Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Elif Özmen: Was ist Liberalismus?

Rezensiert von Dr. André Latz, 27.12.2024

Cover Elif Özmen: Was ist Liberalismus? ISBN 978-3-518-30005-3

Elif Özmen: Was ist Liberalismus? Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. 208 Seiten. ISBN 978-3-518-30005-3. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2405.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

In ihrem Buch „Was ist Liberalismus?“ legt Elif Özmen eine Analyse der vielschichtigen liberalen Tradition vor. Sie widmet sich der Frage, was den Liberalismus als Idee und Praxis ausmacht und wie er sich durch die Geschichte hindurch entwickelt hat. Statt eine starre Definition zu liefern, führt Özmen die Leser*innen durch verschiedene Facetten des Liberalismus und zeigt, wie unterschiedliche Denker*innen und Strömungen das Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit prägten. Der Text ist vor allem in einem gegenwärtigen Kontext relevant, in dem der Liberalismus von rechten wie linken Gruppen als Feindbild angesehen wird. Özmen beleuchtet, warum dies der Fall ist und wie viele dieser Kritiker*innen selbst von den Werten und Prinzipien des Liberalismus profitieren und eigentlich Befürworter*innen sein könnten.

Autorin

Elif Özmen ist eine Expertin für politische Philosophie und hat sich als Professorin für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit Fragen der Ethik, Sozialphilosophie und politischen Theorie einen Namen gemacht. Ihre Forschung legt großen Wert auf die Verbindung von klassischen philosophischen Themen mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen. Özmens fundiertes Verständnis des Liberalismus und ihre respektvolle, offene Auseinandersetzung mit dessen Kritiker*innen spiegeln sich wider in dem rezensierten Werk, das sich mit der Krise und den Potenzialen des Liberalismus befasst.

Entstehungshintergrund

Özmens Buch entstand in einer Zeit, in der der Liberalismus unter Beschuss steht und seine Relevanz und Legitimität oft infrage gestellt werden. Die politischen Verhältnisse in Deutschland und darüber hinaus haben den Liberalismus zu einem umkämpften Begriff gemacht. Vor diesem Hintergrund ist Özmens Werk als ein Plädoyer für die Reflexion und die Bewährung der liberalen Werte zu verstehen. Indem sie den Liberalismus in seiner Vielfalt und seinen inneren Widersprüchen untersucht, tritt sie gleichzeitig für die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Selbstüberprüfung ein.

Aufbau und Inhalt

Özmen strukturiert ihr Werk durch einen historischen und systematischen Zugang, indem sie die Geschichte des Liberalismus nachzeichnet und zentrale Denker*innen miteinander vergleicht. Sie zeigt verschiedene „Ähnlichkeitspaare“ auf – beispielsweise Hobbes und Kant, Mill und Marx, oder auch Hobbes, Mill und Popper – und demonstriert, wie jede*r diese*r Denker*innen zur Einschränkung staatlicher Macht und zur Sicherung individueller Freiheit beiträgt. Diese Vergleiche erfrischen den Diskurs, indem sie statt dogmatischer Definitionen lebendige Verbindungen schaffen, die die Leser*innen zum Nachdenken anregen.

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert, die sich jeweils einem Aspekt des Liberalismus widmen. Im ersten Kapitel „Gespensterdämmerung“ werden Erfolgsgeschichte und Krisendiagnose thematisiert. Kapitel 2 widmet sich dem „Trio liberale“, Kapitel 3 der normativen Architektur des Liberalismus. Dies führt in das vierte Kapitel „Konfliktszenarien“. Özmen schließt mit dem Fazit (Kapitel 5) „Im Zweifel für den Liberalismus“. Ein zentrales Thema des Buchs ist die Frage nach dem theoretischen Fundament des Liberalismus und wie er sich von anderen politischen Ideologien unterscheidet. Özmen untersucht dabei die zentralen philosophischen Annahmen und bringt neue Perspektiven ein, indem sie Richard Rortys postmetaphysischen Liberalismus einführt. Ein prägnantes Zitat beschreibt, dass das einzige soziale Band zwischen den Bürger*innen, die „uns Menschen gemeinsame Verletzbarkeit durch Schmerz und Demütigung“ ist (S. 164/165). Hiermit veranschaulicht Özmen, dass der Liberalismus sich auf Empathie und Solidarität gründet, ohne eine absolute Wahrheit zu beanspruchen. Die liberale „Ironie“, wie Rorty sie beschreibt, bedeutet, dass politisches und soziales Engagement stets „von hier aus“ erfolgt – also ohne den Anspruch auf ein übergeordnetes, allumfassendes Wahrheitsfundament.

Ebenso beleuchtet Özmen die Problematik des Relativismus, wie sie unter anderem von Simon Blackburn thematisiert wird. Sie stellt fest, dass ein radikaler Relativismus letztlich in einer Entmenschlichung münden kann, weil er die individuellen Überzeugungen und Meinungen der Menschen nicht wirklich ernst nimmt. Der Liberalismus hingegen ist, so Özmen, darauf angewiesen, die Meinungen und Interessen der Individuen in ihrem Eigenwert zu respektieren und eine engagierte Diskussion zu ermöglichen (S. 185).

Diskussion

Das Buch ist geleitet von „der These der normativen Attraktivität der liberalen Demokratie“ (S. 14), was die Lektüre entsprechend positiv leitet. Özmens Werk ist nicht nur eine Definition des Liberalismus, sondern auch eine Reflexion über dessen Potenziale und Herausforderungen in der modernen Gesellschaft. Besonders gelungen ist ihr Ansatz, den Liberalismus nicht als starre Ideologie, sondern als dynamische Praxis darzustellen, die sich durch Selbstkritik und Anpassung an gesellschaftliche Realitäten bewähren muss. Hier wird Özmen selbst zu einer liberalen Denkerin: Sie legt kein Dogma vor, sondern lädt zur kritischen Diskussion ein. Ihre Analyse wird ergänzt durch einen „eindringlichen Aufruf“, den Liberalismus als eine universelle Lebensform für alle vernunftbegabten Menschen zu verstehen. Dieser Ansatz steht in Kontrast zu anderen Werken, die den Liberalismus eher als festgelegte Ideologie oder als reines philosophisches Konstrukt darstellen.

Özmen zeigt sich dabei offen gegenüber den Kritiken am Liberalismus und verdeutlicht, dass dieser sich nur dann bewähren kann, wenn er bereit ist, sich selbst zu hinterfragen und an den realen Bedingungen der Gesellschaft zu messen. Besonders ihre Ausführungen zur Toleranz und zur Rolle der Wahrheit im liberalen Denken sind lesenswert. Sie macht klar, dass ein reiner Toleranzbegriff, der keine Diskussion über die Gründe hinter Überzeugungen zulässt, zur Entfremdung führen kann. An dieser Stelle knüpft Özmen an die Arbeiten von Rorty und Blackburn an und bietet eine differenzierte Perspektive, die sowohl die Vorzüge als auch die Gefahren des Relativismus thematisiert.

Gleichzeitig liegt der Fokus des Buches stark auf der ideengeschichtlichen und philosophischen Seite des Liberalismus, was Leser*innen, die nach konkreten Ansätzen für politisches Handeln suchen, enttäuschen könnte. Praktische Fragen, wie der Liberalismus in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen konkret umgesetzt werden kann, stehen nicht im Mittelpunkt, wohl aber eine „Landkarte der Philosophie de[s] Liberalismus“ (S. 11), die zur Reflexion und Vertiefung einlädt. Özmen bleibt bei ihrer Perspektive konsequent, indem sie den Liberalismus als ein offenes und dynamisches Projekt beschreibt, das durch Selbstkritik und Reflexion lebendig bleibt. Die Leser*innen sind selbst gefordert, die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis umzusetzen – eine Forderung, die sich durch das gesamte Werk zieht.

Fazit

Elif Özmen ist mit „Was ist Liberalismus?“ ein differenzierter und lesenswerter Beitrag gelungen, der den Liberalismus als eine dynamische und selbstkritische Praxis beschreibt. Ihre gelehrte und zugleich zugängliche Darstellung bietet sowohl eine umfassende ideengeschichtliche Analyse als auch ein leidenschaftliches Plädoyer für die Relevanz des Liberalismus in der modernen Gesellschaft. Das Buch lädt die Leser*innen dazu ein, die Einsichten über Freiheit, Gleichheit und Toleranz in eine gelebte und inklusive Praxis zu übertragen.

Rezension von
Dr. André Latz
Unternehmensberater / Coach Führungskompetenz, Soziologie
Mailformular

Es gibt 6 Rezensionen von André Latz.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
André Latz. Rezension vom 27.12.2024 zu: Elif Özmen: Was ist Liberalismus? Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. ISBN 978-3-518-30005-3. Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2405. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33010.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht