Sophie Helene Elisabeth Erbersdobler: Kindeswohl und Kindeswille
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 30.05.2025

Sophie Helene Elisabeth Erbersdobler: Kindeswohl und Kindeswille. Eine am kindlichen Selbstbestimmungsrecht orientierte Untersuchung des Kindeswohlbegriffs.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2024.
319 Seiten.
ISBN 978-3-7560-2332-5.
D: 104,00 EUR,
A: 107,00 EUR,
CH: 109,00 sFr.
Reihe: Schriften zum Familien- und Erbrecht - Band 42.
Thema
Das Spannungsverhältnis von elterlichen und kindlichen Rechten und Pflichten hält nicht nur die juristische Fachliteratur und Rechtsprechung seit Jahrzehnten in Atem. Mit der Sichtbarkeit des Kindes als eigenständiges und eigenverantwortliches Rechtssubjekt in Gesetz und Alltag nehmen auch die Bemühungen zu, Kindesrechten in der Praxis zur Durchsetzung zu verhelfen. Unter besonderer Berücksichtigung des ärztlichen Eingriffs an Minderjährigen reflektiert das vorliegende Werk die derzeitigen Meinungsstränge und versucht, die sich gegenüberstehenden Rechts- und Interessenpositionen in einen Einklang im Innenverhältnis zu bringen, der weder den Schutz des Kindes noch des Rechtsverkehrs vernachlässigt.
Autorin
Sophie Helene Elisabeth Erbersdobler ist Juristin und hat die vorliegende Untersuchung im Rahmen ihrer Promotion verfasst. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen.
Aufbau und Inhalt
Dieses Buch beschäftigt sich mit der (juristischen) Antwort auf die Frage, ob es Kindeswohl entgegen dem Kindeswillen überhaupt geben kann. Sieben Kapitel und die üblichen Formalia einer Dissertation versuchen, den Leser:innen entsprechende Fakten zu liefern.
Zunächst führt die Autorin kurz in die grundlegende Bedeutung ein – gleich anhand eines durchaus alltagstauglichen Fallbeispiels, bevor es zunächst rechtstheoretisch wird: Welche rechtlichen Positionen haben eigentlich Kinder und Eltern? Ja, Kinderrechte stehen entgegen dem Erziehungsprimat der Eltern (Artikel 6) nicht explizit im Grundgesetz, aber auch Kinder sind Träger von Grundrechten wie zum Beispiel der Menschenwürde oder dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Hier kommt das Kindeswohl ins Spiel, das Handlungsmaxime aller Beteiligten im Rahmen der elterlichen Sorge ist. Das Problem: Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der am Einzelfall orientiert gegebenfalls unter Zuhilfenahme von Rechtsprechung mit Leben gefüllt werden muss. Das Kindeswohl – und das wird in diesem Kapitel deutlich gemacht – ist insofern die Verbindung zwischen den rechtlichen Positionen von Kind und Eltern, sozusagen „die wesentliche Schnittstelle“ (S. 20).
Im weiteren Verlauf erfolgt die Betrachtung eines Begriffs, der bei der Beurteilung des Kindeswohls mit zunehmender Reife des jungen Menschen immer größere Bedeutung bekommt – der Kindeswillen. Deshalb wird eingehend erläutert, was die Voraussetzungen, der Inhalt und letztlich auch die Auswirkungen eben jenes Kindeswillens sind. Aber welche Gewichtung haben nun Kindeswohl und Kindeswille in der gegenseitigen Aufwägung? Dem geht die Autorin im vierten Kapitel nach und stellt die Frage in den Mittelpunkt, was im Konfliktfall bei der Entscheidung, was zu tun ist, höher wiegen sollte. Das Kind soll dementsprechend in eigenen Angelegenheiten ein ausreichendes Mitsprachrecht haben, ohne dass es zu Gefährdungsmomenten kommt. Als Beispiel hierfür dient das direkt zum Einstieg in den Text konstruierte Problem, dass eine Jugendliche sich ein Freundschaftstattoo stechen lassen will. Noch mehr in die Praxis geht es dann im fünften Kapitel, wo die vorherigen Erkenntnisse sozusagen auf Alltagstauglichkeit überprüft werden, wobei es vor allem um den Kindeswillen im Bezug auf medizinische Eingriffe – wie zum Beispiel Impfungen – geht, aber auch andere Bereiche betrachtet werden. Welche Dilemmata dabei auftreten können, wird zentral im sechsten Kapitel betrachtet, bevor zum Ende alle gewonnenen Erkenntnisse zur abschließenden Beantwortung der Forschungsfrage zusammengeführt werden.
Diskussion
„Es kommt darauf an“ ist wohl eine der häufigsten Antworten auf juristische Fragestellungen – und so ist es auch in diesem Fall. Eine klare und vor allem allgemeingültige Antwort auf die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Kindeswohl entgegen dem Kindeswillen zu definieren gibt es eben (leider) nicht. Zwar ist es möglich, verschiedene Aspekte zu berücksichtigen, um sich einer Antwort anzunähern, aber es bleibt eben nicht mehr als eine Annäherung, die anhand des jeweiligen Einzelfalls sowohl juristisch als auch sozialpädagogisch und familienpsychologisch konkretisiert werden muss. Dabei wird deutlich, dass es scheinbar an der Zeit ist, Minderjährigen bei Entscheidungen, die ihre Entwicklungen betreffen, wesentlich mehr Freiraum zu geben. Für Eltern, die in der Regel das Beste für ihr Kind wollen, ist das eine schwierige Entscheidung, da es letztlich darum geht, dass junge Menschen manchen Erfahrungen – und Entscheidungen – auf dem Weg zum Erwachsenwerden einfach machen müssen und sie nicht vor allem geschützt werden können.
Fazit
Juristische Aspekte des Kindeswohls sind für Sozialarbeiter:innen oft weit entfernt vom Alltag. Diese Veröffentlichung schafft es sich entgegen dieser Einschätzung sehr alltagsnah damit zu beschäftigen, ob das Kindeswohl ohne einen entsprechenden Kindeswillen überhaupt gesichert werden kann – spannend, lehrreich und mit großer Relevanz nicht für für Jurist:innen, sondern auch für all jene sozialpädagogischen und psychologischen Fachkräfte, die mit dem Thema Kindeswohl zu tun haben.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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