Susanne Loke: Einsames Sterben und unentdeckte Tode in der Stadt
Rezensiert von Thomas Barth, 03.12.2024
Susanne Loke: Einsames Sterben und unentdeckte Tode in der Stadt. über ein verborgenes gesellschaftliches Problem.
transcript
(Bielefeld) 2023.
342 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6648-9.
D: 48,00 EUR,
A: 48,00 EUR,
CH: 58,60 sFr.
Reihe: Alter - Kultur - Gesellschaft - Band 9.
Thema
Vor zehn Jahren kam der Film Mr.May und das Flüstern der Ewigkeit in die deutschen Kinos, der mit der Entdeckung eines einsam Verstorbenen in seiner Wohnung beginnt. Mr.May ist zuständig für die behördlich organisierte Bestattung und forscht zuvor nach Hinterbliebenen. Seine Stelle wird jedoch von einem neoliberalen Zeitgeist gestrichen, der Effizienz und Kostensenkung über Humanität und die Würde der Toten stellt. Der Kampf von Mr.May steht für eine menschliche Gesellschaft und entlarvt die kleinkarierte und heuchlerische Sparwut der Neoliberalen, die das bei sozialen Belangen abgepresste Geld hinten herum mit beiden Händen in die Taschen von Konzernen und Superreichen stopfen, als nicht nur ausbeuterisch, sondern auch läppisch angesichts der letzten Dinge, des Todes und der Ewigkeit.
Im Fokus der an dieses Filmjuwel erinnernden Arbeit von Susanne Loke stehen Sterbefälle, bei denen die Betroffenen im Moment des Todeseintritts in ihrem Zuhause allein sind und deren Tod frühestens am folgenden Tag entdeckt wird. Dabei muss zwischen der letzten Sichtung und dem Todeseintritt mindestens eine Zeitspanne von 12 Stunden liegen. Unentdeckte Tode ereignen sich meist im Verborgenen und bleiben öffentlich weitgehend unbeachtet. Wird dem tragischen Schicksal meist älterer Menschen zu wenig gesellschaftliche Relevanz beigemessen? Dies ist zu hinterfragen, meint Susanne Loke, und will mögliche Ursachen für diesen tabuisierenden Umgang ergründen.
Autorin und Entstehungshintergrund
Susanne Loke leitet ein Präventionsprojekt in Pflegeeinrichtungen und ist Lehrbeauftragte an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Einsamkeit, Thanatologie, soziale Gerontologie, Gesundheitsförderung, Pflegekinderhilfe und Sozialraumforschung. Das Buch wurde als Dissertation der Autorin unter dem Titel „Einsames Sterben und unentdeckte Tode in der Stadt“ an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum angenommen und ist über den Transcript-Verlag lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA).
Aufbau und Inhalt
Der Band enthält eine Einführung und elf weitere, teils stark untergliederte Kapitel:
- 2. Forschungsstand und Untersuchungsdesign,
- 3. Thanatologie – ausgesuchte Aspekte,
- 4. Der gesellschaftliche Umgang mit einsamem Sterben und unentdecktem Tod,
- 5. Einsamkeitsforschung-(Un-)Möglichkeiten der Annäherung an eine subjektive Gefühlslage,
- 6. Die soziale Dimension der Einsamkeit,
- 7. Quantitative Datenerhebung unentdeckter Todesfälle in zwei Städten (Aachen und Gelsenkirchen),
- 8. Auswertung und vergleichende Interpretation,
- 9. Fall- und Feldforschung: Leben, Sterben und Tod im ›sterbenden‹ Sozialraum,
- 10. Interdependentes Mehrebenenmodell unentdeckter Tode,
- 11. Schlussbetrachtung und Diskussion: Unentdeckte Tode und einsames Sterben -Zeichen sozialer Ungleichheit und Exklusion.
Sterben und Tod eines Menschen vollziehen sich selten öffentlich, so die Autorin einführend, sondern im intimen Kreis vertrauter und umsorgender Menschen. Nach Eintritt des Todes werde diese Nachricht meist einem erweiterten Kreis nahestehender Personen bekannt gemacht. Die Beisetzung als soziales Ereignis, das Teilen der Trauer und die Trauerbekundungen helfen den Hinterbliebenen und lassen auch das Gedächtnis an die Verstorbenen aufleben. Ganz anders verlaufen dagegen Sterben, Tod und Beisetzung bei vielen unentdeckten Todesfällen. Sterben und Tod finden einsam statt, der Todeseintritt wird erst nach Tagen, Wochen oder Monaten bemerkt. Die Beisetzung wird oft von behördlich organisiert und bleibt, um Kosten zu sparen, auf das Notwendigste beschränkt, wobei zur Beisetzung nicht selten niemand erscheine. Soweit spannt das Buch seinen wissenschaftlichen Blick auf das Szenario des Films „Mr. May“ auf und will den Blick auf das weitgehend unbeachtete und eher verborgene soziale Phänomen richten, um es zu ergründen und zu verstehen.
Kapitel 2 zu Forschungsstand und Untersuchungsdesign kennzeichnet die Anzahl der Arbeiten, die sich explizit mit dem Gegenstand befasst haben, als überschaubar. Es wurden alle bekannten und verfügbaren Untersuchungen bis zum Jahr 2019 einbezogen. Die Mehrheit der Arbeiten sieht das statistische Profil der unentdeckten Verstorbenen dominiert von alleinstehenden Männern nach unterdurchschnittlicher Lebensdauer, wobei aber auch für das höhere Alter ab 70 Jahren ein größeres Risiko besteht. Hier sind auch verwitwete Frauen und Personen aus einem sozial eher benachteiligten Milieu betroffen, d.h. mit Armut, Arbeitslosigkeit, psychischen Erkrankungen sowie mit gesundheitlichen und sozialen Benachteiligungen. Zur Empirie unentdeckter Tode liegen kaum valide Datenerhebungen zur Häufigkeit vor. Nur zwei Studien von 2001 und 2019 stellen, sogar übereinstimmend, den Anteil allein verstorbener Personen in Großstädten mit ca. 15 Prozent aller Todesfälle fest. Der sozioökonomische Status ist -wenig überraschend – ein wesentlicher Einflussfaktor, bedingt Vereinsamung, soziale Isolierung und soziale Exklusion sowie infolgedessen von einsamem Sterben und unentdeckten Toden. Wir erfahren viel über das Sterben und Einsamkeit im Zusammenhang mit sozial isolierten Todesfällen, etwa über das in der klinischen Literatur – bzgl. meist älterer Personen ‒ beschriebene „Diogenes-Syndrom“, welches durch soziale Isolation und extreme Verwahrlosung der eigenen Person und der Wohnung sowie durch Ablehnung von Hilfe gekennzeichnet ist (S. 40).
Kapitel 3. Thanatologie – ausgesuchte Aspekte, erläutert grundlegende thanatologische Aspekte und vergleicht die verschiedenen Sterbeorte hinsichtlich ihrer faktischen Bedeutung und normativen Bewertung. Die soziodemographischen Sterblichkeitsverhältnisse in Deutschland werden unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Ungleichheit am Lebensende und der geschlechtsspezifischen Unterschiede beschrieben.
Kapitel 4. Der gesellschaftliche Umgang mit einsamem Sterben und unentdecktem Tod wählt hierzu vier Schwerpunktsetzungen. Unentdeckte Tode werden in den Medien durch Beschränkung auf Extremfälle skandalisiert, in der Sozialverwaltung bürokratisch und standardisiert abgewickelt und unterliegen spezifischen soziokulturellen Prägungen. Dies zeigt etwa der Bedeutungswandel des einsamen Todes in Japan mit seiner alternden Gesellschaft. Dort wird „kodokushi“ übersetzt mit „einsamer Tod“, es handelt sich um einen unumsorgten Tod, und der stellt das Gegenbild zum japanischen Ideal eines betreuten Todes zu Hause dar (S. 93). Man sieht darin das Symptom einer über den Tod hinausreichenden Einsamkeit, sozialer Exklusion der Verstorbenen und somit der sozialen Auflösungsprozesse der heutigen Gesellschaft(S. 96).
Kapitel 5 erörtert die subjektive Dimension der Einsamkeit wie auch die gesundheitlichen Auswirkungen. In Kapitel 6. Die soziale Dimension der Einsamkeit wird die soziologische Beschäftigung mit der Einsamkeit wird anhand dreier Ansätze diskutiert. Nach Darlegung mikro- und makrosoziologischer Ansätze zur Einsamkeit werden Zusammenhänge von Individual- und der Gesellschaftsebene skizziert. Die Verdrängung des eigenen Todes und die Vermeidung der persönlichen Begegnung mit Sterbenden und Toten kulminiert in einem durch Abwenden („turn away“, S. 103) gekennzeichnetem gesellschaftlichem Umgang mit Einsamkeit. Dies erklärt, wie insbesondere chronisch einsame Personen quasi „unsichtbar“ werden und ihr Tod so unentdeckt bleiben kann.
Kapitel 7, 8 und 9 fassen die Ergebnisse und Hinweise der quantitativen und qualitativen Forschung zusammen, interpretieren und verorten diese in sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen. Dabei werden die prekären Verhältnisse marginalisierter Gruppen deutlich, die von der ›Normalität‹ des ›durchschnittlichen‹ Lebens weit entfernt scheinen. Prozesse sozialer Marginalisierung, Segregation, Exklusion und Ungleichheit erweisen sich als entscheidend für das Thema (S. 249).
Das zehnte Kapitel sammelt alle in der Arbeit abgeleiteten Faktoren bzw. Bedingungen, die ein einsames Sterben und unentdeckte Tode beeinflussen können, und integriert diese in ein komplexes Mehrebenenmodell unentdeckter Tode. Der Tod ist hier Teil der Individualebene, die eingebettet ist in den nahen- und dieser wieder in den kommunalen Sozialraum; die vierte analytische Ebene ist die Gesellschaftsebene (S. 281). Die Schlussbetrachtung fasst die wesentlichen Erkenntnisse zur sozialen Ungleichheit am Lebensende in Bezug auf den Sterbeort des eigenen Zuhauses zusammen.
Diskussion
Jeder uns sozial und/oder räumlich nahe Tod erinnert uns, so Loke, an die eigene Sterblichkeit und Endlichkeit. Am Ende der Untersuchung von Loke steht folglich der Wunsch, dass die Ergebnisse der Arbeit im Sinne eines modernen ›Memento mori‹ das Nachdenken über den Umgang mit dem eigenen und fremden Sterben und Tod anregen. Die Untersuchung konnte zur theoretischen und empirischen Grundlagenforschung beitragen sowie Empfehlungen für die Handlungspraxis zur Entwicklung von Strategien und Programmen gegen Einsamkeit, soziale Exklusion und soziale Isolation geben. Ihr Ziel, auch den gesellschaftspolitischen Diskurs anzuregen und das Bewusstsein und Engagement für menschenwürdige Lebens- und Sterbebedingungen voranzubringen, ist achtenswert und sollte unterstützt werden. Nicht zuletzt geht es darum, das Engagement für sozial gerechte Lebens- und Sterbebedingungen voranzubringen.
Fazit
Das vorliegende Buch ist eine engagierte, den wissenschaftlichen Ansprüchen einer Dissertation entsprechende Arbeit, die keineswegs nur von Experten versteh- und lesbar ist. Aus dem auf den ersten Blick morbiden Interesse für einsame Todesfälle folgt eine drastische Veranschaulichung für das dringende Problem, sozial gerechte Lebens- und Sterbebedingungen auch für die -trotz wachsenden gesellschaftlichen Reichtums- immer mehr zunehmenden sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu fördern.
Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 03.12.2024 zu:
Susanne Loke: Einsames Sterben und unentdeckte Tode in der Stadt. über ein verborgenes gesellschaftliches Problem. transcript
(Bielefeld) 2023.
ISBN 978-3-8376-6648-9.
Reihe: Alter - Kultur - Gesellschaft - Band 9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32964.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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