskritik im Kontext der Sozialen Arbeit. So geht es zunächst bei Lena Zund um eine historische Auseinandersetzung mit Geschlecht und Klasse innerhalb der Sozialen Arbeit. Hier wird hinterfragt, wie die Soziale Arbeit als klassischer Frauenberuf entstanden ist und wie sich dabei Klassenverhältnisse direkt in den Beruf mit hinein entwickelt haben. Ein besonderes Gewicht nimmt dabei die Gegenüberstellung bzw. die Verzahnung von Patriarchat und Klassismus ein. Abgerundet wird der historische Blick durch den Beitrag von Aleksandra Cirstea, der sich auf das NS-Regime fokussiert und dabei zum Abschluss auch einen kritischen Ausblick auf die aktuellen politischen Tendenzen gibt. Im Vordergrund steht hier die historische Darstellung der klassistischen Herabwürdigung von menschlichem Leben, was sowohl anhand von spezifischer Sozialpolitik oder auch im Rahmen von Fürsorgeleistungen zur Investition in potenzielles Humankapital erörtert wird.
Abschnitt vier widmet sich einer intersektionalen Perspektive. Hierbei werden zwei Beispiele angeführt, nämlich von Carla Wesselmann die Verbindung zwischen Klassismus und Ableismus und von Gudrun Perko eine rassistisch-klassistische Praxis gegen Roma/Rom:nja. In Summe wird von beiden festgehalten, dass die Kategorien Armut und Behinderung oder auch Rassismus gegenüber Minderheiten häufig nicht in den Blick genommen werden. Abschließend werden dann die besonderen Herausforderungen für die Soziale Arbeit diskutiert und an die ein Appell an die Fachkräfte ausgesprochen, dass diese sich den vorherrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen und den darin eingebundenen Diskriminierungsrealitäten und daraus resultierenden Erwartungen bewusst sein sollten.
Daran schließen direkt verschiedene Handlungsfelder mit deren jeweils eigener Klassismuskritik in Abschnitt fünf an. Hier widmeten sich gleich zwei Beiträge einer klassismuskritischen feministischen Mädchenarbeit und dem feministischen Gewaltschutz. Auch die Handlungsfelder Wohnungslosenhilfe und Hilfen zur Erziehung, sowie Schuldnerberatung und Gesundheitswesen werden aufgegriffen. In allen diesen Arbeiten finden sich abschließende Appelle zur Reflexion von gegebenen Verhältnissen oder Anzeigen von derzeit schwierigen Situationen bis hin zu der Unmöglichkeit, menschenrechtliche Schutzpflichten vollumfänglich zu erfüllen. Häufig werden hierzu auch Lösungsmöglichkeiten z.B. durch Zielgruppenansprachen, Öffentlichkeitsarbeit oder andere Angebotsstrukturen vorgeschlagen. Oftmals geht es darum, eine Stigmatisierung aufzuheben bzw. andere Menschen zu sensibilisieren und zur Reflexion anzuregen. Hierzu eignen sich diese meist stark beschreibenden, betroffenenbezogenen Darstellungen besonders gut.
Den Abschluss bildet Abschnitt sechs mit dem Blick auf Lehre und Studium der Sozialen Arbeit. Spannend ist hier auch die Zusammenstellung der Autor*innen, da sie auch eine Studierendenberatung mit eher praktischen Inhalten und besonderen Herausforderungen von Studierenden aus unterschiedlichen Klassenverhältnissen darstellen. Aber auch theoretische Ansätze wie Doing class wird im Rahmen der autoethnografischen Perspektive einer dozierenden Person dargestellt. Im finalen Unterkapitel stellt Sannik Ben Dehler nochmals klar, warum genau diese Themen einer klassismuskritischen Sozialen Arbeit im Rahmen der Hochschullehre aufgegriffen werden sollten und welche Umgangsstrategien hier angeraten sind.
Diskussion
Der erste Abschnitt zeigt anhand von zwei zentralen Problemlagen, nämlich der Wohnungslosigkeit und der stationären Jugendhilfe auf, mit welchen oftmals stark diskriminierenden Mechanismen die Nutzer*innen umzugehen haben. Dabei hatte ich mir zunächst von diesen drei Beiträgen eine empirische Analyse erwartet, was jedoch nicht intendiert ist. Es geht vielmehr darum, Betroffene zu Wort kommen zu lassen und deren Blickwinkel aufzuzeigen. Was gerade auch durch die Einbindung und durch die Darstellung in Form von Interviews sehr gut gelingt. Abschnitt zwei stellt die theoretische Basis für den gesamten Sammelband dar. Dies hätte ich mir direkt als ersten Abschnitt gewünscht, da für mich hier auch eine wichtige Grundlage geschaffen wird. Darüber hinaus werden zwar wichtige sozialarbeiterische Ansätze (z.B. Lebensweltorientierung) aufgegriffen, aber ich hätte mir hierzu doch noch weitere theoretische Kapitel zum Klassenbegriff und der damit verbundenen Diskriminierung gewünscht. Der dritte Abschnitt ist für mich tatsächlich mit sehr konkreten Denkanstößen verknüpft, gerade auch mit Blick darauf, was sich aus Geschichte lernen lässt. Besonders das Kapitel zum NS-Regime gibt sehr viele Denkanstöße. Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit der Intersektionalität. Hier hätte ich mir noch wesentlich mehr Themenvielfalt erhofft, aber auch ein Sammelband hat nur begrenzte Kapazitäten. Somit werden zumindest die Themen Beeinträchtigung und Rassismus mit aufgenommen. Bevor dann ein beeindruckend vielfältiger Abschnitt zu den Handlungsfeldern anschließt (Abschnitt fünf). Gerade in diesem Abschnitt ist das analytische Niveau der verschiedenen Beiträge sehr unterschiedlich. Insgesamt aber eher situationsbeschreibend und begründet in der Sache ausschließlich basierend auf qualitativen Interviews. Einzige Ausnahme bildet hier der Beitrag zum Gesundheitswesen, der zunächst auch die Situation von prekären Statusgruppen vorstellt und dabei darauf verweist, dass auch in Deutschland viele Gruppen gänzlich ohne Krankenversicherungsschutz auskommen (müssen). Diese Beiträge geben sowohl Interessierten oder interessierten Studierenden der Sozialen Arbeit besondere Einblicke in Handlungsfelder und den klassenbezogenen Herausforderungen. Es handelt sich um einen sehr abwechslungsreichen und flüssig zu lesenden Abschnitt. Den Abschluss bildet der Abschnitt sechs zur Hochschullehre. Das umfasst zunächst ein beschreibendes Kapitel, in dem Klassismus im Hochschulkontext dargestellt wird. Hier kommen ebenfalls Betroffene zu Wort und können so zeigen, inwieweit sich die Herkunftseffekte auch innerhalb des Hochschulsystems am Beispiel der Studierendenberatung noch zeigen. Doing Class zeigt dann im Rahmen der Hochschullehre, inwieweit eine herkunftsbezogene Passung zu einem anderen Lehrerfolg beitragen kann und somit auch einige Studierende stärker mitnimmt als andere. Und den Abschluss mit seinem klaren Bekenntnis und der Forderung, dass im Rahmen der Hochschullehre mehr Fokus auf Klassismus gerichtet werden sollte.
Insgesamt liest sich der Sammelband sehr flüssig und methodisch und thematisch sehr abwechslungsreich. So können sowohl Personen mit Praxiserfahrung als auch wissenschaftsorientierte Leser*innen etwas Neues finden und vor allem an verschiedenen Stellen zum weiteren Nachdenken angestoßen werden. Hervorzuheben ist in der Tat die Vielfalt der Themen und die damit einhergehende Vielfalt an Interviewpartner*innen, die in diesem Werk zu Wort kommen. In der Summe eine wirklich beeindruckende Datenvielfalt!
Ganz persönlich hätte ich mir – gerade auch aufgrund des Titels „Analysen, Reflexionen und Denkanstöße“ – noch mehr Analytisches und noch mehr kritischen Diskurs und weniger Beschreibungen und Zitate von Betroffenen gewünscht. Ohne dies bleiben viele Beiträge auf einem eher beschreibenden und ggf. verstehenden Niveau, wozu ich mir selbst noch viel mehr wünschen würde.
Fazit
Der Sammelband zum Thema Klassismuskritik in der Sozialen Arbeit zeigt verschiedene Handlungsfelder und besondere Spannungsverhältnisse auf, die aufgrund von Klassenzugehörigkeiten innerhalb der Tätigkeit, aber auch innerhalb der Lehre der Sozialen Arbeit entstehen können. Der Sammelband stellt vielfältige Beschreibungen zur Verfügung und stößt somit zum Nachdenken an. Gerade die zahlreichen qualitativen Ansätze bilden eine sehr gute Basis, um sich intensiver mit den Themen auseinanderzusetzen. Wer jedoch bereits empirisch analytische Kapitel erwartet, wird enttäuscht werden.
Rezension von
Prof. Dr. Nicole Biedinger
Empirische Sozialforschung und Soziologie
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