Yannick Liedholz: Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Klimawandel
Rezensiert von Prof. Dr. Katrin Valentin, 13.12.2024
Yannick Liedholz: Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Klimawandel. Perspektiven und Handlungsspielräume. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2024. 193 Seiten. ISBN 978-3-8474-3056-8. D: 26,90 EUR, A: 27,70 EUR.
Thema
Das Werk stellt Bezüge zwischen der globalen Herausforderung des Klimawandels und theoretischen Ansätzen der Sozialen Arbeit sowie praktischen Herausforderungen und Möglichkeiten des Handlungsfeldes Soziale Arbeit her. Es ist ein Beitrag zu einer sehr dynamischen Debatte – ändert sich durch den regen interdisziplinär geprägten Fachdiskurs doch schnell und weitreichend der Diskussionsstand. Yannick Liedholz kommt das Verdienst zu, durch die erste Auflage des Buches einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass dieser Diskurs in der Sozialen Arbeit an Fahrt aufgenommen hat.
Autor
Yannick Liedholz ist Doktorand im Bereich Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sein Dissertationsprojekt widmet sich den Grundzügen einer nachhaltigkeitsorientierten Erlebnispädagogik. Er ist Lehrbeauftragter der Alice Salomon Hochschule Berlin.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich bei diesem Werk um die zweite überarbeitete Auflage, die im Vergleich zur ersten um ca. 40 Seiten angewachsen ist (Rezensionen zu den ersten beiden Auflagen siehe: https://www.socialnet.de/rezensionen/27844.php und https://www.socialnet.de/rezensionen/28148.php). Auf Unterschiede zur ersten Auflage wird in dieser Rezension eingegangen.
Der Autor macht in seiner Einleitung deutlich, dass es ihm um eine erste Bestandsaufnahme geht und er andere Theoretiker:innen und Praktiker:innen dazu anregen will, weitere Arbeiten zu verfassen. Er entschließt sich einen texthermeneutischen Zugang zu wählen, und verleiht seiner Verwunderung darüber, dass der Klimawandel bisher zu wenig in der Sozialen Arbeit berücksichtigt wird, Ausdruck.
Aufbau
Der Aufbau des Buches entspricht im Wesentlichen dem der ersten Auflage. Das heißt, im Anschluss an sein Vorwort zur zweiten Auflage und einer kurzen Einleitung gibt Liedholz ausgewählte Einblicke in die Soziale Arbeit, führt einige zentrale Grundlagen des Klimawandels ein und stellt dann verschiedene Berührungspunkte zwischen Sozialer Arbeit und Klimawandel dar. Dem schließt sich ein Kapitel zu Handlungsspielräumen von Akteur:innen der Sozialen Arbeit an. Das Buch endet mit einem knappen Ausblick und dem Literaturverzeichnis.
Inhalt
Nach seiner Einleitung, in der er kurz die Anlässe für sein Werk schildert und eine Übersicht über das Buch liefert, gibt Liedholz in Kapitel 2 Einblicke in die Soziale Arbeit.
- 2.1 Ein historisches Streiflicht
- 2.2 Definition und Selbstverständnis
- 2.3 Problembezogene Arbeitsweisen
- 2.4 Ausgewählte Arbeits- und Forschungsfelder
In Veränderung zur ersten Auflage berücksichtigt er hierbei neuere Arbeiten – unter anderem von Kiesling et al (2023), welche eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Sozialer Arbeit und Menschenrechte im Angesicht der Klimawandels mit sich bringt. Darüber hinaus geht er tiefer auf Ansätze politischer Selbstverständnisse von Sozialer Arbeit ein – eine Grundlage für mehrere weitere Diskussionsstränge, die er verfolgt. Ferner konkretisiert er im Anschluss an die problembezogenen Arbeitsweisen nun zusätzlich mögliche Ansätze, welche die Berücksichtigung des Klimawandels für diese haben könnten.
In Kapitel 3 stellt Liedholz Grundlagen des Klimawandels vor.
- 3.1 Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC)
- 3.2 Beobachtbare Klimaänderungen
- 3.3 Ursachen
- 3.4 Die Klimaziele
- 3.5 Emissionspfade bis 2100
Wie in seiner ersten Auflage geht er dabei relativ ausgiebig auf mögliche Kritik an der Konstituierung des Weltklimarates ein. Auch in diesem Kapitel flicht Liedholz aktuellere Literatur ein, liegen doch beispielsweise neue Daten in Bezug auf die Entwicklung des Klimawandels vor. Auch formuliert er Positionen, welche aus der Perspektive der Sozialen Arbeit in Bezug auf die Ursachen des Klimawandels zu treffen sein könnten, um.
In Kapitel 4, welches den Buchtitel trägt (Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Klimawandel), zieht Liedholz Schlussfolgerungen zu den Zusammenhängen zwischen den in Kapitel 2 und 3 getätigten Ausführungen.
- 4.1 Verschärfung der Ungleichheiten in den (Über-)Lebenschancen
- 4.2 Postkolonialismus
- 4.3 Klimarassismus
- 4.4 Klimamigration und Klimaflucht
- 4.5 (Gewalt-)Konflikte
- 4.6 Gesundheitliche Folgen
- 4.7 Menschenrechtsverletzungen
- 4.8 Geschlechterungerechtigkeit
- 4.8 Generationenfragen
Die Überarbeitung zur zweiten Auflage hat in diesem Kapitel zur Schärfung der Argumentation und konkreten Veranschaulichung von Positionen beigetragen. Liedholz fügt unter anderem Beispiele dafür ein, wie Organisationen der Sozialen Arbeit inzwischen politische Forderungen in Auseinandersetzung mit den Folgen des Klimawandels äußern oder darum ringen, auszuhandeln, welche Dienstreisen im Angesicht damit einhergehender CO2-Emissionen als unverzichtbar gelten dürfen. Unter anderem in Bezug auf Or (2022) führt er nun konkreter aus, welche transformatorische Zugänge in der Sozialen Arbeit im Klimadiskurs im Sinne der Dekolonialisierungsdebatte naheliegen bzw. notwendig sind. Auch aktuellere Arbeiten zu „Klimarassismus“ gehen nun in sein Werk ein und nehmen Anschluss an seine Ausführungen zu postkolonialistischen Überlegungen. Wieder kommt Liedholz hierbei auf politische Spannungsverhältnisse zu sprechen, in welche sich die Soziale Arbeit durch den Klimawandel verstärkt verorten muss. Darüber hinaus bringt er in Anschluss auf Brizay (2022) das praktische Beispiel des „Klimapass“ neu mit ein, der Menschen, die aufgrund der Folgen des Klimawandels fliehen müssen, ermöglichen würde, in andere Länder zu migrieren. Den Einsatz für diesen sieht er mit Brizay als ein Beispiel für Interventionsmöglichkeiten der Sozialen Praxis an. Auch auf die Berücksichtigung von migrantischen Communities als Akteure des Umgangs mit dem Klimawandel weist er nun hin.
Für das Unterkapitel zu den gesundheitlichen Folgen bringt Liedholz mehrere neue Erkenntnisse aus dem IPCC-Bericht ein, fügt eine Passage zur psychischen Belastung durch den Klimawandel und die Herausforderungen der Sozialen Arbeit mit ein und formuliert seine Anliegen schärfer. Das vergleichsweise ausführliche Unterkapitel zu Geschlechtergerechtigkeit erfuhr auch eine Überarbeitung und enthält neuere Positionen, unter anderem von Schramkowski & Klus, die sich dem Gender Climate Gap widmen und hierzu Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit ziehen. Auch die Ausführungen zur Generationenfrage enthalten nun neue Entwicklungen und Überlegungen, seien dies die Aktivitäten von jungen Menschen in Bezug auf die Wahrung ihrer Rechte durch juristische Maßnahmen oder die Diskussion der Folgen des Klimawandels als „(gesellschaftliche) Form der Kindeswohlgefährdung“ nach Schramkowski (2022; 2023).
In Kapitel 5, das die Überschrift des Buchuntertitels trägt (Handlungsspielräume von Akteur:innen der Sozialen Arbeit), widmet sich Liedholz nun Schlussfolgerungen und Ansätzen für die Praxis der Sozialen Arbeit im Umgang mit dem Klimawandel.
- 5.1 Gesellschaftspolitische Handlungsspielräume
- 5.2 Pädagogische Handlungsspielräume
- 5.3 Weiterführende Gedanken
Zum Einstieg in das Kapitel äußert Liedholz seinen Eindruck, dass „sich die Soziale Arbeit in Deutschland den Klimawandel als eine weitere Anforderungsthematik bisher nicht breit angeeignet hat“ (S. 97). Er wirbt dafür, dass seine Ausführungen in Bezug auf gesellschaftspolitische Handlungsspielräume ernst genommen werden sollen, auch wenn sie der Leserschaft eventuell als zu wenig realistisch anmuten sollten. Er sieht diese darin, Klimagerechtigkeit einzufordern und umzusetzen, zu einer Ausgestaltung einer Postwachstumsökonomie beizutragen, es zu wagen, Klimawandelkonflikte offen auszutragen und eigene Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel vorzunehmen. Auch hier sind seine Ausführungen im Vergleich zur ersten Auflage erweitert, vor allem um die Erläuterungen von Diskussionssträngen, die seine Argumentation stützen und das Verständnis der Zusammenhänge zu vertiefen.
Pädagogische Handlungsspielräume sieht er unter dem Bildungskonzept Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und ökologisch orientierter Erlebnispädagogik gegeben. Bei ersterer orientiert er sich in weiten Teilen an den Ansätzen von de Haan und Kolleg:innen, bei zweiterem diskutiert er unter anderem die Arbeit von Muff.
Im Unterschied zur ersten Auflage formuliert er diesmal noch weiterführende Gedanken zu möglichen Handlungsspielräumen. Hierbei geht er zunächst auf Kapitalismuskritik ein und plädiert dafür, diese in der Sozialen Arbeit breiter zu diskutieren. Anschließend stellt er Kommunalpädagogik im Sinne von Gemeinwesenarbeit vor. Anhand eines Schaubildes erläutert er abschließend verschiedene Wirkungsebenen der „Handlungsspielräume von Sozialarbeiter:innen zum Klimawandel in der Berufspraxis“ (S. 163). Hierbei unterscheidet er die Ebenen „Professionelles Selbstverständnis“, „Arbeitsbeziehungen mit den Adressat:innen“, „Einrichtungen und Träger“ sowie „Stadt- und Kommunalpolitik“ und ordnet diesen beispielhaft Methoden und unterstützende Strukturen zu.
Das Werk schließt mit einem Ausblick (Kapitel 6) und einem Literaturverzeichnis (Kapitel 7). In seinem Ausblick formuliert Liedholz ein Plädoyer für mehr Auseinandersetzung mit dem Thema und greift dabei weitere aktuelle Entwicklungen auf, die sich seit der ersten Auflage vollzogen haben. So gibt es z.B. in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit nunmehr die Fachgruppe „Klimagerechtigkeit und sozial-ökologische Transformation in der Sozialen Arbeit“.
Diskussion
Liedholz macht seine Ankündigung in der ersten Auflage, offen für Anregungen von Wissenschaftler:innen zu sein, wahr und bezieht zahlreiche neue Gesichtspunkte in seine Ausführungen ein. Das schärft seine Argumentation, erweitert die Anschlussfähigkeit an andere Diskurse und macht zudem einige Passagen für die Leserschaft besser nachvollziehbar und anschaulicher.
Eine große Stärke dieses Werkes ist der roter Faden, der sich durch alle Kapitel zieht: die Aufforderung, gesellschaftliche Probleme nicht zu individualisieren und Soziale Arbeit in ihrer politischen Dimension mehr in den Blick zu nehmen.
Positiv hervorzuheben ist auch, in welcher Differenzierung er über die Zusammenhänge des Klimawandels berichtet – es scheint Aufschluss zu geben über die Zielrichtung des Werkes: Der „Klima- und Nachhaltigkeitsdiskurs“ in der Sozialen Arbeit ist vergleichsweise immer noch ein „Randgeschehen“ (S. 167). Der Autor will offenkundig dazu aufrufen, sich mehr den sich massiv verändernden Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit zu stellen. Mutmaßlich zu diesem Zweck wechselt der Sprachduktus immer wieder zwischen recht umgangssprachlicher Ansprache der Leserschaft und fundierten theoretischen Bezugnahmen.
Anzumerken ist, dass im Kapitel Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zum Teil noch Positionen von 2014 zitiert werden, die nicht mehr tonangebend sind in der Debatte. Es ist bedauerlich, dass Liedholz mehr oder weniger gezwungen ist, eine schulisch geprägte Einführung zu BNE (de Haan 2008) vorzunehmen, mangelt es doch noch immer an Konzepten einer BNE, die sich in systematischer Berücksichtigung sozialpädagogischen Fachwissens entwickelt haben.
Entsprechend des vom Autor selbst dargelegten Anspruchs, „nur“ erste Ansätze in seinem Buch formulieren zu wollen – den er weit übertrifft – soll an dieser Stelle keine Kritik geäußert werden, sondern Anregungen gegeben werden, welche Aspekte noch weiter in den Blick genommen werden sollten:
- die Verwobenheit der sozial-ökologischen Transformation mit der digitalen Transformation
- die Einordnung des Klimawandels als Teil einer Erdsystemkrise, bei der z.B. der Rückgang der Biodiversität, die noch größere Herausforderung darstellt
- eine weitergehende Berücksichtigung von psychischen Folgen des Klimawandels für die Soziale Arbeit (z.B. in Bezug auf Hitzeereignisse, Klimaangst oder auch Antinatalismus)
- und schließlich eine Reflexion des Handlungsfeldes Soziale Arbeit in seiner (ungewollten) Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse einer nicht-nachhaltigen Gesellschaft
Fazit
Dieses lesenswerte Werk ist eine gute Einführung in grundlegende Überlegungen hinsichtlich verschiedener Zusammenhänge zwischen der globalen Herausforderung des Klimawandels und der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. Der Autor gibt unter Berücksichtigung zahlreicher Fachliteratur aus verschiedenen Disziplinen aufschlussreiche Einblicke in mögliche Handlungsspielräume. Dem Werk wäre zu wünschen, dass noch sehr viel mehr Akteur:innen der Sozialen Arbeit dieses rezipieren und die Ansätze systematisch weiterdenken und -führen.
Rezension von
Prof. Dr. Katrin Valentin
Forschungsprofessur für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Transformationsforschung an der Evangelischen Hochschule Nürnberg
Website
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Katrin Valentin.
Zitiervorschlag
Katrin Valentin. Rezension vom 13.12.2024 zu:
Yannick Liedholz: Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Klimawandel. Perspektiven und Handlungsspielräume. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
ISBN 978-3-8474-3056-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32962.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.