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Anna Palatini, Sebastian Bischoff: «Sexuelle Revolutionen»

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Sielert, 04.06.2025

Cover Anna Palatini, Sebastian Bischoff: «Sexuelle Revolutionen» ISBN 978-3-89657-648-4

Anna Palatini, Sebastian Bischoff: «Sexuelle Revolutionen». Eine historisch-politische Einführung. Schmetterling Verlag GmbH (Stuttgart) 2025. 200 Seiten. ISBN 978-3-89657-648-4. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR.
Reihe: Theorie.org.

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Autor*innen

Anna-Myrte Palatini hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert und forscht zu den Themen Psychoanalyse, Erinnerung, Sexualität und Geschlecht. Sebastian Bischoff hat Geschichte, Soziologie und Philosophie studiert und forscht zur Geschichte der politischen Rechten, der Sexualitäten und des Ersten Weltkriegs.

Entstehungshintergrund

Die Monografie entstand im Kontext des 2024 bewilligten DFG-Projekts „Die bundesdeutsche Rechte und die „Sexuelle Revolution“. Dabei steht laut Antrags-Abstract „nicht das Verhältnis der politischen Rechten zur Sexualität im Vordergrund, sondern die in ihrer Ambivalenz gedächtnis- und identitätsstiftende Rolle der ‚sexuellen Revolution‘ als Erinnerungsort an diskursiv-medialen Kristallisationspunkten.“ [1]

Aufbau

Das Buch beginnt mit einem theoretischen Vorspiel zu den Begriffen ‚Sexualität‘, ‚sexuelle Revolution‘ und ‚sexuelle Utopie‘, wirft im zweiten Kapitel Schlaglichter auf Inseln sexueller Liberalisierung vor 1880 und behandelt anschließend in Kapitel drei die erste sexuelle Revolution um 1900 und in Kapitel vier die zweite sexuelle Revolution von 1945–1977. Die letzten vier Seiten des Buchs wagen einen Ausblick auf die neosexuelle Revolution, mit der Volkmar Sigusch die aktuelle Situation der Sexualverhältnisse bezeichnete. [2]

Inhalt

Laut Einleitung will das Buch „den Auseinandersetzungen um sexuelle Repressionen und rechtliche Gleichstellung, Selbstbestimmung und Anerkennung von Frauen sowie sexuellen und Gender-Minderheiten nachspüren, die seit der Neuzeit bis zur zweiten ‚sexuellen Revolution‘ um 1968 in wiederkehrenden Wellen, mit unterschiedlichen politischen Zielen, unter differierenden Losungen und auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen geführt wurden“ (S. 7). Das Interesse der Lesenden wird mit anschaulich-konkreten Fragestellungen geweckt: „Wo fanden um 1720 mann-männliche Sex- und Cross-Dressing-Partys statt? Welcher Frühsozialist bestimmte den Grad der Emanzipation einer Gesellschaft anhand des Fortschritts in der Frauenbefreiung? Wie dachte Sigmund Freud über den Zusammenhang von Kultur und Sexualität und was verstand Alexandra Kollontai im revolutionären Russland unter ihrer Forderung nach allseitiger ‚kameradschaftlicher Liebe‘? Wie bestimmte Herbert Marcuse das Verhältnis von Sex und kapitalistischer Produktionsweise, was hätte Anne Koedt Wilhelm Reich über den weiblichen Orgasmus gelehrt und in welchem Zusammenhang stand die feministische Kritik an der ‚sexuellen Revolution‘ mit dem politischen Lesbianismus nach 1970?“ (S. 7)

Das alles kann nicht adäquat beantwortet werden, wenn die grundsätzliche Frage nach dem Wesen und Begriff der Sexualität ungeklärt bleibt. Entsprechend wird deren Verständnis historisch aus der Entwicklung der arbeitsteilig sich reproduzierenden Gesellschaft hergeleitet. Was einstmals eher integriert als isoliert vom sonstigen Kultur- und Affektleben existierte, wurde durch die Vereinzelung des menschlichen Subjektverständnisses enggeführt auf ein naturhaft-genitales Geschehen ohne gesellschaftliche Einbindung. Erst Freuds Psychoanalyse beschrieb die Dialektik von Trieb und Kultur, machte die Spaltung von Körper und Geist als Verdrängungsprozess kritisierbar und weist gleichzeitig darauf hin, dass alles Kulturelle libidinös vermittelt ist. Sexualität wird im Libidokonzept als Grundmotivation menschlichen Begehrens konzipiert, das nie zur vollen Befriedigung führt, immer gegen die herrschende Vernunft rebelliert und sich unverfügbar aus dem speist, was dem Ich gerade entgeht.

Mit diesem ganzheitlichen und dialektisch-dynamischen Sexualitätsbegriff beschreiben und analysieren Palatini und Bischoff die jeweiligen sexuellen Utopien und Befreiungsbewegungen. Sie beginnen bei den Frühsozialist*innen über die Arbeiter- und Frauenbewegung sowie die gesellschaftlichen Sexualreformen um den ersten Weltkrieg herum, nehmen sich ausführlich die sexuellen Revolution nach dem zweiten Weltkrieg vor und kommentieren in Ansätzen die von Sigusch als ‚dritte Revolution‘ bezeichnete Wandlung der sexuellen Verhältnisse in der neoliberalen Spätmoderne. Immer werden die mit historischen Quellen belegten detailliert beschriebenen Praxisprojekte mit den sie legitimierenden Konzepten ihrer Protagonist*innen verknüpft und auf einer ideologiekritischen Metaebene kommentiert. Ohne die vielen historisch verankerten Befreiungsversuche im Einzelnen nachzeichnen zu können, sollen die Analysewerkzeuge benannt werden, mit denen der historische Rückblick umfassend qualifiziert wird:

  • die Konfrontation von Konzept und Praxis mit dem dynamischen Begriff des Begehrens, der nicht idealisierend auf einen essentiellen Naturzustand des Sexuellen reduziert werden kann;
  • die Einbettung der jeweiligen Subjektverständnisse und daraus resultierenden Bedürfnisse in den Stand der Produktivkräfte und den ‚stummen Zwang der gesellschaftlichen Verhältnisse‘:
  • die Dialektik zwischen heteronormativer Dominanzkultur und homosexuellen bzw. queeren und geschlechtlichen Teilkulturen;
  • die Beleuchtung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und ihren Konflikten sowie Solidarisierungsversuchen;
  • die wechselseitige Befruchtung und Konflikthaftigkeit zwischen Sexualwissenschaft und sozialen bzw. sexuellen Bewegungen;
  • der Antagonismus von bürgerlich-sexualkonservativer Herrschaft und ihrer Herausforderung durch diverse Konzepten linker Theorie und Politik.

Als durchgehende Theorie- und Konzeptquelle wird die Psychoanalyse herangezogen – von ihren Freud‘schen Anfängen über die Weiterentwicklungen durch politisch engagierte Freund Schüler (Wilhelm Reich, Herbert Marcuse) und sozialistisch-feministische Frauenrechtlerinnen (Alexandra Kollontai, Anne Koedt) bis zu moderneren Konzepten französischer Analytiker (Laqueur, Lacan). Eine große Rolle spielt wiederkehrend das Freud‘sche Konzept der Ungerichtetheit der kindlichen, polymorph-perversen Partialtriebe und der sich später entwickelnden objektbezogenen und genitalfokussierten Erwachsenensexualität. Erstere werden mit den Motivationsquellen vieler Befreiungsbewegungen, letztere mit dem Realitätsprinzip der vernünftigen und leistungsorientierten Organisation des Sozialen identifiziert.

Inhaltlich wird daher relativ ausführlich auf die Sexualität von Kindern eingegangen, die beiden sexualwissenschaftlichen Konzepte der Homogenität (empirische Sexualwissenschaft) bzw. Heterogenität (Psychoanalyse) angesprochen. In einem Exkurs werden mithilfe eines Interviews die sexualpolitischen Fortschritte wie auch pädophilen Verstrickungen der 1968er-Bewegung beleuchtet.

Vielversprechend gewährt das Buch auf den letzten Seiten einen Ausblick auf die Paradoxien der ‚neosexuellen Revolution‘, deren Zwiespältigkeit sich mithilfe des Sexualforschers Volkmar Sigusch auch so ausdrücken lasse: „anterotische Sexualdemokratie, ratifizierte Lustfeindschaft, Stehenbleiben beim Sichfallenlassen, liebevolle Lieblosigkeit, solidarische Selbsterfüllung“(S. 216). Das Befreiende suche man in dieser „reellen Subsumtion der sexuellen und geschlechtlichen Sphäre unter die selbstbezügliche Bewegung des Kapitals“ (ebd.) vergeblich. Im Gegenteil: Was sich gegenwärtig erfolgreich behauptet, seien reaktionäre Gewaltdiskurse und teils erfolgreiche Rückabwicklungen liberaler Errungenschaften (vgl. ebd.).

Diskussion

Trotz dieses in einer Fußnote (S. 7) als „nicht streng wissenschaftlich“ konzipierten Buchs bedarf es doch eines gewissen Durchhaltevermögens, um die Verbindung der zahlreichen historischen Details mit Theorie-Extrakten und komprimierten Diskursbeschreibungen nachzuvollziehen. Es lohnt sich aber, weil das Werk sowohl den aktuellen Stand sexualwissenschaftlicher Theorie beachtet als auch historisch gut belegte Details sexueller ‚Befreiungsinseln‘ (S. 42) des Frühsozialismus und der späteren komplexeren Befreiungsbewegungen präsentiert. Dabei sind sich die Autor*innen bewusst, dass „Quellenfragen = Machtfragen“ (S. 44) sind und ihr Einblick in die Sexualgeschichte spezifischen (auch geografischen) Einschränkungen unterliegt.

Besonders wertvoll ist die Definition der Sexualität, die sowohl auf die breite sozialpolitische Affektökonomie gesellschaftlicher Verhältnisse und Bewegungen rekurriert als auch die vielen Antagonismen beachtet, die mit der psychosozialen Konflikthaftigkeit des menschlichen Begehrens in sich zusammenhängen. Immer wieder werden beim genauen Hinschauen auf die gut gemeinten Konzepte sexueller Utopien und ihrer Verwirklichung Geschlechter- und Machtkonflikte erkennbar, vor allem aber vielfältige Instrumentalisierungen erotischer Kräfte und Wünsche für politische Zukunftsszenarien.

Auf die Frage danach, ob sexuelle Revolutionen tatsächliche oder nur scheinbare Befreiungen zuwege bringen, antworten die Autor*innen meist mit einem begründeten „Sowohl-Als-auch“. Frei wurde die Sexualität vom Naturzwang mit seinen als unabdingbar behaupteten konkreten Einschränkungen in einer lange als weitgehend nicht-kapitalistisch vermittelten sexuellen und geschlechtlichen Sphäre des Privaten. Aber auch die neuen Werte der sexuellen Selbstbestimmung sind nicht gesellschaftsunabhängig, sondern unterliegen der Herrschaft der ‚zweiten Natur‘ einer Gesellschaft, die ihre Individuen über Wert, Ware und Arbeit vermittelt und einer Nation, die den Ein- und Ausschluss organisiert (vgl. S. 29). Momentan sieht es (noch) nicht so aus, als könne die „Atomisierung der Gesellschaftsindividuen im Gewand der Pluralität“ (Zitat Sigusch, hier S. 30) und die „Desexualisierung des Sexus“ (Zitat Adorno, hier S. 31) erfolgreich aufgehoben werden. Und dennoch plädieren die Autor*innen dafür, „die Denkmöglichkeit einer auch im sexuellen Sinne freien Gesellschaft, die ohne die Aufhebung kapitalistischer Vergesellschaftung nicht möglich ist, offenzuhalten“ (S. 33).

Sehr inspirierend fand ich auf Seite 34 des Textes das Zitat von Karl Marx, in dem er potentiell die libidinös freie Gesellschaft ansprach, die es „möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je ein Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu werden“. Palatini und Bischoff wagen daraus folgenden Äquivalentschluss: „Lustvolle, durch sich selbst bestimmte Tätigkeit, ohne dem Subjekt direkt eine Identität aufzuzwingen, wäre auch Utopie der Sexualverhältnisse, in der ich dies und jenes tun kann, ohne dabei je Hetera, Schwuler, Asexueller, Frau, Trans oder Cis zu werden“ (S. 34).

Der historische und theoretische Bogen wurde von den Autor*innen in dem vorgelegten Buch schon weit gespannt und tiefgründig ausgebaut. Und dennoch reizt es mich als Rezensent, auf eine französische sozialphilosophische Ontologie der Beschäftigung mit Sexualität, Sexualassemblagen und ihrer Affektökonomien aufmerksam zu machen, die den Horizont der Analyse noch hätte erweitern können. Die Texte von Deleuze und Guattari zum ‚Neuen Materialismus‘ und zur Assemblagetheorie ermöglichen die Berücksichtigung der nicht-menschlichen Umwelt und einer noch viel differenzierteren Analyse der sowohl entfremdenden als auch emanzipierenden Sexualverhältnisse als es der Rekurs auf den historischen Materialismus es hergibt [3].

Fazit

Der Wert des hier besprochenen Buchs besteht nicht nur in dem oben schon ausführlich gewürdigten Erkenntnis- und Denkangebot zur Analyse und Transformation der Sexualverhältnisse im europäischen und nordamerikanischen Kulturraum. Er besteht auch darin, sowohl bei intensiver Lektüre (die eine gewisse Disziplin erfordert) als auch dem spontan auswählenden Hineinschauen (was eher dem lustvollen Lesen entspräche) zum Erinnern und Weiterdenken angeregt zu werden. Immerhin macht es Neugierig, um sich auf einer eigenen Spur der „erotischen Vernunft“ zu bewegen.


[1] https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/​geschichtswissenschaft/​abteilung/​arbeitsbereiche/​zeitgeschichte/​forschung/​habilitationen/​Bischoff-Konservative-und-extrem-rechte-Perspektiven-und-Reaktionen-auf-die-Sexuelle-Revolution.pdf

[2] Sigusch, Volkmar (2005): Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt a.M.: Campus.

[3] Fox, Nick, J. & Alldred, Pam. (2013). The sexuality-assemblage: desire, affect, antihumanism. Sociological Review, 61 (4): 769–789.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Sielert
Uwe Sielert, arbeitete bis 2017 als Professor für Pädagogik mit den Schwerpunkten Sozial- und Sexualpädagogik an der Christian- Albrecht-Universität zu Kiel.
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Es gibt 13 Rezensionen von Uwe Sielert.

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ISSN 2190-9245