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Jens Bisky: Die Entscheidung

Rezensiert von Ronny Noak, 15.04.2025

Cover Jens Bisky: Die Entscheidung ISBN 978-3-7371-0125-7

Jens Bisky: Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2024. 639 Seiten. ISBN 978-3-7371-0125-7. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Thema

Vielfach hat das 100-jährige Jubiläum der Gründung der Weimarer Republik zu einer vertieften Befassung mit den Jahren 1918/19 ff. geführt. Mit dem Ende des Jubiläums rückte das Interesse an dieser Etappe der deutschen Demokratiegeschichte aber wieder in den Hintergrund. Mit dem Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte in Europa und den Vereinigten Staaten geht aber auch ein brennglasartiger Blick auf das Ende der ersten deutschen Demokratie einher. Mit dem Band „Die Entscheidung“ liegt nun ein über 600 Seiten starker Band vor, der die letzten Jahre der Weimarer Demokratie in das Zentrum rückt.

Autor

Der Autor Jens Bisky studierte Kulturwissenschaften und Germanistik, bevor er anschließend Feuilletonredakteur bei der Süddeutschen Zeitung wurde. Seit 2021 arbeitet er am Hamburger Institut für Sozialforschung. Immer wieder widmet er sich dabei historischen Themen verschiedenster Epochen, sodass er auch Werke zu Friedrich dem Großen oder der Stadt Berlin vorweisen kann.

Aufbau

Der Band besitzt neben dem Prolog und dem Epilog 21 Kapitel. In seiner Betrachtung der Jahre 1929 bis 1934, die man allesamt als demokratische Krisenjahre bezeichnen könnte, geht der Autor chronologisch vor. Dabei waltet er in der Aufteilung nahezu salomonisch, denn jedes Jahr erhält circa 100 Seiten Umfang. Erst die Jahre 1933/34, in denen die Demokratie mit wesentlich schnelleren Schlägen beseitigt wird, werden etwas rasanter und knapper erzählt. Das mag auch darauf zurückzuführen sein, dass hier der Forschungsstand wesentlich umfassender ist, als für die Jahre zuvor, und da wohl weniger vergleichendes Quellenmaterial existiert, da die Presse im Dritten Reich rasch gleichgeschaltet wurde.

Inhalt

Um einen Überblick über die Inhalte eines Buches zu gewinnen, genügt manchmal ein Blick in das Personenverzeichnis – welches hier hervorragend geführt ist. Dass in einem Buch, welches sich mit der Zerstörung der Weimarer Demokratie befasst, der Name Adolf Hitler am häufigsten vorkommt, mag nicht verwundern. Quantitativ folgen danach auch die weiteren NSDAP-Schergen wie Joseph Goebbels und Hermann Göring sowie der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg. Danach wird es aber spannend, schließlich die Namen zu folgen, die wohl öffentlich weniger bekannt sein dürften: Otto Braun als letzter demokratischer preußischer Ministerpräsident ist nahezu genauso oft erwähnt wie Heinrich Brüning oder Kurt von Schleicher. Auch die Literatenfamilie Mann mit Thomas und Klaus wird vergleichsweise häufig genannt. Beide waren schließlich nicht nur literarisch, sondern auch durchaus politisch aktiv. Genauso wie der bereits verstorbene erste Reichspräsident Friedrich Ebert. Und schließlich wäre da noch der Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) Alfred Hugenberg zu nennen, den sicherlich die wenigsten kennen, der aber stolze 47-mal erwähnt wird. Mit diesen Namen ist der Band eigentlich schon umrissen. Er behandelt die letzten Jahre der Republik als Krisenjahre der Demokratie. Während auf der einen Seite Demokrat*innen wie Braun und die Manns versuchen, die Demokratie durch die Krisenjahre zu führen, arbeiten auf der anderen Seite ihre Gegner an der stetigen Beseitigung demokratischer Errungenschaften. Und dies geschieht – so zeigt die umfassende Betrachtung der Ereignisse – nicht etwa über Nacht, sondern sukzessive. Detailliert nimmt Bisky die Ereignisse der Jahre von der Weltwirtschaftskrise bis zum sogenannten „Röhm-Putsch“ unter die Lupe. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der Betrachtung der politischen Ereignisse. Dreh- und Angelpunkt sind dabei die Geschehnisse um den Berliner Reichstag. Immer wieder fließen aber auch soziologische und wirtschaftliche Analysen und – besonders lesenswert – die mediale und kulturelle Einschätzung des Geschehens ein. Dabei orientiert sich der Autor an den Wegmarken der Zeit: sei es die Einsetzung der Präsidialkabinette, der BVG-Streik von NSDAP und KPD, der „Preußenschlag“ oder die Bücherverbrennungen nach 1933. Immer wieder verdeutlicht der Autor die Motive der Handelnden, geht auf Netzwerke und Interessenkonflikte und einstweilen sogar auf Handlungsspielräume und -alternativen ein. Dabei fokussiert Bisky, wie er selbst im Fazit schreibt, auf drei Bereiche besonders: „den Zerfall der bürgerlichen Kultur, die strategische Hilflosigkeit der Sozialdemokratie und die Verantwortungslosigkeit konservativer Hasardeure.“ (S. 569).

Diskussion

Warum sollte ein Buch über die Jahre 1929 bis 1934 im Jahr 2025 gelesen werden? Man kann es zunächst als historische Zufälligkeit beschreiben, aber 1926 erhielt Gustav Stresemann (zusammen mit seinem französischen Pendant Aristide Briand den Friedensnobelpreis. 13 Jahre später begann der Zweite Weltkrieg. 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis – und nur 10 Jahre später herrscht mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wieder Krieg in Europa. Das Beispiel macht zweierlei deutlich:

Erstens: Man sollte Korrelation nicht mit Kausalität verwechseln. Beide Kriege stehen unter gänzlich verschiedenen Vorzeichen – sind aber dennoch Ausdruck eines erstarkenden Imperialismus. Daneben gibt es aber große Unterschiede.

Zweitens: Wir können viel aus der Geschichte der Weimarer Republik lernen. Jens Bisky gelingt es schließlich, ein derart facettenreiches Bild der letzten freien Jahre vor dem Dritten Reich zu zeichnen, dass man sich manchmal hineinversetzt fühlt. Er macht auch in seinem Epilog deutlich, dass die Weimar und die Bonner bzw. Berliner Republik viel unterscheiden. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten sind trotz aktueller Krisen an der Börse wesentlich stabiler, die internationale Friedensordnung ist zwar stark bedrängt, aber Reparationsforderungen, die deutlichen Einfluss auf die Tragfähigkeit der Demokratie haben, existieren in Europa heute nicht mehr. Die Weimarer Politik ist aber ohne den ständigen Aushandlungsmomenten um die Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg gar nicht zu denken – und war trotzdem relativ lange stabil. Aber der Band sollte uns aufhorchen lassen, denn er richtet sich stark an die Demokrat*innen der Gegenwart, seien es Sozialdemokrat*innen, Liberale oder Konservative. Diese drei Strömungen bildeten lange den demokratischen Schutzschirm gegen politische Feinde. Erst als „das Gemeinsame“ der drei verloren ging, erodierten die demokratischen Verhältnisse. Somit ist der Band für alle demokratisch Gesinnten ein Gewinn, will man sich über Folgen des „Aussitzens“ und fehlender Konzepte informieren.

Neben den oben genannten Stärken sei noch auf zwei „blinde Flecken“ des Buches hingewiesen. Zum einen kommt leider eine explizit feministische Perspektive der Zeit viel zu kurz. Zwar handelt es sich bei den Jahren 1929 bis 1934 noch immer um die Epoche der „Geschichte großer Männer“. Frauen wie Marie Juchacz, die die Arbeiterwohlfahrt prägte und nicht nur als erste Frau in der Nationalversammlung gesprochen hatte, sondern dem Reichstag auch bis 1933 angehörte oder Elfriede Ryneck, die von 1924 bis zur Auflösung dem preußischen Landtag angehört hatte und sich für Frauenrechte einsetzte, kommen an keiner Stelle vor. Weimar war aber auch in dieser Hinsicht – nicht nur durch die Einführung des Frauenwahlrechts – an vielen Stellen progressiv.

Zum Zweiten ist die Länderebene etwas unterrepräsentiert. Das größte Land der Weimarer Republik – Preußen – rückt erst mit dem Staatsstreich vom 20. Juli 1932 in den Vordergrund. Thüringen erhält als späterer Mustergau und Experimentierlabor für die Nazis vor 1933 besondere Aufmerksamkeit. Alle anderen föderalen Gebiete werden nur marginal beleuchtet.

Was bleibt von Weimar? Viele Elemente der Bundesrepublik haben ihren Ursprung in der Weimarer Republik – sei es das Frauenwahlrecht oder unser Steuersystem im Sinne der „erzbergersche Finanzreform“. Was wir aber auch heute noch aus Weimar lernen können, zeigt Jens Bisky. In klaren Schlaglichtern zeichnet er ein schillerndes und facettenreiches Bild der Zeit, welche zwar in einer gewissen Dauerkrise steckte, trotzdem aber stellenweise auch von einer Euphorie und Aufbruchsstimmung gepackt wurde. Gerade diese positiven Aspekte sollten uns zeigen, dass Demokratien sich vor allem dadurch bewähren, dass sie in Krisen aushandeln können. Erst wenn wir diesen Mechanismen nicht mehr vertrauen, haben die Feinde der Demokratie eine Chance.

Fazit

„Die Entscheidung“ von Jens Bisky überzeugt durch seine kluge Analyse und dichte Erzählweise historischer Wendepunkte. Bisky gelingt es, komplexe Zusammenhänge verständlich und spannend aufzubereiten. Das Buch bietet damit nicht nur historische Einsichten, sondern auch Denkanstöße für gegenwärtige gesellschaftliche Debatten.

Rezension von
Ronny Noak
Doktorand am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 20 Rezensionen von Ronny Noak.

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ISSN 2190-9245