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Brit Wilczek: Wer ist hier eigentlich autistisch?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 17.03.2025

Cover Brit Wilczek: Wer ist hier eigentlich autistisch? ISBN 978-3-17-044076-0

Brit Wilczek: Wer ist hier eigentlich autistisch? Ein Perspektivwechsel. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 2., aktualisierte Auflage. 232 Seiten. ISBN 978-3-17-044076-0. 29,00 EUR.

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Thema

Der Titel klingt provokant, indem er fragt: „Wer ist hier eigentlich autistisch?“ Das Buch geht auf Spurensuche. Besprochen werden die Wahrnehmung, das Denken und Erleben von Menschen aus dem Autismus-Spektrum in der Gegenüberstellung von sog. „neurotypischen“ (gemeint sind „nicht-autistische“) Menschen. Durch anschauliche Modelle werden Grundlagen menschlicher Wahrnehmung und Entwicklung verständlich dargestellt, mit dem Ziel, Besonderheiten im Erleben, Denken und Verhalten von Menschen aus dem Autismus-Spektrum nachvollziehen zu können. Die Autorin möchte mit dem Buch Zugänge schaffen und Brücken bauen zwischen Erlebenswelten sogenannter „nicht-autistischer“ und sogenannter „autistischer“ Menschen.

Autor:in

Brit Wilczek ist psychologische Psychotherapeutin. Seit 1989 arbeitet sie mit Menschen im Autismus-Spektrum. Neben Psychotherapie und Beratung für erwachsene Betroffene bietet sie Fortbildung und Supervision an. Sie gibt Erfahrungen an Fachkräfte weiter und in Vorträgen und Publikationen an alle, die sich für das Thema interessieren.

Aufbau

Das Buch ist in der zweiten Auflage im DIN A5 Softcoverformat erschienen und hat einen Umfang von 232 Seiten, die sich neben Vorwort und Literaturverzeichnis in drei Teile und 20 Kapitel untergliedern. Am oberen linken Seitenrand findet sich der Titel des jeweiligen Teils, am rechten oberen Rand die Kapitelüberschrift. Die Ausführungen im Fließtext werden durch 32 Abbildungen und Textboxen ergänzt, Fallvignetten sind ebenso gekennzeichnet. Jeder Teil beginnt mit einer Art Vorwort.

Inhalt

Teil I: Was heißt das eigentlich: „Autismus“? (Kap 1–7)

Teil II: Was bedeutet „autistisch sein“? Autistisches Erleben und Vielfalt der Seins-Weisen (Kap. 8–16)

Teil III: Wer ist hier eigentlich autistisch? – Und was ist eigentlich menschlich? (Kap 17–20)

Der erste Teil beleuchtet den Begriff Autismus und dessen Geschichte, daran schließt sich das klinische Bild mit einigen Grundannahmen zum Autismus an. Ein weiteres Schlaglicht fällt auf neurobiologische und entwicklungspsychologische Aspekte zum Verständnis autistischen Erlebens und Verhaltens. Im Besonderen werden Bewältigungsstrategien wie die Aufmerksamkeitsfokussierung (bis hin zu einem tranceähnlichen Zustand) und die Auseinandersetzung mit der Welt der Gegenstände (die verlässlicher sind als Menschen) autistischer Kinder beleuchtet. Die Wahrnehmungsverarbeitung unter der Lebensbedingung von Autismus hat sowohl Auswirkungen auf die sozio-emotionale Entwicklung als auch Auswirkungen auf das soziale und psychische Erleben.

Im siebten Kapitel, das den ersten Teil abschließt, wird besprochen, was es für Angehörige und ein Familiensystem bedeutet, ein autistisches Kind zu haben.

Der Titel des zweiten Teils fragt, was es bedeutet „autistisch zu sein“, hier werden Einblicke in die Innenwelt von Menschen aus dem Autismus-Spektrum gewährt und autistisches Erleben sowie die Vielfalt der Seins-Weisen thematisiert. Diese Spurensuche befasst sich mit Besonderheiten in der Wahrnehmungsverarbeitung, Besonderheiten bei der Selbstwahrnehmung und beim Körperbild, auch in Bezug auf Motorik und Handlungssteuerung, Besonderheiten im Denken und mit Emotionen (Wahrnehmung, Deutung, Verarbeitung und Ausdruck). Auch besprochen wird der Ausdruck in Hinblick auf Kommunikation und Sprache, dem Bedürfnis nach Kontakt, dem Aufbau und Gestaltung von Beziehungen und die Identität. Auch die Themen Krise und Trauma, also Momente von Kontrollverlust und Haltlosigkeit, haben ihren Platz. Der zweite Teil endet mit Besonderheiten im Bereich der Grundbedürfnisse – Schlaf, Ernährung, Sexualität.

Der letzte Teil III resümiert: „Wer ist hier eigentlich autistisch? – Und was ist eigentlich menschlich?“. In diesem Teil werden Gemeinsamkeiten des Menschseins beleuchtet. Besprochen wird, wie es gelingt, sich bei aller Unterschiedlichkeit ineinander zu erkennen, dazu gehört natürlich auch, die Unterschiedlichkeit im Erleben und im Umgang wahrzunehmen. Am Ende des Buches ist die Frage, wer eigentlich autistisch(er) ist nicht mehr einfach zu beantworten. Die Autorin sieht in Bewusstheit und Präsenz Chancen für alle.

Diskussion

Die Texte sind verständlich geschrieben und gut strukturiert, drei Teile und mehr als 20 Kapitel finden sich neben 32 Abbildungen auf nur 232 Seiten. Die Überschriften der Teile sind in Frageform gehalten: Was heißt das eigentlich: „Autismus“, was bedeutet „autistisch sein“ und wer ist hier eigentlich autistisch? – Und was ist eigentlich menschlich? Die Autorin zielt darauf ab, Verständnis zu schaffen, Brücken zu bauen und Zugänge zu eröffnen. Wichtig ist zu verstehen, wie die Lebensbedingungen von Menschen sind, wie Wahrnehmung und das Denken sind und welche Belastungen entstehen können. Wilczek vermittelt auch: Jeder Mensch handelt subjektiv sinnvoll, nutzt Bewältigungsstrategien, die dem Umfeld – wenn es diese nicht als solche versteht- merkwürdig vorkommen können.

Eine Bewältigungsstrategie ist beispielsweise, im Chaos Muster zu erkennen und einen roten Faden zu suchen, der Kongruenz und Sicherheit gibt. Das Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit bringt ein Schwarz-Weiß-Denken hervor. Die Autorin nutzt an dieser Stelle auch den Begriff „digitales Denken“ mit Auswirkungen auf viele Lebensbereiche. Auf den Seiten 94 und 95 nennt sie 10 Punkte zur Veranschaulichung des Nutzens, aber auch der Stolpersteine dieses digitalen Denkens, die Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, oft anwenden.

Anhand ihrer Abbildungen gelingt es der Autorin, komplexe Sachverhalte anschaulich und nachvollziehbar zu erläutern, wie z.B. das Zwei-Welten-Modell oder das Kernmodell. Diese Form der Darstellung zeigt Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Miteinander von autistischen und neurotypischen Lebenserfahrungen.

Eine neue Perspektive eröffnete sich mir im 11. Kapitel „Emotionen“ (ab S. 100) mit dem Drei-Ebenen-Modell, welches in Zusammenarbeit mit Betroffenen entstanden ist. Es macht die Komplexität und Herausforderungen der Thematik anschaulich deutlich. Erforderlich sind Wahrnehmung, Deutung, Verarbeitung und Ausdruck. Im Kapitel 13 werden einzelne Aspekte vertieft. Im Kern geht es darum, dass Menschen soziale Wesen sind und ein „existenzielles“ (S. 145) Bedürfnis nach sozialem Kontakt und Zugehörigkeit haben. In diesem Zusammenhang spielen Erfahrungen eine wichtige Rolle. Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, erleben oft Kontaktabbrüche, Ablehnung bis hin zum Ausschluss aus Gruppen. Anhand der Abbildung verschiedener Kreismodelle wird veranschaulicht, wie unterschiedliche Kontaktsituationen sind. Wilczek hebt zwei Kriterien hervor, es sind Präsenz und Authentizität, die auch Axel Brauns in seinem Buch „Buntschatten und Fledermäuse“ (2004) eindringlich beschrieben hat.

Fazit

Das Buch bereichert! Brit Wilczek gelingt es, komplexe Sachverhalte verständlich aufzubereiten, ein Medium sind Abbildungen, ergänzt durch zahlreiche Fallvignetten und Berichte aus ihrer Arbeit. Auf diese Weise gelingt es ihr, die Ausführungen anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Das Buch schließt mit der Frage: Geht es eigentlich um das Erscheinungsbild Autismus oder doch eher um das Sein als Mensch? Mein Fazit: Der Perspektivwechsel ist gelungen: es geht um die Vielschichtigkeit des Menschseins.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Es gibt 315 Rezensionen von Petra Steinborn.

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ISSN 2190-9245