Susann Witt-Stahl (Hrsg.): Der Bandera-Komplex
Rezensiert von Johannes Schillo, 10.01.2025
Susann Witt-Stahl (Hrsg.): Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus - Geschichte, Funktion, Netzwerke. Verlag 8. Mai (Berlin) 2024. 350 Seiten. ISBN 978-3-931745-74-5. D: 23,90 EUR, A: 24,60 EUR.
Thema
Thema des Buchs ist der ukrainische Faschismus, wobei es um Geschichte und Geschichtspolitik geht. Festgemacht wird dies an der Rolle, die eine der maßgeblichen Figuren der ukrainischen Nationalbewegung, Stepan Bandera (1909-1959), mit seiner Organisation OUN gespielt hat und heute noch als Berufungsinstanz und politisches Vorbild im Ukrainekrieg spielt.
Autoren und Herausgeberin
Herausgeberin des Sammelbandes ist die freie Journalistin und Autorin Witt-Stahl, mitgewirkt hat ein international besetztes Team von Experten für die Bereiche Antifaschismus, Zeitgeschichte und Medien.
Entstehungshintergrund
Ende 2023 fand in Berlin unter dem Titel „Der Bandera-Komplex“ eine international besetzte Konferenz mit Faschismusexperten statt, deren Tagungsbeiträge jetzt in dem Sammelband veröffentlicht sind – ergänzt um Gespräche mit den Referenten, Presseveröffentlichungen, Literaturstudien und zahlreiche Quellennachweise. Die Konferenz ist im Internet unter https://www.youtube.com/watch?v=s_ekc01xlUw dokumentiert.
Aufbau und Inhalt
In einem Vorwort erläutert die Herausgeberin die Intention von Konferenz und Publikation. Das heute – im Westen vorherrschende – Verschweigen und Verdrängen der faschistischen Tradition der ukrainischen Nationalbewegung und speziell der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) ordnet sie hauptsächlich in zwei Kontexte ein: zum einen in die Praxis einer fragwürdigen Vergangenheitsbewältigung, die sich, ähnlich wie die unter Adenauer beginnende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, auf die Reinwaschung der eigenen Nation konzentriere; zum andern in die Idealisierung des heutigen ukrainischen Nationalismus, der mit seinem Kampfbereitschaft zur Dezimierung russischer Macht einen wesentlichen Beitrag für die Stabilisierung der US-dominierten Weltordnung leiste. Das Buch gliedert sich danach in sieben Teile.
Der erste Teil bringt die Vorträge, die bei der Tagung gehalten wurden. Die US-Amerikaner Moss Robeson und Ross Bellant dokumentieren mit einem breiten Daten-Tableau vor allem die Fortexistenz des faschistischen Nationalgeistes und der entsprechenden Strukturen, wie sie mit der von Bandera angeleiteten OUN-Fraktion – in Kooperation mit der Nazi-Wehrmacht und deren rassistischem Vernichtungskrieg – ausgebaut worden waren und nach Kriegsende in die Frontbildung des Kalten Kriegs integriert wurden. Ihre Studien gelten vor allem der Zeitgeschichte, d.h. dem Nachleben des Faschismus, der im Westen keine konsequente Absage erfahren habe. Eine „Rehabilitierung der Naziverbrecher hat“, wie Bellant resümiert, „unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, als beschlossen wurde, die Haupttäter aus Osteuropa nicht strafrechtlich zu verfolgen. Stattdessen haben westliche operative Geheimdienste sie für offene und verdeckte Programme weltweit rekrutiert“ (S. 161). Dazu gibt es ausführliche Informationen über die US-Politik der Nachkriegszeit, bis hin zum „America First Committee“ (vgl. S. 64), in dessen Tradition der gegenwärtige US-Präsident steht. Sie zeigen, wie der faschistische Antikommunismus ins demokratisch Feindbild der „Roten Gefahr“ eingebaut wurde und sich im Westen mit einer starken Lobby (teils unter Verwendung von „Fassadenorganisationen“) etablierte. Die rechtsradikalen Gruppierungen, die heutzutage in den Regierungs- und Sicherheitsapparat der Ukraine integriert sind, werden mit ihrer eigenständigen Rolle vor allem im Blick auf den Putsch des „Euro-Maidans“ und die nachfolgende Widerstandsbewegung „gegen Kapitulation“ gewürdigt (vgl. S. 87, 102, 109f). Eine Bewegung, die mit offen terroristischer Ansage gegen den nach seinem Wahlerfolg 2019 als Friedenspolitiker wahrgenommenen Selenskij antrat und, so die Einschätzung der Autoren, den Regierungschef zum Kurswechsel bewegte. Die Einbindung des Rechtsradikalismus bzw. seine Koexistenz mit dem Kiewer Regierungsapparat behandelt der Beitrag von Jürgen Lloyd, Bildungsreferent bei der Marx-Engels-Stiftung, als Anfrage an eine stichhaltige Theorie des Faschismus. Er erklärt diesen als Herrschaftsform einer kapitalistisch wirtschaftenden Nation, in der auf einen speziellen Bedarf an Durchsetzung von massenhafter Opferbereitschaft geantwortet und daher das demokratische Procedere außer Kraft gesetzt werde. In der Ukraine sei der Rechtsradikalismus als Verstärker notwendig gewesen, um einen antirussischen Frontstaat in Stellung zu bringen. Damit ist aber keine Zustimmung zu Putins Narrativ vom antifaschistischen Krieg beabsichtigt, die Russische Föderation verteidige vielmehr gegen die Missachtung ihrer Sicherheitsinteressen durch die NATO eigene imperiale Ambitionen. Im zweiten Teil werden drei Gespräche mit den Referenten der Tagung nachgetragen, die noch einmal die Hauptthesen verdeutlichen. Robeson weist z.B. darauf hin, dass neben der Bandera-Tradition noch andere Neonazi-Einflüsse – Beispiel „Asow“ (vgl. S. 153, 158f) – eine Rolle spielen.
Die zweite Hälfte des Buchs beginnt mit dem dritten Teil, der zur „Geschichte des deutschen Imperialismus und ukrainischen Nationalismus“ drei Literaturstudien beisteuert. Verfasst wurden sie von Arnold Schölzel, Redakteur der linken Tageszeitung „Junge Welt“ (JW), die die Konferenz mittrug und die sich schon seit längerem gegen die einschlägige Verdrängungstaktik wendet. Schölzel verweist etwa, wie Robeson und Bellant, auf das Standardwerk des polnischen Historikers Grzegorz Rossoliński-Liebe zur Biographie Banderas, zieht aber auch weitere Literatur zu den imperialistischen Kriegszielen Deutschlands im Ersten und Zweiten Weltkrieg heran. Die Zerlegung der Großmacht Russland, zu deren Realisierung der ukrainische Separatismus eingesetzt werden soll, ist demnach ein altes Projekt aus der deutschen Kolonialära. Der vierte Teil, den vor allem die Herausgeberin verantwortet, widmet sich dem Faschismus in der heutigen Ukraine und greift dazu, wie auch die nachfolgenden Teile, meist auf aktualisierte JW-Veröffentlichungen zurück. Dabei geht es um die Rolle, die das rechte Lager im Bürgerkrieg gegen die Ostprovinzen und nach der Wahl Selenskijs gespielt hat. Ihm sei durch faschistischen Druck klar gemacht worden: „Minsk II habe nur die Funktion, Zeit zu gewinnen, um die ukrainischen Streitkräfte aufzurüsten und auf NATO-Standard zu bringen“ (S. 213). Und es geht um die Integration des Faschismus in Staatsapparat und Staatsideologie, die an die Stelle der früheren organisatorischen Eigenständigkeit getreten ist und die im Westen oft als eine Art Entnazifizierung interpretiert wird.
Die abschließenden, kürzeren Teile des Buchs richten den Blick wieder nach Westen. Der fünfte Teil, der ebenfalls von der Herausgeberin verfasst wurde, widmet sich den ukrainischen Faschisten in Deutschland und ihrer Förderung und listet dazu einige Aktivitäten auf, die aber nur einzelne Facetten des allgemeinen westlichen Sponserings – hier im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit – hervorheben. Im sechsten Teil thematisiert Witt-Stahl unter dem Titel „Linke auf Abwegen“ die erstaunliche Unterstützung, die rechtsradikale Politik aus dem linken Lager erhält, wobei es allerdings um Kleingruppen, etwa aus der Antifa-Szene, geht und nicht um die Linkspartei. Zusammengefasst wird dies im siebten Teil – und damit der Bogen zum Anfang geschlagen – mit einem Resümee zur Aufarbeitung des ukrainischen Faschismus in den USA und der BRD. Dazu wird die Anfrage der Partei Die Linke vom Oktober 2023 dokumentiert, mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, ihre Stellung zu den „rechtsextremen Einflüssen in der ukrainischen Politik“ zu erläutern. Von Regierungsseite wurde die Anfrage im Prinzip zurückgewiesen. Eine Rehabilitierung faschistischer Traditionen sei in der Ukraine nicht zu entdecken, man verfüge auch über „keine eigenen, über Medienberichte hinausgehenden Erkenntnisse“ (S. 342) in puncto Nazi-Kollaboration. Für Witt-Stahl zeigt sich hier exemplarisch das Versagen der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, ja ein Rückschritt hinter das, was die einschlägige Erinnerungskultur bislang auf den Weg gebracht habe. Als Fazit zitiert sie dazu Theodor W. Adorno: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“ (S. 346).
Diskussion
Der ukrainische Nationalismus erfreut sich neuerdings im Westen und speziell in der BRD großer Beliebtheit. Das ist bemerkenswert, gilt doch hierzulande Nationalismus als die ultimative Fehlentwicklung, der alle politisch-bildenden Maßnahmen entgegenzuwirken haben. Und gerade aus deutschem Blickwinkel müssten die Alarmglocken schrillen, wenn in die Feier der nationalen Größe eine faschistische Tradition einbezogen wird, d.h. ihr NS-Kontext verschwiegen oder verharmlost, ja sogar als konsequenter Beitrags zur Staatsgründung idealisiert wird. Eine Neugründung übrigens, die mit eindeutigen Bekenntnissen zur eigenen völkischen Überlegenheit und einem aggressiven antirussischen Feindbild versehen ist. Letzteres wird in der westlichen Öffentlichkeit auch nicht verschwiegen, sondern als Reaktion auf die russische Aggression gedeutet – eine Umdeutung, die, wie der Band deutlich macht, nur funktioniert, weil die Geschichte der ukrainischen Nationalbewegung im 20. Jahrhundert ausgeblendet wird. Diese Leerstelle, gerade auch der deutschen Medien und des Politikbetriebs, kontert der Band mit einer (Über-)Fülle an Daten und Fakten, die oft etwas redundant sind und zu einem ausufernden name dropping führen. Vertretbar ist dies jedoch angesichts einer Lage, in der es schon Schwierigkeiten bereitet, den Sachstand zur Sprache zu bringen; so kann ein Wissenschaftler wie Rossoliński-Liebe in der Ukraine über seine Bandera-Forschung nur referieren, weil ihm Polizeischutz gewährt wird.
Die historische Abteilung des Sammelbandes bezieht sich auf solche Forschungsarbeiten. Die Analyse konzentriert sich jedoch meist auf die Zeitgeschichte, hier vor allem auf den Übergang von der Niederschlagung des Faschismus bis zur Ingangsetzung und Eskalation des Kalten Krieges, sowie auf die im Westen übliche Geschichtspolitik. So wird nicht nur wichtiges, hierzulande meist ignoriertes Material zusammengetragen, das den militärischen Konflikt des Westens mit der Russischen Föderation erhellt. Es wird auch ein Problem deutlich, das die bundesdeutsche Demokratie überhaupt betrifft. Witt-Stahl resümiert: Die „einfältige Sorglosigkeit“, die ein Scholz oder eine Baerbock im Umgang mit dem ukrainischen Nationalismus an den Tag legen, „indiziert nicht nur eine fortschreitende Verwahrlosung der viel gepriesenen Aufarbeitung deutscher Vergangenheit – sie vermittelt auch den Eindruck einer Bereitschaft zur Geschichtsklitterung“ (S. 10f).
Was der Band an Hinweisen zur NS-Kollaboration zu bieten hat, provoziert natürlich die Frage nach einer zeitgemäßen Faschismustheorie. Der Beitrag von Lloyd geht hierauf ein und thematisiert – in marxistischer Tradition – den Herrschaftsbedarf, den eine kapitalistische Ökonomie aufwirft. Der Autor macht dies an Krisenerscheinungen bzw. an nationalen Aufbrüchen fest, die eine neue Opferbereitschaft der Massen verlangen und daher demokratische Instrumente zur Herstellung von Massenloyalität obsolet werden lassen. Was derzeit allerdings zu beobachten ist und von Lloyd auch angesprochen wird, ist nicht der Übergang von der einen zur anderen Herrschaftsform, sondern die Koexistenz von demokratischer und faschistischer Mobilisierung in einem hochbrisanten Weltordnungskonflikt. Man könnte eine Parallele zur Praxis der USA ziehen, islamistischen Terror, da, wo es passt (früher in Afghanistan, heute in Syrien), für die eigenen Zwecke zu benutzen und ihn ansonsten mit einem weltweit angelegten „War on Terror“ zu niederzukämpfen. Lloyd sieht diese Parallele, weist aber zutreffend darauf hin, dass die Kompatibilität von demokratischem und faschistischem Nationalismus anders beschaffen ist, nämlich durch eine gemeinsame Grundlage bestimmt wird: durch die Notwendigkeiten, mit denen sich ein nationaler Kapitalismus bei seiner internationalen Durchsetzung, sei es in der Offensive, sei es in der Defensive, konfrontiert sieht.
Das Buch bringt auf jeden Fall einen Skandal erster Güte zur Sprache, der sowohl die Politik und ihre Öffentlichkeit als auch die Wissenschaft und die politische Bildung betrifft. Es belegt ausführlich, wie ein Sachverhalt, der das Bild vom integren Wertewesten stört, durch eine Art Schweigegebot aus der öffentlichen Debatte ausgegrenzt wird. Die historischen Fakten sind dabei, etwa in den Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung oder im innerwissenschaftlichen Diskurs, noch aufzufinden – anders als in der ukrainischen Nationalerziehung, die richtiggehend auf die Rehabilitierung der faschistischen Tradition setzt. In der BRD wird aber der ganze Problemkomplex, so etwa in den politischen Verlautbarungen der Ampel-Koalition, als unbedeutend herabgestuft. Die neofaschistischen Organisationen in der Ukraine spielen, so heißt es, keine politische Rolle mehr, sondern sind mittlerweile in den Sicherheitsapparat integriert und haben dort zu einer gemäßigten Linie gefunden. Die Kritiker, die in dem Sammelband zu Wort kommen, sehen gerade in dieser Integration, die sie als Kollaboration kenntlich machen, das Problem.
Der Sammelband bietet – trotz gewisser Redundanzen – eine treffsichere Einführung in einen brisanten Problemkomplex des aktuellen Ukraine-Konflikts, der in der westlichen Öffentlichkeit meist verschwiegen und verdrängt wird: Er dokumentiert und analysiert am Beispiel Stepan Banderas die Koexistenz von Faschismus und Demokratie im ukrainischen Nationalismus. Dabei konzentriert er sich auf die Zeitgeschichte seit Beginn des Kalten Krieges sowie auf die Geschichtspolitik der westlichen Länder, die der Bandera-Verehrung der neuen ukrainischen Machthaber nicht entgegentritt, sondern die faschistische Traditionslinie für die Einstimmung auf ein antirussisches Feindbild nutzt und damit im Grunde die Frontbildung des alten Ost-West-Gegensatzes fortführt. Die Aufarbeitung des osteuropäischen Konfliktpotenzials spricht dabei viele Punkte an, die in Wissenschaft und Politik kontrovers sind. Doch ist es zweifellos ein großes Verdienst der Publikation, dass hier – einerseits -entscheidende Anfragen an die Leistungen der westlichen, speziell deutschen Vergangenheitsbewältigung in Sachen Nationalsozialismus gestellt und – andererseits – die Herausforderungen einer Faschismustheorie deutlich benannt werden, die den aktuellen Tendenzen der vielbeklagten Postdemokratie auf den Grund zu gehen vermag.
Fazit
Herausgeberin Susann Witt-Stahl hat – mit großer Datenfülle und zahlreichen Querverweisen – eine Übersicht zu einem in politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft eher wenig thematisierten Problemkomplex vorgelegt: zur Verbindung der ukrainischen Nationalbewegung mit dem Faschismus. Das Buch stellt auch Anfragen an die deutsche Vergangenheitsbewältigung und an den heutigen Umgang mit dem Rechtsradikalismus.
Rezension von
Johannes Schillo
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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 10.01.2025 zu:
Susann Witt-Stahl (Hrsg.): Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus - Geschichte, Funktion, Netzwerke. Verlag 8. Mai
(Berlin) 2024.
ISBN 978-3-931745-74-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33006.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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