Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Christian Roesler: Psychodynamische Paartherapie

Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 13.05.2025

Cover Christian Roesler: Psychodynamische Paartherapie ISBN 978-3-8017-3129-8

Christian Roesler: Psychodynamische Paartherapie. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2024. 166 Seiten. ISBN 978-3-8017-3129-8. D: 26,95 EUR, A: 27,80 EUR, CH: 36,00 sFr.
Reihe: Praxis der psychodynamischen Psychotherapie - Band 16.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Die vorliegende Monografie beschreibt aus psychoanalytischer Perspektive „die Modelle der Paardynamik, der Entstehung von Störungen in Paarbeziehungen und darauf aufbauende therapeutische Bearbeitung“. (1)

Autor

Prof. Dr. phil. Christian Roesler, geb. 1967, psychologischer Psychotherapeut, seit 2008 Professur für Klinische Psychologie an der Katholischen Hochschule Freiburg, Dozentur an den Universitäten Basel und Linz. Forschungsschwerpunkte: Analytische Psychologie, Paartherapie/​-beratung, Familienkonflikte und Mediation, Narrative Identität und Biografieforschung, Medienpsychologie.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 9 Kapitel. Das knappe erste Kapitel umreißt historisch-konkret die „Paarbeziehung in der Spätmoderne“. Der Autor definiert: „Eine Paarbeziehung ist eine enge, persönliche und intime, auf Dauer angelegte, exklusive Beziehung zwischen erwachsenen Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts. Typischerweise zeichnet sich eine Paarbeziehung durch Liebe, persönliches Vertrauen und sexuelle Interaktion aus.“ (3) Hingewiesen wird auf die historisch angewachsene Konfliktdynamik in Beziehungen, der aber eine allgemein anthropologisch begründete Sinnhaftigkeit partnerschaftlichen Lebens gegenübersteht „…weil beim Menschen die Emotionsregulation grundsätzlich dyadisch angelegt ist und daher alle Menschen lebenslang auf die Verfügbarkeit emotionaler Sicherheit in nahen zwischenmenschlichen Beziehungen angewiesen sind.“ (5)

Im 2. Kapitel werden die Grundlagen von Paarproblemen und Beziehungsstörungen erörtert. Ursachen werden unter Verweis auf entsprechende Studien v.a. in der transgenerationalen Weitergabe entsprechender Erfahrungen verortet, etwa in der „sozialen Vererbung des Scheidungsrisikos“ (12). Ausführlich werden empirische Ergebnisse zu den Folgen von Paarkonflikten und Trennung/​Scheidung zusammengetragen sowie Daten zur erhöhten Resilienz und besserer Gesundheit aufgrund intakter Beziehungen bzw. Ehen.

Kapitel 3 widmet sich der Paartherapie in Deutschland. Der Autor kritisiert die Fokusierung der Psychotherapie auf die Problematik von Einzelpersonen und dass auch bei der als notwendig erachteten Einbeziehung von Angehörigen nicht die Verbesserung der Paarbeziehung als therapeutisches Ziel in den Blick genommen wird. Vorgestellt werden eine Reihe von Befunden aus Kosten-Nutzen-Analysen, die eine Integration der Paartherapie ins Gesundheitsversorgungssystem nahelegen.

Das 4. Kapitel formuliert ein forschungsbasiertes Modell des Funktionierens von Paarbeziehungen, des Wesens von Paardynamik sowie des Entstehens partnerschaftlicher Konflikte. Ausgangspunkt der Darstellung ist ein Befund aus Langzeitstudien von Gottman u.a., wonach die Zufriedenheit in und die Stabilität von Paarbeziehungen nicht durch An- oder Abwesenheit von Konflikten begründet ist, sondern von der basalen „Fähigkeit des Paares, negative Affekte zu regulieren“.(28) Neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden zur Erklärung herangeführt: die Aktivierung basaler Emotionssysteme senkt die Mentalisierungsfähigkeit von Paaren (die Fähigkeit zum empathischen Umgang miteinander). Aus bindungstheoretischer Sicht wird insb. die Kombination eines unsicher ambivalenten mit einem unsicher-vermeidenden Partner („Verfolger-Vermeider-Muster“) als häufigste Konfliktursache beschrieben. In einem Exkurs geht der Autor kurz auf das Verhältnis von Bindung und Sexualität ein: sichere Bindung wird als Basis befriedigender Sexualität beschrieben, allerdings mit dem Hinweis auf „ein gewisses Strukturproblem, weil mit der Zunahme an Vertrautheit zugleich das sexuelle Interesse für den Partner und die erotische Anziehung abnehmen.“ (35)

Die Folgerung für die Praxis der psychodynamischen Paartherapie besteht darin, sich nicht vorrangig der Bearbeitung von Konflikten zu widmen (z.B. durch Verbesserung der Kommunikation), sondern die emotionale Verbindung zwischen den Partnern zu fördern. In Kapitel 5 wird das Paradigma formuliert: „Psychodynamische Paartherapie nimmt also an, dass Paare, die therapeutische Hilfe suchen, ein gemeinsames Problem rund um frühere Beziehungserfahrungen miteinander teilen, das sie gemeinsam in ihrer aktuellen Beziehung reinszenieren.“ (41)

Das umfangreiche 6. Kapitel widmet sich Störungsmodellen und -theorien. Es wird eingeleitet mit einer Darstellung der historischen Entwicklung psychoanalytischer Theorie und Methodik bezogen auf Paarprobleme und ihre Behandlung, in der auch die systemischen Konzepte ihren Ursprung haben (H.E. Richter, H. Stierlin u.a.). In einzelnen Abschnitten dargestellt werden das Konzept der Beziehungsanalyse nach Thea Bauriedl und das Kollusionskonzept nach Jürg Willi. In einem interessanten Exkurs geht Roesler der Frage nach, wer denn die „zirkuläre Sichtweise“ erfunden habe. Nach seiner Recherche wurden die Basiserkenntnisse dazu bereits in den 1920er Jahren von C.G. Jung formuliert und von Watzlawick in den 1960ern auf den Begriff gebracht. Ein weiterer Schwerpunkt des Kapitels sind Ausführungen zur Konzeptentwicklung der Paardynamik und zur Paartherapie des 1948 in London gegründeten Tavistock Relationships Institute. Sie betreffen v.a. die unbewussten Anteile der Partnerwahl, Prozesse von Projektion und projektiver Identifikation, das Verständnis der Beziehung als ein Container für die jeweiligen Wünsche und Ängste, Co-therapeutische Arbeit…). In Umrissen dargestellt wird ein am TR-Institute entwickeltes, staatlich gefördertes manualisiertes Paartherapie-Programm zur Behandlung von Depression.

In weiteren Abschnitten des 6. Kapitels werden vorgestellt: das integrative Modell tiefenpsychologischer Paarberatung, wie es am Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung (EZI) in Berlin entwickelt und gelehrt wird; symbolisierende Arbeitsformen in der Paartherapie sowie die v.a. in Großbritannien verbreitete mentalisierungsbasierte Paartherapie (MBT). In einem abschließenden Exkurs wird auch die in Kanada entwickelte und seit einigen Jahren in Deutschland zunehmend gelehrte Emotionsfokussierte Paartherapie (EFT) beschrieben und als psychodynamisch charakterisiert.

Das 7. Kapitel widmet sich Wirkungsforschung zur Paartherapie. Der Autor formuliert die Verbesserung der Beziehungsqualität und -zufriedenheit als ihr alleiniges Ziel und erachtet Trennung als therapeutisches Scheitern. Die Auflistung der Ergebnisse von Wirksamkeitsstudien zu verschiedenen Verfahren (verhaltenstherapeutischen und emotionsfokusierten Ansätze) ergibt ähnliche positive Effekte (und ähnliche Probleme, v.a. hohe Abbruchquoten) wie bei den psychodynamischen Interventionen.

Im 8. Kapitel entwickelt der Autor ein Modell psychodynamisch-integrativer Paartherapie. Erläutert wird die Entstehung von Paarproblemen aus psychodynamischer Sicht und die darauf abgestimmten Interventionen. Roesler weist darauf hin, dass es ihm um eine „konzeptorientierte Integration“ geht und nicht um den „auch in Deutschland üblichen intuitiven Eklektizismus“ (110). (Nicht mitgeteilt wird, inwieweit das Modell bereits in Aus- und Weiterbildungskontexten gelehrt wird oder ob das geplant ist.) Zentraler Ausgangspunkt ist die im Buch schon weiter vorn beschriebene Grundfunktion der Paarbeziehung, die Gewährleistung emotionaler Sicherheit, die der angemessenen Affektregulation und der dadurch möglichen emotionalen Ansprechbarkeit der Partner bedarf. Bei Infragestellung der Beziehung führen die Versuche zur Wiederherstellung der Nähe aufgrund je biografisch erworbener Bindungserfahrungen zu typischen Konfliktmustern.

Der Autor erläutert anhand der aktuellen Fachdebatte über das Verhältnis von Bindung und Differenzierung seine Sicht auf die Unterschiede systemischer und psychodynamischer Paartherapie-Ansätze: „Der Differenzierungsansatz (Schnarch, 2011) betont …, dass das gesunde Funktionieren und die Selbstregulation des Individuums einer funktionierenden Paarbeziehung vorausgehen. Differenzierung ist nicht das Produkt einer sicheren Bindung, sondern Differenzierung reguliert eher die Balance von Bindung und Autonomie. Ganz anders die bindungsorientierten Ansätze: Eine sichere Bindung beinhaltet ein flexibles Hin- und Herwechseln zwischen Nähe suchen und Bindungsregulation auf der einen Seite sowie explorativem Verhalten und Autonomie auf der anderen Seite. … In diesem Sinne ist Differenzierung ein Produkt von Bindungssicherheit.“ (113)

Therapeutische Grundidee im vorgestellten Modell ist, dass der/die TherapeutIn temporär die Mentalisierung stellvertretend für die Partner übernimmt und so das Bindungssystem beruhigt. Die dazu nötige Grundhaltung wird ausführlich beschrieben und wiefolgt zusammengefasst: „Im Grunde bietet sich der Paartherapeut als gute Bindungsfigur an, der die Bindungsbedürfnisse und die damit verbundenen emotionalen Signale seiner Klienten erkennt, anerkennt und sie für die Klienten stellvertretend in Worte fasst.“ (118) Weiter ausgeführt wird das therapeutische Vorgehen bei der Ergründung, Entschlüsselung und Versprachlichung zirkulärer emotionaler Interaktionsmuster sowie der Herbeiführung korrigierender emotionaler Beziehungserfahrung.

Das finale 9. Kapitel widmet sich Fragen der Diagnostik, der Auftragsklärung, dem Einsatz von Erhebungsinstrumenten. Unter Bezug auf Schär (2016) werden vier Klientencharakteristika vorgestellt – der Kundenmodus (Reflexionsbereitschaft), der Besuchermodus (kein Veränderungsinteresse), der Anklagemodus (Partner ist das Problem) sowie der Delegationsmodus (der Therapeut möge das jeweilige Problem aus der Welt schaffen). Bei der Auftragsklärung werden systemische Fragetechniken empfohlen (z.B. Verschlimmerungsfragen und zirkuläre Fragen). Vorgestellt werden Fragen zur Erfassung der Beziehungsbiografie und der entstandenen Bindungsmuster sowie Kriterien eines Phasenmodells der Entwicklung von Paarbeziehungen. Abschließend werden mögliche Kontraindikationen diskutiert, die gegen eine Paartherapie sprechen (Suchterkrankung, Gewaltbeziehung, Psychosen o.a. schwere Persönlichkeitsstörungen).

In einem kurzen Anhang werden eine Typisierung von Formen und Motiven der Partnerwahl nach Peseschkian (2004) vorgestellt, ein Phasenmodell des am Lebenszyklus orientierten Verlaufs von Paarbeziehungen, sowie eine instruktive Anleitung zum Einsatz der GARF-Skala (einer Schätzskala zur Erfassung und Quantifizierung des Funktionsniveaus von Beziehungen aus dem DSM IV) mit den drei Dimensionen: Problemlösen, Organisation und emotionales Klima.

Diskussion

Roesler pathologisiert nicht, betrachtet „Paarprobleme nicht als psychische Störungen bzw. gesundheitliche Probleme von Krankheitswert“ (1), spricht von den Ratsuchenden als Klienten (der Patient ist die Beziehung), verwendet zwar hauptsächlich den Begriff Therapie, sieht aber die Unterscheidung zwischen Therapie und Beratung v.a. in unterschiedlichen institutionellen Einbindungen; gleichwohl sieht er Probleme und Konflikte und die daraus resultierende partnerschaftliche Mobilität ganz überwiegend defizitär: „Mittlerweile ist auch wissenschaftlich gut abgesichert, dass die Folgen von Trennung/​Scheidung nicht nur für die betroffenen Kinder, sondern auch für die beteiligten Partner, selbst für diejenigen, die die Trennung initiieren, mit erheblichen Schäden verbunden sind.“ (4) So richtig die Annahme ist, dass interpersonelle Integration des Individuums die Basis für Gesundheit und Entwicklungsfähigkeit darstellt, so enggeführt erscheint die Annahme, dass nur die romantische Liebesbeziehung diese Funktion erfüllen kann und dann womöglich auch noch nur die eine, wahre, dauerhafte. Durch die Festgelegtheit des therapeutischen Ziels auf Erhalt der Beziehung gerät die Ergebnisoffenheit der Beratung/​Therapie aus dem Blick und die Tatsache, dass auch Trennung und Scheidung gute Lösungen sein können (insbesondere dann, wenn sie beraterisch gut begleitet werden).

Die angenommene Kausalität, wonach sichere Partnerbeziehung immer und dauerhaft zu Differenzierung führe (und gute Bindung zu gutem Sex/35) ist nach Ansicht des Rezensenten (und aus Sicht insb. der systemischen Sexualtherapie) insofern zu einseitig, da sichere Bindung in einer Langzeitbeziehung eben auch zum Verlust von Autonomie führen kann, was sich u.a. in der Abschwächung des sexuellen Begehrens zeigt (siehe U. Clement: „Guter Sex trotz Liebe“ 2006).

Letztlich ist Roesler bei aller Parteinahme für tiefenpsychologische Konzepte ein Vertreter integrativer Ansätze, und obwohl er „intuitiven Eklektizismus“ geißelt, wird sich in der Praxis beraterisch/​therapeutischen Handelns immer die Frage stellen, welche Probleme ein Paar in die Beratung einbringt und wieviel analytisch-verstehendes und wieviel unmittelbar lösungsorientiertes Vorgehen ausreichend, angemessen und hilfreich ist. Oder mit Ruth Cohn: Zu wenig Hilfe ist Diebstahl, zuviel Hilfe ist Mord.

Fazit

Das Buch ist für PraktikerInnen der Paarberatung/​-therapie nützlich, gerade weil es eine gute theoretische Basis liefert und einige aktuelle Fragen im Wettstreit der verschiedenen Schulen (v.a. analytisch vs. systemisch) anregend diskutiert.

Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
Mailformular

Es gibt 17 Rezensionen von Konrad Weller.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245