Urban Wiesing: Zeitenhandel
Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 08.01.2025
Urban Wiesing: Zeitenhandel. über die Kunst der Prävention.
Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog
(Stuttgart (Bad Cannstatt)) 2023.
122 Seiten.
ISBN 978-3-7728-2966-6.
D: 26,00 EUR,
A: 26,80 EUR.
Reihe: Medizin und Philosophie - Band 18.
Thema
Thema ist eine differenzierte Sicht auf Prävention, die Wiesing als Zeitenhandel begreift, weil man sein „Verhalten in der Gegenwart ändert, um zu einer späteren Zeit mehr Zeit und gesündere Zeit zu erlangen“ (S. 4). Er sucht Antworten auf die Frage, ob es eine moralische Pflicht zur Prävention gibt.
Autor
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing studierte Medizin, Philosophie, Soziologie und Geschichte der Medizin. 1993 erlangt er mit dem Thema „Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der Deutschen Romantik“ die venia legendi für Theorie und Geschichte der Medizin. Seit 2002 ist er Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. Er ist Vorstandsmitglied des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften und Mitglied des Medical Ethics Comittee des Weltärztebundes (WMA) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. (http://www.urbanwiesing.de/cv.html)
Entstehungshintergrund
Der Autor will die ‚nahezu fraglose Plausibilität‘ (S. 4) hinterfragen, dass Prävention immer gut sei. Er befragt Gesellschafts- und Menschenbilder, ‚die sich hinter präventiven Praktiken verbergen‘ (S. 9).
Aufbau
Nach Vorwort und Einleitung entwickelt der Autor in fünf Kapiteln seine Gedanken zur Bewertung der Prävention, aus philosophischer und medizinischer Sicht. Acht Seiten Bibliografie schließen den Forschungsbeitrag ab.
Inhalt
Nach dem Vorwort mit Danksagungen wird in der Einleitung die Vorgehensweise und das Themenfeld eingeordnet: „Es geht auch um mehr Kontrolle in einer niemals vollständig kontrollierbaren Welt“ (S. 8).
Im ersten Kapitel Geschichte und Gegenwart: Auf dem Weg zum „präventiven Selbst“ werden die Gesellschafts- und Menschenbilder hinter verschiedenen Präventionskonzepten in historischer Perspektive dargelegt. Im Schwerpunkt geht es um die Differenzierung von Verhältnisprävention, die die zeitliche Lebensgestaltung der Menschen unberührt lässt (S. 12) und der Verhaltensprävention, die zeitrelevant ist und besonders viel Selbstdisziplinierung benötigt (S. 18). Am Beispiel der Fernsehsendung „The biggest Looser“ wird gezeigt, dass das Individuum bei der Verhaltensprävention strukturell zum Scheitern verurteilt ist, der Fernsehsender und die Nahrungsmittelindustrie „The biggest Winner“ sind (S. 20–22).
Im zweite Kapitel „Die Fakten: Potenzial und Realität“ wird erläutert, warum dem beeindruckenden Potenzial der Prävention „enttäuschende praktische Ergebnisse entgegen“ stehen (S. 23). An den Beispielen Lungenkrebs und metabolischem Syndrom zeigt Wiesing die Überlegenheit von verhältnispräventiven Maßnahmen gegenüber der individuellen Verhaltensprävention, die nach seinen Darlegungen „zu weiteren sozialen Ungleichheiten“ führe (S. 29). Zusammenfassend stellt er fest: „Die derzeitige Schwerpunktsetzung ist demnach weder historisch-kulturell zwingend noch die erfolgreichere“ (S. 30f).
Im Kapitel Bedingungen und Eigenschaften der individuellen Verhaltensprävention werden „die Strukturen der Entscheidungen, die Aufdringlichkeit präventiver Optionen und ihre zeitlichen Aspekte“ erläutert (S. 33). Die modernen Industriestaaten ermöglichen für Wiesing Prävention, indem sie zeitliche Spielräume und reale Möglichkeiten dafür schaffen. Er erläutert die Komplexität der Faktoren praktizierter Verhaltensprävention, „die Aufdringlichkeit (S. 41) und ihre „Eigendynamiken“ (S. 43) sowie den abnehmenden Grenznutzen von Prävention. Er schließt mit der Einschätzung, dass nicht nur der Erfolg nicht garantiert werden könne, sondern erläutert auch, dass es ein „Zuviel“, ja sogar eine pathologische „Präventionssucht“ (S. 60) geben könne.
Im vorletzten Kapitel wendet sich Wiesing den Konsequenzen der Verhaltensprävention für die Zeitgestaltung und das Zeiterleben zu. „Gegenwartsschrumpfung“ (S. 64) durch Prävention ist die Gefahr, mit der er sich auseinandersetzt. Er zeigt auf, dass der Mensch durch Präventionsaktivitäten für einen potenziellen Nutzen in einer unsicheren Zukunft Gefahr läuft, „Gegenwart zu verpassen“ (S. 65). Kritisch setzt er sich mit der „Herrschaft der Uhren“ und der damit verbundenen „mathematischen Durchdringung der Lebensführung in präventiver Absicht“ (S. 79) auseinander und erläutert dies an dem Versicherungsmathematischen Konzept der „Micromorts“ und der Priority-App (S. 74 – 78).
Im letzten Kapitel geht es um die ethische Frage: Soll man Prävention betreiben? - und darum, wer dies entscheidet (S. 81). Hier unterscheidet er wieder zwischen institutioneller, insbesondere staatlicher Prävention und Individualprävention. Bei der Individualprävention kommt Wiesing zu dem Ergebnis, dass „auch andere Lebensstile überzeugend sein können und gelingen“ (S. 113). Hier betont Wiesing die Freiheit des Individuums, sich für oder gegen Präventionsaktivitäten zu entscheiden. Für den Staat sieht er hingegen „eine Pflicht, den Bürgerinnen und Bürgern Verhältnisse bereitzustellen, die sie unterstützen, ihr eigenes, gelingendes Leben zu verwirklichen“ (S. 90f). Wie weit diese Verpflichtung gehen kann, erläutert er am Beispiel der Tabakwerbung, die an Kinder und Jugendliche gerichtet ist: „Man kann nur mit Unverständnis zur Kenntnis nehmen, wie hartnäckig sich die Bundesrepublik geweigert hat, Werbung für Tabakprodukte zu verbieten“ (S. 92). Aus seiner Argumentation folgt auch, dass z.B. eine Impfpflicht in der Corona-Pandemie „nicht von vorneherein unzulässig ist“ (S. 94). Am Ende ist es für Wiesing das Individuum, das frei ist, sich für oder gegen Präventionsaktivitäten zu entscheiden, selbst gegen alle Vernunft. Mit Blick darauf, dass alle Präventionsbemühungen die „unvermeidliche Möglichkeit des Scheiterns“ (S. 107) in sich tragen, rät Wiesing, diese conditio humana mit „Haltung“ (S. 106) und „Ironie“ (S. 107 – 110) zu tragen.
Diskussion
„Prävention gilt eigentlich immer als gut“. Der Klappentext des Buches benennt diese „nahezu fraglose Plausibilität“ (S. 4) als gedanklichen Ausgangspunkt des Forschungsbeitrages über die Kunst der Prävention. Am Ende dieses Essays steht der Satz „Es kommt halt darauf an …“ (S. 113). Dazwischen steht für die Lesenden eine anregende Gedankenreise, die philosophische Logik mit versicherungsmathematischer Theorie und sozialwissenschaftlicher Evidenz verbindet. Im Ergebnis gibt Wiesing jedem einzelnen die Freiheit, sich für oder gegen individuelle Prävention zu entscheiden, verbunden mit dem Hinweis, es nicht zu übertreiben. Sehr streng ist Wiesing mit dem Staat. Wenn er ihm ins Stammbuch schreibt, seiner Verantwortung, insbesondere gegenüber Kindern und Jugendlichen, nicht gerecht zu werden, liest sich dies wie ein Gutachten für eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Die gedankliche Klarheit der Argumentation ist wohltuend in einer häufig mit moralischem Zeigfinger geführten Debatte um Prävention. Gewinnbringend ist auch, wie die unterschiedlichen Logiken von individueller und institutioneller Prävention herausgearbeitet werden. Die konkreten Beispiele und die anschauliche Sprache sorgen dafür, dass das Buch für einen Beitrag zur Forschung sehr verständlich geschrieben ist.
Fazit
Aus der Perspektive von Philosophie und Medizin setzt sich der Autor differenzierend mit dem Thema Prävention auseinander. Menschen, die Prävention betreiben, werden bestärkt, denn sie trägt häufig zu einem gelingenden Leben bei. Präventionsmuffel finden Trost in der Einsicht, auch andere Lebensstile können überzeugend und gelingend sein.
Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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Zitiervorschlag
Andreas Meusch. Rezension vom 08.01.2025 zu:
Urban Wiesing: Zeitenhandel. über die Kunst der Prävention. Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog
(Stuttgart (Bad Cannstatt)) 2023.
ISBN 978-3-7728-2966-6.
Reihe: Medizin und Philosophie - Band 18.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33022.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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