Volker Heise: 1945
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 13.02.2025

Volker Heise: 1945. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2024. 461 Seiten. ISBN 978-3-7371-0201-8. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
1945, ein Jahr zwischen Katastrophe und Neuanfang. Die Deutschen schicken ein letztes Aufgebot an jungen und alten Männern in die Schlacht, die Alliierten rücken näher, Zivilisten sind auf der Flucht oder suchen im Trümmerfeld des Krieges Schutz. Im Mai ist der Krieg zu Ende, die Menschen kriechen aus den Ruinen, vor sich eine ungewisse Zukunft. Der Alltag geht weiter, aber die Welt ist eine andere.
Autor
Volker Heise, geboren 1961 in Hoya, ist Regisseur, Dramaturg («Black Box BRD»), Produzent und Dokumentarfilmer. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet: die Fernsehserie Schwarzwaldhaus 1902 mit dem Grimme-Preis, ebenso die Serie Zeit der Helden; die Produktionen 24 h Berlin – Ein Tag im Leben und 24 h Jerusalem unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis. Zuletzt hat er mit den Filmen Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt, Berlin 1933 sowie mit der Netflix-Produktion Gladbeck. Das Geiseldrama großes Echo gefunden. 2017 erschien sein Roman Außer Kontrolle. Volker Heise lebt in Berlin.
Aufbau und Inhalt
Dieses Buch ist eine Chronologie, und zwar eine Chronologie, die Tag für Tag eines der Schicksalsjahre Deutschlands, Europas und letztlich auch der Welt erzähl. Volker Heise beginnt seine Zeitreise sogar bereits im Dezember 1944, an Silvester. Der letzte Kriegswinter ist angebrochen, Millionen Menschen sind tot, verwundet, vertrieben oder vermisst. 365 Tage später, am Silvestertag des Jahres 1945 wird dieses Buch enden. Zwischen diesen beiden Daten breitet sich aus, was Militärs, Politik, aber eben auch ganz normale Menschen erleben, denken, sagen. Während die Einen – allen voran NS-Propagandaminister Joseph Goebbels -das Durchhalten preisen, erleben die Anderen die Schrecken von Krieg, Vertreibung und Mangel. Die Basis dieser Zeitreise bilden zahlreiche Tagebücher, Briefe, Protokolle, Schriftstücke, Rundfunksendungen und Wochenschauen, aber auch Erinnerungen von Zeitzeugen. Die Menschen, die Volker Heise zu Wort kommen lässt, sind unter anderem ein aus dem Konzentrationslager entkommener Häftling, eine Bäuerin auf der Flucht, die einen letzten Blick auf ihr Heim warf und es danach nie wieder sehen sollte. Dann ist da der fanatische Hitlerjunge, für den klar ist, dass allen Fakten zum Trotz der Endsieg kommen wird. Außerdem dabei: ein Mann, der auf seine Hinrichtung wartend in einer Zelle sitzt, eine junge Sekretärin und ein renommierter Raketenforscher. Ihrer aller Leben, ihre Gedanken und Eindrücke sowie Perspektiven lässt Volker Heise sich kreuzen, ohne zwischen dem Propagandaminister, der sich später der Verantwortung durch Suizid entziehen wird, oder eben den jungen Menschen, die einen Großteil ihrer Jugend verloren beziehungsweise geopfert haben. Inhaltlich geht es oft um den Krieg – um Bombenangriffe, die knapper werdenden Lebensmittel oder die letzten Momente vor der Reise an die Front; aber auch um den Alltag: Streitigkeiten in der Familie, Kinobesuche oder Tanzabende. Und während das Dritte Reich im Mai kollabiert und sich eine neue Weltordnung aus den Trümmern langsam aber sicher erhebt, geht das Leber der – meisten – Menschen in diesem Buch weiter.
Diskussion
Nein, weder kann man die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage mit dem Jahr 1933 kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten vergleichen, noch liegt Deutschland in Trümmern wie zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Und trotzdem lassen sich aus dieser faszinierend komponierten Chronologie – man merkt den erfahrenen Regisseur – Lehren ziehen: Der Mensch ist anpassungsfähig, schafft mehr, als er zu denken mag; innerhalb weniger Augenblicke – zumindest historisch gesehen – kann aus der Apokalypse neues Leben entstehen; aber auch: Propaganda kann so gut funktionieren, dass die ihrer Jugend Beraubten gar nicht merken, dass sie beraubt werden. Volker Heise gelingt am Ende ein Meisterwerk, bei dem scheinbar banaler Alltag mit den Schrecken des Krieges, der Angst, dem Verlust, dem Chaos im Gleichklang erscheint. Denn auch wenn die große Katastrophe und der Neuanfang über allem schweben, gab es eben doch ein Sowohl-als-auch. Und das macht am Ende Hoffnung.
Fazit
Es liest sich wie ein Drehbuch zu einem spannenden Film, ist am Ende aber eine Geschichte vom absoluten Verlust hinzu den ersten kleinen Funken der Hoffnung. Volker Heise ist ein Meisterwerk gelungen, das sich wie ein Krimi liest – und das vor allem deshalb, weil er in der Regel die Menschen jener Zeit sprechen lässt.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
Mailformular
Es gibt 137 Rezensionen von Wolfgang Schneider.