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Antonia Schirgi: Nähe auf Distanz

Rezensiert von Dr. Franziska Sophie Proskawetz, 21.03.2025

Cover Antonia Schirgi: Nähe auf Distanz ISBN 978-3-95832-375-9

Antonia Schirgi: Nähe auf Distanz. Eine Sozialtheorie menschlicher Begegnungen mit und nach Maurice Merleau-Ponty. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2024. 375 Seiten. ISBN 978-3-95832-375-9. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 54,90 sFr.

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Thema und Entstehenshintergrund

Antonia Schirgi setzt sich in ihrer umfangreichen Monographie „Nähe auf Distanz. Eine Sozialtheorie menschlicher Begegnungen mit und nach Maurice Merleau-Ponty“ mit Begegnungen auf Distanz auseinander, die unseren Alltag zunehmend prägen. Unter Rückgriff auf die Philosophie Merleau-Pontys analysiert Schirgi „nahe“ und „distanzierte“ Begegnungen. Die Veröffentlichung ist aus ihrer Doktorarbeit an der Universität Graz hervorgegangen und 2024 im Velbrück Wissenschaft Verlag erschienen.

Autorin

Antonia Schirgi ist Postdoktorandin am Institut für Soziologie der Universität Graz. Sie forscht u.a. in den Bereichen Körper- und Emotionssoziologie, Phänomenologie und Mikrosoziologie.

Aufbau und Inhalt

Die umfangreiche Theoriearbeit umfasst über 350 Seiten und ist in sechs Hauptkapitel aufgeteilt, die jeweils mehrere Unterkapitel beinhalten. Im Folgenden werde ich eine Auswahl treffen und auf die für mich relevantesten und interessantesten Inhalte eingehen, auf die ich beim Lesen gestoßen bin.

Einleitung

Die Einleitung beginnt mit einem eindrucksvollen Gedicht des steirischen Schriftstellers Peter Rosegger aus dem Jahr 1880, in dem er die Nähe der Ferne im Kontext der europäischen Auswanderung nach Amerika thematisiert (vgl. Rosegger, 2018, S. 9). Dieses Gedicht veranschaulicht treffend das zentrale Konzept der Theoriearbeit: Nähe auf Distanz. Durch den postalischen Austausch, später durch Telefonie und heute durch Videoformate, wurde es im Laufe der Zeit zunehmend möglich, Nähe trotz räumlicher Trennung herzustellen – oft sogar ohne spürbare zeitliche Verzögerung –, sodass das Ferne heute weniger fern erscheint.

Die Covid-19-Pandemie stellte ab 2020 ein „einzigartiges Experimentierfeld für Begegnungen auf Distanz im Zusammenspiel mit neuen Technologien“ dar (S. 12) und unterstrich die hohe gesellschaftliche Relevanz distanzierter menschlicher Begegnungen.

Weiter definiert Schirgi in der Einleitung, was sie unter menschlichen Begegnungen auf Distanz versteht, erläutert das Material, auf das sie für die Theoriearbeit zurückgreift und geht auf die Phänomenologie Merleau-Pontys ein. Zudem gibt sie einen Überblick über den Aufbau des Buches.

Le(s) sensible(s): Le corps et le monde

Schirgi arbeitet in diesem Kapitel u.a. Begriffsdefinitionen nach Merleau-Ponty heraus und hinterfragt dabei kritisch die Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche. Besonders relevant ist die im Deutschen übliche Unterscheidung zwischen Körper und Leib, die im Französischen sprachlich nicht existiert und in der Übersetzung zu Missverständnissen geführt haben könnte. „Keinesfalls führt Merleau-Ponty einen Körper-Leib-Dualismus ein, wie er in der gegenwärtigen deutschsprachigen Soziologie immer wieder diskutiert wird“ (S. 59). Schirgi folgt Merleau-Pontys Begrifflichkeit des „corps sensible“, der für den jeweiligen Menschen eben kein bloßes Objekt ist, sondern ein empfindliches Wesen, das man selbst ist und in dem das Bewusstsein verwurzelt ist. Der Körper besitzt dabei stets zwei Seiten: eine aktive und eine passive Seite. Er ist dementsprechend zugleich empfindend und empfindbar, berührend und berührbar, sichtbar und sehend.

Schirgi stellt die Frage, inwiefern diese Seiten auch im Digitalen zur Geltung kommen können und bemerkt: „Online und offline, ˃virtuell< und <real-physisch< sind nicht als zwei getrennte Welten zu verstehen. So bleiben Menschen Körper, auch wenn sie in online-virtuellen Räumen (bspw. in VR-Chats oder Videokonferenzräumen) bewegen, sie inszenieren ihre Körper physisch und digital, um sie über Social Media sichtbar zu machen und direkt oder indirekt auf andere Körper zu wirken, ihre Existenzen stehen zugleich und in ständiger Wechselwirkung – online und offline“ (S. 87, Hervorhebung im Original).

Auch durch Technologien wie Blindenstöcke, Kontaktlinsen, Hörgeräte, Bildschirme etc. können Nutzer*innen Situationen (in der Ferne) wahrnehmen, ohne das Tools überhaupt zu bemerken, das in diesem Fall nur Medium/​Vermittler bzw. Erweiterung ist. Dementsprechend bleibt in diesen Situationen die grundsätzliche Wahrnehmbarkeit (bzw. Berührbarkeit und Angreifbarkeit) als solche bestehen, auch dann, wenn nicht alle Sinne angesprochen werden können. Teils erweitern Technologien das Körperschema sogar, indem sie ermöglichen, Dinge wahrzunehmen, die ohne sie nicht wahrnehmbar wären. Als Beispiel wird hier die Kamera eines Laptops genannt oder der Blindenstock, der es ermöglicht, den Boden wahrzunehmen. Das erweiterte Körperschema bleibt allerdings zum Teil vulnerabel und direkt angreifbar – beispielsweise dann, wenn ein Auto geschnitten oder angefahren oder Kleidung beschmutzt oder zerrissen wird.

Schirgi merkt weiter an, dass der Körper nie isoliert von anderen und der Welt ist, sondern immer einen Bezugspunkt benötigt, ohne den er nicht existieren könnte: „Stünde der Körper für sich, so gäbe es nichts, das er in >Kommunikation< mit diesem Etwas wahrnehmen könnte, nichts, auf das hin er sich bewegen könnte. Der Körper, so wie Merleau-Ponty ihn versteht, ist jedoch wesentlich eine nicht vollends abgeschlossene Einheit, eine multisensorische Einheit, eine sensomotorische Einheit etc. Ergo, ohne Welt und ohne andere gäbe es keinen Körper in jenem Sinne, in dem Merleau-Ponty ihn versteht“ (S. 91, Hervorhebung im Original). Körper und Welt sind keine getrennten Existenzen. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Welt keineswegs passiv und undurchsichtig ist, sondern selbst intersensoriell. Bewegung beispielsweise ist somit nicht nur eine „Aktivität des Körpers auf die Welt hin, sondern auch eine >Reaktion< der Welt auf den Körper“ (S. 129).

Schirgi geht im weiteren Verlauf auf Wahrnehmung, wie Merleau-Ponty sie versteht ein und kennzeichnet diese als ein „Phänomen der/auf Distanz, m.a.W., es gibt in der Regel einen Abstand zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen“ (S. 119). Sie erläutert die Doppelberührung nach Merleau-Ponty, von der gesprochen wird, wenn ein Mensch mit der einen eigenen Hand die andere eigene Hand berührt und bringt diese in Zusammenhang mit dem Phänomen der Distanz – ist die Doppelberührung doch nur möglich, „weil ein Abstand zwischen Berührtem und Berührendem besteht, die Hände also nicht eins sind“ (S. 126).

Einen weitere Überlegung zu Nähe auf Distanz beschreibt Schirgi wie folgt: „Als körperliche Wesen und wahrnehmende Wesen sind wir immerzu dazu aufgefordert, uns in der wahrgenommenen Umgebung einzurichten“ (S. 169). Das bedeutet jedoch auch, dass die wahrgenommene Umgebung nicht immer mit der tatsächlichen räumlichen Umgebung übereinstimmen muss. Beispielsweise im Schlaf, beim Lesen eines Buches oder in anderen vertieften Wahrnehmungssituationen kann sich der wahrnehmende Körper einer anderen, nicht physischen Situation zuwenden.

Schirgi bezieht in ihre Überlegungen auch Bourdieus Konzepte des Habitus und der Habitualität mit ein und veranschaulicht diese anhand von Merleau-Pontys Beispiel des Phantomglieds. „Die spezifische Ambiguität des Phantomarms ergibt sich daraus, dass der Körper zwei Schichten in sich trägt – die Schicht des corps habituel (habituellen Körpers) und die Schicht des corps actuel (aktuellen Körpers)“ (S. 145, Hervorhebung im Original). Ebenso können kulturelle Muster und Strukturen in das Körperschema eingehen und unser Verhalten prägen, bspw. das Tragen eines Hutes als eine motorische Gewohnheit. Schirgi setzt sich dabei auch mit der Frage auseinander, inwiefern Bourdieu, der 22 Jahre jünger als Merleau-Ponty war, von dessen Denken beeinflusst wurde – eine umstrittene These. Sie arbeitet grundlegende Unterschiede zwischen den theoretischen Ansätzen beider Denker heraus.

Schirgi thematisiert zudem die Ausbildung des Körperbewusstseins nach Merleau-Ponty, der sich in diesem Punkt auf Henri Wallon stützt. Beide gehen davon aus, dass sich das Körperschema in den ersten Lebensmonaten entwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Wahrnehmung des Babys, das „den Unterschied, ob es von einer Betreuungsperson gehalten oder nicht gehalten wird, als Unterschied in seinem Körper, nicht als verschiedene Relationen zu anderen, wahr[nimmt]“ (S. 177, Hervorhebung im Original).

Le monde culturel, le monde de l’expression

Schirgi arbeitet heraus, dass die Psyche anderer Menschen nur in Analogie zur eigenen verstanden werden kann, während ein direkter Zugang zur Fremdpsyche nicht möglich ist. „Wenn also mein Körper auf eine bestimmte Art beeinflusst wird, dann habe ich bestimmte Erfahrungen, wenn der Körper der Anderen auf diese Weise beeinflusst wird, dann müssten sie ähnliche Erfahrungen haben (S. 242, vgl. Zahavi, 2019, S. 88).

Im Verlauf des Kapitels wendet sich Schirgi Merleau-Pontys Verständnis von Sprache zu, einschließlich des Zusammenhangs zwischen Denken und Sprechen. Nach Merleau-Ponty sind Sprechen und Denken keine getrennten Akte; die Gedanken sind die Sprache – ich spreche also nicht von oder über meine Gedanken, sondern meine Gedanken sprechen durch mich: „Während man spricht, ist man sich des Inhalts dieses Sprechens nicht bewusst, sondern erst im Nachhinein, wenn es ausgesprochen wurde, wenn man sich dessen zurückerinnert“ (S. 263).

Schirgi geht auf das Phänomen des Dialogs ein, der nur im Zusammenspiel mit anderen stattfinden kann, also ein Gemeinsames ist, das keine*r der Beteiligten unmittelbar erschaffen hat und nach Merleau-Ponty zu einer Art der überindividuellen Koexistenz führt. „Die jeweiligen Gedanken werden durch den Dialog hervorgerufen, teilweise handelt es sich dabei um Gedanken, die ich zwar in mir trage, die mir jedoch nicht bewusst waren, die ich nicht von mir kannte, teilweise entstehen Gedanken im Dialog selbst“ (S. 280).

Zusammenfassende Betrachtung der Möglichkeit von Begegnungen auf Distanz

Schirgi stellt abschließend die in der Arbeit herausgestellten Besonderheiten von Begegnungen auf Distanz heraus: „Diese […] sind zugleich distinkt und überlappend. Sie sind je getrennte Systeme, die durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zum System Welt zusammenhängen“ (S. 308). Die Autorin präsentiert dafür abschließend eine Tabelle, die „sinnliche Wahrnehmungen in Begegnungen“ aufzeigt und einen Vergleich zwischen Face-to-Face-Begegnungen und Nicht Face-to-Face-Begegnungen bietet. Sie stellt fest, dass mit zunehmender Distanz die Intensität von Begegnungen potenziell, aber nicht notwendigerweise, abnimmt.

Im Fazit kehrt Schirgi zum eingangs zitierten Gedicht Roseggers zurück und ordnet dies in die Theorie ihrer Arbeit ein. Sie skizziert abschließend eine Sozialtheorie menschlicher Begegnungen auf Distanz.

Diskussion

Antonia Schirgi setzt sich intensiv mit den Werken Merleau-Pontys auseinander und bezieht sowohl die französischsprachigen Originaltexte als auch deren deutsche Übersetzungen in ihre Analyse ein. Dabei zitiert sie direkt aus dem französischen Original, was ihre intensive Auseinandersetzung mit den philosophischen Konzepten unterstreicht. Zwar sind Französischkenntnisse hilfreich, um die Feinheiten der Argumentation vollständig nachzuvollziehen, jedoch nicht zwingend erforderlich. Dennoch handelt es sich insgesamt um eine anspruchsvolle Lektüre, die ein gewisses Maß an (philosophischer) Vorbildung erfordert und daher nicht unbedingt für Einsteiger*innen geeignet ist.

Fazit

Antonia Schirgis Monographie bietet eine tiefgehende Analyse distanzierter Begegnungen und verknüpft dabei die Philosophie Merleau-Pontys mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihre präzise und fundierte Auseinandersetzung mit Originaltexten sowie ihre kritische Reflexion von Übersetzungsfragen machen das Werk besonders wertvoll für Leser*innen mit einem soziologischen oder philosophischen Hintergrund. Aufgrund der theoretischen Dichte und der komplexen Thematik ist das Buch jedoch eher für fortgeschrittene Leser*innen als für Einsteiger*innen geeignet.

Literatur

Rosegger, P. (2018). Mein Lied. Frankfurt am Main. Outlook.

Zahavi, D. (2019). Phenomenology: the basics. Abington/New York. Routledge.

Rezension von
Dr. Franziska Sophie Proskawetz
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Es gibt 13 Rezensionen von Franziska Sophie Proskawetz.

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ISSN 2190-9245