Laura Soréna Tittel: Politische Theorie des Antiziganismus
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 06.06.2025

Laura Soréna Tittel: Politische Theorie des Antiziganismus. Genese und Kritik eines modernen Herrschaftsverhältnisses.
transcript
(Bielefeld) 2024.
240 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6597-0.
D: 39,00 EUR,
A: 39,00 EUR,
CH: 47,60 sFr.
Reihe: Beiträge zur kritischen Antiziganismusforschung - 2.
Thema
Der Sachverhalt, auf den sich der Begriff „Antiziganismus“ bezieht, ist Teil eines Menschheitsverbrechens, von dem Hannah Arendt zu Recht gesagt hat, dass es den tradierten Kanon des politischen Denkens radikal in Frage stellt. Nach Auschwitz bruchlos an die Tradition politischer Philosophie anzuknüpfen, schien Arendt unmöglich. Die Konfrontation mit dem Grauen werde das politische Denken unausweichlich in eine fundamentale Paradigmenkrise stürzen. Sie stand damit nicht allein. Auch für Vertreter:innen der Kritischen Theorie war klar, dass ein Begriff des Politischen nach Auschwitz anders aussehen muss als zuvor. Und klar war auch, dass der moderne Antisemitismus und damit auch sein Zwilling, der Antiziganismus, zentrale Referenzpunkte politischen Denkens in der postnationalsozialistischen Gesellschaft sein müssen. Nichts davon geschah. Bis heute halten die Immunisierungsstrategien in der Politischen Theorie, bis heute pflegt diese Disziplin ihre „blinden Flecken“ und „Leerstellen“. Umso bemerkenswerter ist das Buch von Laura Soréna Tittel. Mit ihm liegt erstmalig der Versuch einer politischen Theorie des Antiziganismus vor.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin, die sie zwischen 2018 und 2022 im Rahmen des Forschungsprojekts „Zwischen Minderheitenschutz und Versicherheitlichung: Die Herausbildung der Roma-Minderheit in der modernen europäischen Geschichte“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen angefertigt hat. Regina Kreide und Huub van Baar haben die Arbeit betreut. Das Buch erscheint als zweiter Band der im Auftrag der Gesellschaft für Antiziganismusforschung e.V. von Markus End, Daniela Gress und Nadine Küßner herausgegebenen Reihe „Beiträge zur kritischen Antiziganismusforschung“.
Aufbau und Inhalt
Laura Soréna Tittel zufolge muss eine Untersuchung der historischen Genese des modernen Antiziganismus drei „große Stränge gesellschaftlicher Entwicklungen“ in den Blick nehmen: die europäische Aufklärung und die ihr innewohnende spezifische Art kategorisierenden Denkens, den Kapitalismus mit der ihm eigenen Logik der Hervorbringung sozialer Ungleichheit und die Entstehung von Nationalstaaten, die auf einem abgrenzbaren territorialen und politischen Raum basieren und dabei ein- und ausschließend wirken. Mit dieser Schwerpunktsetzung sind auch die Argumentationslinien des Buches gesetzt. Es besteht neben der Einleitung und dem Schlussteil aus vier Kapiteln.
Im ersten Kapitel rechtfertigt die Autorin zunächst die Verwendung des nach wie vor umstrittenen Begriffs Antiziganismus. Für den politisch-theoretischen Untersuchungsgegenstand ihrer Arbeit sei der Begriff alternativlos. Er beziehe sich nämlich keineswegs nur auf den Sachverhalt des Rassismus, sondern impliziere stets auch die Ablehnung und institutionelle Bekämpfung einer Form des Lebens, die die kapitalistische Gesellschaft unausweichlich immer wieder neu hervorbringt: ein Leben in Armut, häufig begleitet durch erzwungene Mobilität. Diese gesellschaftlich erzwungene Lebensform sei historisch wiederkehrend zum öffentlichen Sicherheitsproblem erklärt und über Jahrhunderte auf unterschiedliche Weise bekämpft worden: „Verschiedene Bevölkerungsgruppen wurden in die Armut gedrängt, und in komplexen gesellschaftlichen Vorgängen wurde das Bild bzw. die Vorstellung der spezifischen Lebensweise mit der ‚Zigeuner‘-Figur verbunden“ (S. 33).
Auf der Grundlage dieser Begriffsbestimmung – Antiziganismus als Zusammenspiel eines spezifischen Rassismus und der hegemonialen Bekämpfung einer Lebensform, die der Kapitalismus strukturell hervorbringt – zeichnet Tittel im Weiteren die gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen nach, die dazu geführt haben, dass nicht nur das antiziganistische Gewaltverhältnis öffentlich kaum wahrgenommen wird, sondern auch eine Forschung über seine Ursachen und Auswirkungen bis heute institutionell kaum verankert ist. Zugleich positioniert sich Tittel bereits an dieser Stelle kritisch zu der in der Antiziganismusforschung gängigen These, dass Antiziganismus historisch zunächst ein sozialdisziplinierendes Phänomen darstellte und erst später eine rassistische Form annahm, die dann in der Verfolgung und Vernichtung während des Nationalsozialismus kulminierte. Wurde bislang eher über den Zeitpunkt dieses inhaltlichen Wandels gestritten, formuliert Tittel die für ihre weitere Argumentation zentrale Gegenthese, dass nämlich beide Aspekte von Anbeginn ineinander verwoben waren. Gerade für ein politisches Verständnis von Antiziganismus sei es wichtig, die enge Verbundenheit der sozialen und der rassifizierenden Kategorien im antiziganistischen Gewaltverhältnis sichtbar zu machen.
Damit ist auch das Thema des zweiten Kapitels umrissen. Tittel analysiert hier an „Fallbeispielen“ die Repräsentation der „Zigeuner“-Figur im Bereich der Politischen Theorie und der Ideengeschichte. Sie beginnt mit einer Darstellung des „aufklärerischen Antiziganismus“ bei Immanuel Kant. In dessen Bild vom „Zigeuner“ als vernunftloser „Rasse“ erkennt sie eine spezifische Variante des jüngst von Oliver Eberl (2021) umfassend rekonstruierten Barbareidiskurses der Politischen Theorie. Damit habe Kant den „Grundstein für einen rassistischen Antiziganismus“ gelegt, der den gesellschaftlichen und politischen Ausschluss rechtfertigte.
Konträr zu Kants rassistischer Konstruktion steht Karl Marx‘ berühmte Analyse der Herstellung des „Vagabundentums“ im Prozess der sogenannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Marx beschreibt die Verarmung der ihrer Subsistenzmittel beraubten Landbevölkerung, die gezwungen war, in die Städte zu ziehen und sich den Arbeitsbedingungen des Manufaktursystems zu unterwerfen. Er zeigt, wie die ökonomische Transformation vom feudalistischen zum kapitalistischen System massenhaft Vertriebene hervorbrachte, die sich „durch den Zwang der Umstände“ in „Bettler, Räuber, Vagabunden [verwandelten]“ (Marx, 1890, S. 762). Er zeichnet die Entstehung drakonischer Gesetze nach, die die zu „Vagabunden und Paupers“ gemachte Bevölkerung kriminalisierten und mit grausamen Strafen sanktionierten. Und er bestimmt die Funktion dieser Gesetze, die darin besteht, die expropriierte Bevölkerung in die dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineinzuzwingen. Zeitgleich zur „Blutsgesetzgebung wider Vagabundage“ entstehen aber auch die ersten modernen Anti-Zigeuner-Gesetze. Auch sie haben die gesellschaftliche Funktion, den Prozess der subjektiven Verinnerlichung der durch das Kapital objektiv gesetzten Normen abstrakter Arbeit voranzutreiben. Zugleich aber lasse sich zeigen, so Tittel, dass die bis heute fortdauernden Ursprungsmythen über die „Zigeuner“ eine verschleiernde Wirkung über die gesellschaftlichen Ursachen des sozialen Ausschlusses hatten: „Sie verschleiern die soziale Stellung der Sinti:ze und Rom:nja mittels einer Erzählung von Exotik und Kultur und gehen Hand in Hand mit der Versicherheitlichung und Kriminalisierung sowohl der sozialen Frage im Allgemeinen als auch bezüglich der Sinti:ze und Rom:nja im Besonderen. Damit kristallisiert sich die Versicherheitlichung der sozialen Frage als eine der Grundsäulen des Antiziganismus im Kapitalismus heraus“ (S. 92). Lasse sich mit Marx die gesellschaftliche Funktion der Kriminalisierung ökonomiekritisch erklären, so fehle bei ihm die rassismuskritische Perspektive, ohne die sich die Spiralen der Verelendung und dauerhaften Ausgrenzung der als „Zigeuner“ rassifizierten Bevölkerungsgruppen Europas nicht begreifen lassen.
Wurde in der Antiziganismusforschung, sofern sie sich überhaupt auf die Kritische Theorie bezog, bislang eher an die Antisemitismuskritik in der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno angeknüpft, setzt Tittel in ihrem dritten politisch-theoretischen „Fallbeispiel“ einen anderen Fokus. Sie fragt nach der Funktion der Figur des „Unzivilisierten“ bzw. „Primitiven“ im Kontext europäischer Fortschritts- und Verfallsvorstellungen und untersucht, wie sich eine Antwort darauf aus der Perspektive der dialektischen Fortschrittskritik der Kritischen Theorie darstellt. Dabei stellt sie den Bezug zum Antiziganismus durch den Hinweis her, dass sich zahlreiche Motive der Figur des „Unzivilisierten“ auch in der „Zigeuner“-Figur wiederfinden. Beide stellen eine „Abgrenzungsfigur“ im politisch-theoretischen Denken dar, anhand derer die moderne Gesellschaft „entweder als geordnet und zivilisiert (Hobbes) oder als unfrei und von Arbeit geprägt (Rousseau) gezeichnet werden kann“ (S. 121 f.). Aus Sicht der Kritischen Theorie aber, so Tittels Interpretation, sind beide Vorstellungen in komplementärer Weise ideologisch, indem sie einerseits den Mangel, das Elend und das Chaos in der Gesellschaft der Gegenwart verschleiern, andererseits die Sehnsucht nach einem besseren Leben auf eine nie wieder erreichbare Vergangenheit projizieren. In der Ambivalenz der „Zigeuner“-Figur treffen sich sodann die beiden sich widersprechenden Narrative moderner politisch-theoretischer Naturzustandsbeschreibungen: Barbarei und Paradies, Verbrechen und Freiheit vom Arbeitszwang. Darin zeige sich zugleich, wie tief der Antiziganismus seiner Struktur nach in die kulturelle und gesellschaftliche Denkweise moderner Gesellschaften eingeschrieben sei. „Antiziganismus“ so Tittels These, „hat somit eine stabilisierende Funktion für ein widersprüchliches Selbstbild einer widersprüchlichen Gesellschaft. Zugleich wird er durch genau diese Denkweise und Praktiken auch selbst stabilisiert“ (S. 122).
Spielt die These von der „Versicherheitlichung der sozialen Frage im Kapitalismus“ schon im ideengeschichtlichen Teil des Buchs eine tragende Rolle, analysiert das dritte Kapitel mit den Mitteln der Critical Security Studies und insbesondere der Securitization Theory historische Quellen, die die staatlichen Praktiken der Herstellung von Sicherheit und Ordnung dokumentieren. Sie zeigen, wie Sinti* und Roma* neben anderen stigmatisierten Bevölkerungsgruppen staatlicherseits zu einem Sicherheitsproblem gemacht, also „versicherheitlicht“ wurden, und ein Generalverdacht gegen sie etabliert wurde. Auch hier spielen die Prozesse der Rassifizierung und der Kriminalisierung eng zusammen, „etwa durch die Einführung von Datensammlungen und Karteien und durch die Verschmelzung von Anthropologie, Kriminalwissenschaft und Polizeiarbeit“ (S. 131). Neben den textbasierten Quellen untersucht Tittel auch die visuellen Formen der Versicherheitlichung, die von den frühneuzeitlichen „Zigeuner“-Warntafeln an Grenzübergängen bis hin zur modernen standardisierten Polizeifotografie reichen.
Beide Perspektiven – die Analyse politischer Denkformen der Staatsbegründung bzw. Staatskritik und die Analyse staatlicher Praktiken der Herstellung von Sicherheit und Ordnung – zusammenführend mündet das vierte Kapitel in einer Bestimmung des Verhältnisses von Antiziganismus und Politischer Theorie. Zum einen trage, so Tittel, die Auseinandersetzung mit Antiziganismus zu einer Selbstaufklärung der Politischen Theorie bei. Sichtbar werden die ihrem Verständnis von politischer Ordnung und Staatlichkeit innewohnenden Ausschlüsse der vermeintlich „Unpolitischen“ und „Nichtstaatlichen“ und damit insbesondere auch die Verstrickungen der Politischen Theorie in das antiziganistische Herrschaftsverhältnis. Zum anderen ermögliche die Analyse des Zusammenspiels der politisch-theoretischen Repräsentationen der „Zigeuner“-Figur mit der Bekämpfung einer bestimmten Lebensweise durch staatliche Behörden, Antiziganismus als politische Herrschaftspraxis durchschaubar zu machen: „Antiziganismus kann […] als eine spezifische Herrschaftspraxis von Menschen über Menschen verstanden werden, in der soziale Widersprüche von Logiken der Versicherheitlichung überdeckt werden“ (S. 194). Und so kann schließlich auch die innere Verbindung der politisch-theoretischen Begründung des Staatlichen und der praktischen Herstellung von Staatlichkeit begriffen werden: „Beiden Bereichen ist gemein, dass staatliche Ordnung durch den Ausschluss von vermeintlicher Nichtstaatlichkeit, die sich mit Inhalten des Bilds des ‚Zigeuners‘ ausfüllen lässt, hergestellt wird“ (S. 199). Welche Schlussfolgerungen sich daraus für das Projekt einer politischen Theorie des Antiziganismus ergeben, erörtert Tittel mit Blick auf die von ihr analysierte „Dialektik der Versicherheitlichung“ und mit Bezügen zu Theorieansätzen aus der Antisemitismus- und Rassismuskritik im Schlussteil des Kapitels: „Eine politische Theorie, die Antiziganismus auf diese Weise als Beherrschung sozialer Widersprüche über differenzkonstituierende Mechanismen versteht, rückt, entgegen etablierter Zugänge, strukturelle Ambivalenzen und Widersprüche in den Blick, anstatt sie auszublenden“ (S. 201).
Diskussion
Tittel analysiert die Genese und Funktion von Antiziganismus aus einer Perspektive, die in der Antiziganismusforschung bislang kaum präsent war, eben der sich mit den Begründungsfragen politischer Ordnung auseinandersetzenden Disziplin der Politischen Theorie. Dadurch kann sie erklären, wie institutioneller Antiziganismus mit der Herausbildung des modernen Staatenwesens entsteht und sich dauerhaft etabliert. Zugleich wird die konstitutive Rolle, die dem Antiziganismus in diesen Prozessen zukommt, erkennbar. Die Arbeit zeigt überdies, dass Antiziganismus nicht einfach unter Rassismus subsumiert werden kann. Die Spezifik des Herrschaftsverhältnisses, das Tittel in ihrer Analyse der Denkformen und Praktiken des Staatlichen und seiner Ausschlüsse sichtbar macht, ginge verloren.
Das Buch ist aber auch in seiner Vorgehensweise originell. Tittel selbst spricht in Anspielung an den hermeneutischen Zirkel von einer „Methode der spiralförmigen Annäherung“ an den Gegenstand. Indem einerseits die Repräsentation der „Zigeuner“-Figur ideengeschichtlich anhand von „Fallbeispielen“ rekonstruiert, andererseits der staatliche Umgang mit den stigmatisierten Bevölkerungsgruppen anhand von historischem Archivmaterial untersucht wird, soll ein „eigener Theorieansatz“ generiert werden, der die beschriebenen Phänomene als modernes Herrschaftsverhältnis deutet. Auch wenn die Umsetzung dieses Vorhabens in Teilen zu skizzenhaft bleibt, um der Größe und Tragweite der in ihr verhandelten Fragen, die ja nicht weniger als eine fulminante Kritik an der traditionellen Politischen Theorie enthalten, gerecht zu werden, bietet es allemal „Ansätze für eine neue, gesellschaftstheoretisch angeleitete Kritik des Antiziganismus“ (S. 22). An ihnen kann weitergearbeitet werden. So zum Beispiel an folgendem, einen Vorschlag der US-amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin und Theoretikerin der Critical Race Theory Kimberlé Crenshaw aufgreifenden und das Buch abschließenden Satz, der ein ganzes Programm zukünftiger Forschung enthält: „Für eine kritische Theorie des Antiziganismus muss der Begriff des Politischen aus der Perspektive der Marginalisierten heraus neu gedacht werden“ (S. 225).
Fazit
Das Buch hält, was sein Titel verspricht. Mit ihm liegt erstmalig der Grundriss zu einer politischen Theorie des Antiziganismus vor, die diesen als modernes Herrschaftsverhältnis durchschaubar macht. Ein für die Politikwissenschaft und die Antiziganismusforschung gleichermaßen nicht nur inhaltlich, sondern auch programmatisch wichtiges Werk.
Literatur
Eberl, Oliver (2021): Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus. Hamburg: Hamburger Edition, 2021.
Marx, Karl (1890 [1984]). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: MEW, Bd. 23. Berlin: Dietz Verlag.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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