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Ulrike Mattke: Menschen mit geistiger Behinderung im Rollentausch verstehen

Rezensiert von Dr. Birgit Szczyrba, 01.01.2001

Cover Ulrike Mattke: Menschen mit geistiger Behinderung im Rollentausch verstehen ISBN 978-3-929296-09-9

Ulrike Mattke: Menschen mit geistiger Behinderung im Rollentausch verstehen. Mitarbeiterfortbildung in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung. inScenario-Verlag (München) 1999. 175 Seiten. ISBN 978-3-929296-09-9. 19,00 EUR.

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Einführung

Eines der grundlegenden und gleichzeitig existentiellen Probleme von Menschen, die mit geistig Behinderten arbeiten, ist das Phänomen der empfundenen Fremdheit und die damit verbundene Hilflosigkeit gegenüber den KlientInnen. Im Geleitwort zum Buch von Ulrike Mattke, bei dem es sich um die Veröffentlichung ihrer Dissertation handelt, heisst es, der Respekt vor Menschen mit geistiger Behinderung sei gestiegen - nicht zuletzt aufgrund der Erschütterung über das Versagen (nicht nur) der Akademiker in der NS-Zeit hinsichtlich dieses Themenbereiches. Doch sei es immer noch notwendig, um gesellschaftliche Anerkennung für Konsens und Ansätze der Heilpädagogik zu ringen. Mattke trägt hierzu bei, indem sie mit der Konzeption, Durchführung und der anschliessenden Evaluation einer Mitarbeiterfortbildungsreihe auf der Grundlage eines anspruchsvollen und ganzheitlichen Verfahrens der Beziehungsarbeit, des Psychodramas nach Moreno, einen eindrucksvollen Weg entwirft: einen Weg nicht nur zur Entschärfung der Fremdheit sondern zum tieferen und evaluierbaren Verständnis für Menschen mit geistiger Behinderung. Sie versteht dies als Beitrag zur Professionalisierung von MitarbeiterInnen der Behindertenhilfe, der über ein pragmatisches Qualifizierungsverständnis hinaus geht. Im Mittelpunkt ihrer Fortbildungstheorie stehen die Teilnehmenden mit ihrer personenbezogenen Entwicklung. Mit Hilfe des Rollentausches, der zentralen Technik in der psychodramatischen Arbeit, gelingt es den Teilnehmenden, die Bedingungen für das Verhalten ihrer KlientInnen sowie die eigenen Einstellungen und Umgehensweisen mit KlientInnen zu erfahren und zu verändern. Das Ergebnis der Arbeit von Ulrike Mattke ist der Nachweis, dass sich tieferes Verständnis für fremd anmutende Verhaltensweisen von Menschen mit geistiger Behinderung auf psychodramatischem Wege vermitteln lässt.

Hintergrund

Mattkes Arbeit bezweckt neben der Erlangung des Doktorgrades die Entwicklung einer Fortbildungstheorie für die Behindertenhilfe. Fortbildungskonzepte für diesen Bereich sowie ihre Reflexion sind nur in geringem Ausmass zu finden. Der Autorin gelingt mit ihrem Buch der Versuch, diese Lücke in grundlegenden Teilbereichen zu schliessen. Angesichts schwerer geistiger Behinderungen, der Unzugänglichkeit mancher Behinderter und besonders ihrer fehlenden Ausdrucks- und Mitteilungsfähigkeiten stehen MitarbeiterInnen vor Grenzen ihres professionellen Handelns. Die existentiell bedeutsame Unergründbarkeit von Mitmenschen im Rahmen beruflicher Anforderungen mündet in verschiedene Reaktionsweisen: Ängste und Peinlichkeiten werden mit pädagogischem Rigorismus oder Aktivismus kompensiert. Die Diskrepanz zwischen professionellem Auftrag (Annahme und unterschiedslose Betreuung), dem Empfinden gegenüber den KlientInnen (Wut, Ärger, Ekel) und dem persönlichen, "privaten" Empfinden (Unzulänglichkeit, Frustration, Hilflosigkeit, Unsicherheit) wird in der wissenschaftlichen sonderpädagogischen Diskussion konstatiert. Mattke nimmt dies zum Anlass, über das reine Feststellen existentieller Grenzen hinaus die Förderung des tieferen Verständnisses der o.g. Prozesse und damit die Verbesserung der Praxis zu versuchen.

Qualifikation der Autorin

Ulrike Mattke ist Diplom-Pädagogin und Sonderpädagogin. Am Moreno Institut Stuttgart erwarb sie eine Zusatzqualifikation als Psychodrama-Leiterin. Nach zehnjähriger Berufstätigkeit in Feldern wie dem Allgemeinen Sozialen Dienst, der Leitung einer Adoptionvermittlungsstelle des Jugendamtes und einer Erziehungsberatungsstelle sowie einer Einrichtung für geistig Behinderte begann sie 1993 mit der freiberuflichen Fortbildung und Supervision für MitarbeiterInnen von stationären Einrichtungen der Geistigbehindertenhilfe.

Aufbau und Inhalte

Im ersten Teil des Buches gibt die Autorin einen Überblick über Bildungsmöglichkeiten für Erwachsene und ordnet hier das Format Fortbildung unter dem Aspekt der Bildung als Alternative zur Qualifikation ein: Der Bildungsbegriff hält an dem Element selbstbestimmter Persönlichkeitsentwicklung fest, während der Qualifikationsbegriff einer ökonomischen Verengung unterliegt. Forschungen auf dem Gebiet der geistigen Behinderung haben eindeutig gezeigt, dass das Wohlbefinden der KlientInnen in enger Relation zu Dichte und Qualität ihrer sozialen Beziehungen steht. Die befriedigende Gestaltung sozialer Beziehungen - hier zwischen MitarbeiterIn und KlientIn - lässt sich jedoch nicht mit der Betonung arbeitsplatzfunktionaler Qualifikationstendenzen sowie mit einem technokratischen Lehr-Lern-Verständnis vermitteln. Die Autorin erläutert die Zielorientierungen von Fortbildung in der Behindertenhilfe, die eindeutig subjektorientiert angelegt sind und Reflexion, Kritik und Nachdenken über Hintergründe und Zusammenhänge sozialen Handelns ermöglichen. Mattke erwähnt in diesem Zusammenhang auch die bildungspolitisch wichtige Frage nach dem Stellenwert solcher Fortbildungen vor dem Hintergrund finanzieller Ressourcenverknappung bzw. -konzentrierung nach utilitaristischen Gesichtspunkten.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der spezifischen Bedeutung und den Bedingungen von Fortbildung in der Geistigbehindertenhilfe. Als grundlegende Problem- und Fragestellung in diesem sensiblen Bereich nennt Mattke das Phänomen der Fremdheit. Die Zumutbarkeit von fremd anmutenden Verhaltensweisen, Empörung verursachende Gerichtsurteile über angeblich unzumutbare Äusserungsformen von Behinderten, die Auseinandersetzung bzw. Abwehr in Gestalt vehementer Empörung über andere, Diskriminierung verursachende gesellschaftliche Kräfte sind thematische Zentren, die sie so zusammen fasst: "Die Begegnung mit geistig behinderten Menschen erfordert eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein, seinen Grenzen, seiner Verletzbarkeit und seinen Schwächen." Hier stellt Mattke die Frage nach der Ausgestaltung pädagogischen Handelns angesichts der empfundenen Fremdheit und beschreibt den Wendepunkt in der sonderpädagogischen Arbeit: Mit dem Eingestehen eigener negativer Emotionalität und dem Bejahen des Nichtverstehens oder gar des Scheiterns wurde die Grenze in der Erziehung als Voraussetzung und Chance der Heilpädagogik erkannt. Hier begreift der Leser unmissverständlich die Bedeutung einer subjektbezogenen Fortbildung in der Geistigbehindertenhilfe: Das Aushalten und Standhalten von MitarbeiterInnen angesichts des Zulassens des Nichtverstehens, der Angst vor dem Abstossenden und gleichzeitig die Suche nach dem Verstehen und dem Bemühen um Empathie machen geistige Behinderung zu einer existentiellen Herausforderung, die geistige Reife und Unterstützung von aussen erfordert.

Im dritten Teil erfahren wir, warum Mattke als grundlegende Orientierung ihres Fortbildungskonzeptes das Psychodrama wählt. Psychodrama ist ein anspruchsvoller und in sich konsistenter Handlungsansatz zur Steuerung professioneller Beziehungsarbeit. Die Autorin macht einen knappen Versuch, Psychodrama zwischen den Formaten Therapie und Pädagogik zu verorten und kommt zu dem durchaus richtigen Schluss, dass das Verfahren Psychodrama noch immer unter der gängigen Verbindung mit dem Format Psychotherapie leidet. Ihr Urteil über die noch nicht anerkannte Etablierung des Psychodramas im pädagogischen Bereich erscheint verkürzt, berücksichtigt man die expandierende wissenschaftliche Elaboration psychodramatischer Theorien und Konzepte in der Verbindung mit verschiedensten nicht-therapeutischen Formaten.

Mattke beschreibt den "therapeutischen" Kern des Psychodramas, indem sie Moreno‘s Verständnis der therapeutischen Weltordnung darlegt: Die Haltung des Individuums in seinen nahen und ferneren Beziehungen und gegenüber der Gesellschaft soll geprägt sein vom Rollentausch, dem tiefen Verstehen des Mitmenschen durch das Hineinschlüpfen in ihn und damit der Erweiterung und Qualifizierung der eigenen Sichtweisen. Der Begriff ‚therapeutisch‘ birgt keine explizit psychologischen oder psychotherapeutischen Implikationen. Moreno‘s Ansatz ist ebenfalls geprägt von Sozialwissenschaften, Religion und Theater und dokumentiert sein vielfältiges Engagement zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in allen mikrosozialen Feldern.

In der psychodramatisch orientierten Fortbildung geht es Mattke nun darum, handlungsleitende Kognitionen und Emotionen von Teilnehmenden gegenständlich und damit bearbeitbar zu machen. Durch zahlreiche Techniken und Arrangements, die im Psychodrama zur Verfügung stehen, um - wie Moreno sagt - die Wahrheit der Seele durch Handeln zu ergründen, kann eine Auseinandersetzung mit verschiedensten Haltungen gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung, Haltung von Kollegen, Eltern, von Einrichtungsträgern und pädagogischen Theoretikern u.a.m. stattfinden. Im Moreno‘schen Verständnis ist dies Begegnung mit der Welt im gesellschaftlichen Sinne und eröffnet das Verständnis für die existentielle Bedeutung des Faktums der geistigen Behinderung. Der wesentliche Vorteil und der wirklich neue Entwicklungsschritt in Mattke‘s Konzept ist jedoch, dass durch psychodramatische Techniken, besonders durch den Rollentausch, die o.g. existentielle Bedeutung fassbar und bearbeitbar wird.

Im Anschluss erläutert die Autorin ausführlich Rahmen, Organisation sowie Verlauf ihres

Fortbildungskonzepts. Danach dokumentiert und diskutiert sie gründlich die einzelnen Fortbildungsphasen. Im Detail erfahren wir, wie sie die Teilnehmenden motiviert und erwärmt, theoretische Grundlagen vermittelt, verschiedene Übungen mit dem Rollentausch durchführt und die Erfahrungen mit diesen Übungen reflektiert und integriert werden.

Der letzte Teil des Buches befasst sich mit der spannenden Phase der Evaluation der Fortbildungsreihe. Mattke erläutert die Wahl ihrer Evaluationsverfahren. Mit dem Einsatz dreier verschiedener Verfahren sichert sie die Nachvollziehbarkeit ihres Vorgehens ab. Sie kommt mit allen drei Verfahren zu dem Ergebnis, dass sich ein psychodramatisch orientiertes, d.h. subjektbezogenes Fortbildungskonzept erfolgreich einsetzen lässt, um Menschen mit geistiger Behinderung verstehen zu lernen.

Fazit

Ulrike Mattke‘s Buch ist die Dokumentation eines wichtigen Entwicklungsschrittes in der Fortbildung für MitarbeiterInnen der Geistigbehindertenhilfe. Sie beschreibt die Konzeption, Durchführung und Evaluation einer von ihr selbst entwickelten Fortbildungsreihe, die die existentiell bedeutsame Grenze der geistigen Behinderung für das professionelle Handeln thematisiert und bearbeitbar macht. Auf der Grundlage eines anspruchsvollen und ganzheitlichen Verfahrens der Beziehungsarbeit, des Psychodramas nach Moreno, entwirft sie einen eindrucksvollen Weg zur Entschärfung der Fremdheit angesichts der Verhaltensweisen von Menschen mit geistiger Behinderung. Die zentrale Technik des Psychodramas, der Rollentausch, ermöglicht die versöhnliche Begegnung mit widerspüchlichen professionellen Anforderungen und unüberwindbaren Grenzen in der täglichen Arbeit von MitarbeiterInnen der Geistigbehindertenhilfe. Das Ergebnis der Arbeit von Ulrike Mattke ist der Nachweis, dass sich tieferes Verständnis für fremd anmutende Verhaltensweisen von Menschen mit geistiger Behinderung auf psychodramatischem Wege vermitteln lässt. Das Format Mitarbeiterfortbildung mit dem Verfahren Psychodrama zu verknüpfen und damit existentiell bedeutsame Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen und zu evaluieren ist ihr mit diesem Buch gelungen.

Das Buch ist interessant nicht nur für MitarbeiterInnen und FortbildnerInnen in der Geistigbehindertenhilfe. Angesichts der nachweislich hoch wirksamen Lernprozesse im Rahmen psychodramatisch orientierter Fortbildung stellt das Buch auch für WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen anderer Bereiche einen wichtigen Hinweis auf die tendenzielle Ergründbarkeit bisher als unveränderbar angenommener Grenzen dar. Ein tieferes Verstehen des eigenen Handelns und des Handelns anderer könnte LehrerInnen, SozialpädagogInnen und Angehörigen anderer Formate der Beziehungsarbeit ebenfalls nützen.

Die Lesbarkeit des Buches ist gemessen an der Enstehung als Dissertation recht gut. An mancher Stelle wäre mehr Ausführlichkeit wünschenswert, beispielsweise wenn die Autorin interessante Erkenntnisse anderer WissenschaftlerInnen lediglich erwähnt und auf die Quelle hinweist. Der verwöhnte Leser mag verärgert sein, dass ihm eine spannende Vertiefung versagt bleibt; dem weitergehend interessierten Leser bleibt der Gang in die Bibliothek, um Mattke‘s interessante Hinweise weiter zu verfolgen.

Rezension von
Dr. Birgit Szczyrba
Sozial-und Erziehungswissenschaftlerin, Psychodrama-Leiterin (DFP/DAGG), Leiterin der Hochschuldidaktik in der Qualitätsoffensive Exzellente Lehre der Technische Hochschule Köln, Sprecherin des Netzwerks Wissenschaftscoaching
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Es gibt 24 Rezensionen von Birgit Szczyrba.

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ISSN 2190-9245