Timothy Snyder: Über Freiheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.12.2024
Timothy Snyder: Über Freiheit. Verlag C.H. Beck (München) 2024. 410 Seiten. ISBN 978-3-406-82140-0. 29,90 EUR.
Thema
„Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern die Anwesenheit des Guten“
Über Freiheit, als humaner Wert, wird seit Menschengedenken reflektiert. Es sind Werte wie Humanität, Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden, Toleranz, Autonomie… „Nur unter Freien und Gleichen gibt es ein politisch (und soziales, JS) Gerechtes“ (Aristoteles). Es ist der Mut und die Kraft, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich seines Selbst in der Welt zu versichern: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“ (Kant). Es ist das aktive, individuelle und kollektive politische Sosein, das die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie zustehenden Menschenwürde die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948).
Entstehungshintergrund und Autor
„Wir ermöglichen Freiheit nicht, indem wir es ablehnen, regiert zu werden, sondern indem wir die Freiheit als Leitfaden für eine gute Regierung bejahen“. Freiheit ist also nicht, all das tun oder lassen zu können, was ich will, sondern in Verantwortung und Solidarität dazu beizutragen, dass jedes Lebewesen auf der Erde frei existieren kann. Um theoretisch und praktisch frei zu sein, bedarf es fünf Werte: Souverän eigene Wertentscheidungen treffen zu können – sich unberechenbar den natürlichen, faktischen Gesetzmäßigkeiten anzupassen – sich mobil zu verändern – solidarisch human zu leben. Der Historiker und Menschenwissenschaftler Timothy Snyder von der Yale University geht die Frage – „Was und wie ist Freiheit? – erst einmal ganz persönlich an, indem er davon erzählt, wie er, im Kreis seiner amerikanischen Familie, geworden ist, wie er ist. Das Defilee beginnt mit seiner Geburt, seinem behüteten Aufwachsen, der familialen, schulischen und universitären Bildung und führt hin zur Lehre und Forschung. Es sind Linien und Brüche, Glockenklang und Kanonendonner, Solidarität und Individualismus, die den Friedens- und Freiheitsgedanken bestimmen: Holocaust, Kommunismus, Kapitalismus, Revolution, Oligarchie, Demokratie…
Aufbau und Inhalt
Die Analyse beginnt mit der einleitenden Auseinandersetzung: „Was ist Freiheit“, als ethischer Wert und alltägliche Praxis. Snyder gliedert seine Arbeit in fünf Kapitel: „Souveränität“ als Lebenswert, den er an Lebensbeispielen (Edith Stein, Simone Weil) verdeutlicht. Es sind Erfahrungen, Gedanken und Gesten, die Körper und Geist herausfordern und Freiheit als positiven und negativen Wert zeigen. So entstehen Aphorismen, die aufgeschrieben und weitergegeben werden müssen: „Bei der Freiheit geht es nicht darum, Recht zu haben…, sondern um das Bemühen, das Richtige zu tun“. Das zweite Kapitel handelt von der „Unberechenbarkeit“, die er am Beispiel von Václav Havel (1936 – 2011) thematisiert: „Freiheit als Lebensprinzip gegen abstumpfende Politik“. Es sind die emanzipatorischen Werte, die wir vergangenheitsbewusst, gegenwartsbestimmt und zukunftsorientiert wahrnehmen und danach streben, dass die Menschheit gebildet und aufgeklärt sein will. Mit dem dritten Kapitel benennt er „Mobilität“ als die Kompetenz, sich zu verändern: „Mobilität ist die Herausforderung der Reife“. Seine Beispiele: Der Kampf gegen die Rassentrennung in den USA und anderswo. Es ist „sadopopulistisches“, immobiles Gedankengift. Und es sind die individuellen, lokalen und globalen Herausforderungen, dem egozentristischen, kapitalistischen Denken und Tun eine humane Verteilungsgerechtigkeit entgegenzusetzen. Das vierte Kapitel: „Faktizität“. Die Erkenntnis – „Wir werden nicht frei sein und auch nicht überleben, wenn wir die Grenzen unserer Erde ignorieren oder die Regeln unseres Universums leugnen“. Es gilt, Wahrhaftigkeit den Fake News entgegenzusetzen; und das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit zu verteidigen. Im fünften Kapitel wird „Solidarität“ als Beleg dafür benannt, dass wir nicht frei sein können, wenn andere Menschen und Mächte die globale Ethik als Wahrheit nicht anerkennen. Es sind eskapistische Einstellungen und Haltungen, die Freiheit unmöglich macht. Es ist der Skandal und die soziale Kälte, die bereits Wohlhabende und Besitzende immer reicher, und die Habenichtse immer ärmer macht: „Freiheit beginnt mit der Anerkennung des Unterschieds zwischen Sein und Sollen“. Individuelle und kollektive soziale Mobilität braucht den Widerstand gegen die postimperiale Immobilität und ihrem Sadopopulismus. Wir sind angewiesen und herausgefordert, uns für den humanen Wertediskurs zu entscheiden: „Wir dürfen einen Wert nicht einfach aufgeben, weil wir ihn im Moment nicht verwirklichen können“.
Diskussion
Der Autor beginnt sein Essay mit seinen Gedanken und Erlebnissen beim Besuch der Ukraine in den Zeiten des Krieges, und er setzt das Schlusskapitel bei der Rückfahrt in den Westen. Es sind die Zwänge und Zufälligkeiten, die uns veranlassen, „die Spannungen und Konflikte (zu) akzeptieren und uns mutig zwischen ihnen (zu) bewegen“, die uns in die Lage versetzen, human adäquat zu denken und zu handeln. Er plädiert für eine „Charta für faire Transparenz“, indem er drei Freiheitsbedingungen benennt: „Die Dinge sollten für uns transparent sein“ – „Wir sollten für die Dinge nicht transparent sein“ – „Wir sollten nicht von Daten unterdrückt werden, die wir nicht sehen können“. Vielmehr sollten wir die Glocke läuten, die nach Freiheit klingt und ruft (vgl. dazu auch: Paul Collier, u.a., Hrsg., Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt – und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/​28719.php).
Die Studie „Über Freiheit“ weist auf 72 Seiten Literatur-Anmerkungen und -hinweise aus; dadurch erweist sich der Text auch als Aufforderung, „Freiheit neu zu denken“ (Bruno Heidlberger, Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken. Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30701.php). Das Personenregister nennt in alphabetischer Reihenfolge zahlreiche Autorinnen und Autoren, die sich mit der Thematik „Freiheit“ auseinandersetzen.
Fazit
Es ist ein Weckruf und Freiheitsgeläut, dass wir Menschen endlich begreifen, dass „die Menschheit vor der Herausforderung steht, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995). Die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, Anne Applebaum, rät: „Jeder, dem die Freiheit wichtig ist – was sie bedeutet und wie wir sie bewahren können – sollte dieses Buch lesen“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 24.12.2024 zu:
Timothy Snyder: Über Freiheit. Verlag C.H. Beck
(München) 2024.
ISBN 978-3-406-82140-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33017.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.