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Andreas Witt, Steffen Schepp et al.: Biografiebezogene Gruppenintervention für Jugendliche zum Umgang mit der eigenen Fremdunterbringung

Rezensiert von Christian Busch, 21.05.2025

Cover Andreas Witt, Steffen Schepp et al.: Biografiebezogene Gruppenintervention für Jugendliche zum Umgang mit der eigenen Fremdunterbringung ISBN 978-3-7799-8415-3

Andreas Witt, Steffen Schepp, Jörg M. Fegert, Elisa Pfeiffer, Miriam Rassenhofer: ANKOMMEN - Biografiebezogene Gruppenintervention für Jugendliche zum Umgang mit der eigenen Fremdunterbringung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 216 Seiten. ISBN 978-3-7799-8415-3.

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Entstehungshintergrund und Thema

Fremdunterbringung stellt für viele Kinder und Jugendliche eine massive Zäsur in ihrer Lebensgeschichte dar. Der damit verbundene Bruch kann erhebliche psychische Belastungen hervorrufen, die bestehende Verhaltensauffälligkeiten verstärken oder neue hervorrufen. Langfristig birgt dies hohe Risiken für die weitere Entwicklung der Betroffenen. Eine mögliche Antwort auf diese Herausforderungen bietet die Biografiearbeit. Sie hilft, Lebensereignisse zu verarbeiten und einzuordnen (vgl. S. 9). Dieses Thema stand im Zentrum eines von der Baden-Württemberg Stiftung finanzierten Fachtags, der im März 2019 unter dem Titel „… und jetzt bin ich hier“ stattfand. Ziel war es, gemeinsam mit Fachkräften aus Praxis und Wissenschaft Ideen zu sammeln, wie Kinder biografieorientiert unterstützt und pädagogischen Fachkräften entsprechende Werkzeuge an die Hand gegeben werden können. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/​Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm griff die Impulse dieser Fachtagung auf und entwickelte daraus die biografisch orientierte Intervention „ANKOMMEN“. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren und soll helfen, psychosoziale Belastungsfaktoren besser zu bewältigen. Die Wirksamkeit des Programms wurde im Rahmen einer Pilotstudie evaluiert. Mit der vorliegenden Publikation wird ein fundierter Einblick in das Projekt gegeben und eine detaillierte Anleitung zur Durchführung dargestellt (vgl. S. 7).

Autor:innen

Die Baden-Württemberg Stiftung fungiert als Financier des Projekts. Als gemeinnützige und überparteiliche Organisation mit Sitz in Stuttgart fördert sie vielfältige Initiativen zur nachhaltigen Stärkung der Zukunftsfähigkeit des Landes. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen – sowohl durch direkte Angebote für Betroffene als auch durch die Unterstützung von Fachkräften, die mit diesen jungen Menschen arbeiten.

Die inhaltliche Entwicklung der Intervention „ANKOMMEN“ erfolgte an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/​Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Die Autor:innen der Publikation waren zugleich maßgeblich an der praktischen und wissenschaftlichen Umsetzung des Projekts beteiligt: Steffen Schepp ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Prof. Dr. Jörg M. Fegert als ärztlicher Direktor an der Universitätsklinik Ulm tätig. Prof. Dr. Miriam Rassenhofer leitet die Sektion Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Verhaltensmedizin. Prof. Dr. Elisa Pfeiffer ist Inhaberin des Lehrstuhls an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und leitet eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe zum Thema Trauma bei Kindern und Jugendlichen in Ulm. Gemeinsam mit Dr. Andreas Witt, dem Chefpsychologen der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern, veröffentlichte das Team die vorliegende Publikation, in der sie ihre Erkenntnisse, Erfahrungen und Ansätze rund um die Intervention „ANKOMMEN“ darstellen.

Aufbau und Inhalt

Die Veröffentlichung gliedert sich in zwei Hauptkapitel: einen theoretischen Teil (Kapitel 1) und ein praktisches Manual zur Durchführung der Intervention (Kapitel 2). Ergänzt wird das Buch durch umfangreiche Anhänge mit Zusatzmaterialien zur konkreten Anwendung. Insgesamt folgt die Struktur einem deduktiven Aufbau – vom allgemeinen theoretischen Rahmen hin zur konkreten praktischen Umsetzung.

1. Theoretischer Hintergrund

Kapitel 1.1 beschreibt die psychosozialen Belastungen, denen Kinder und Jugendliche bei einer Fremdunterbringung ausgesetzt sind. Neben biologischen und psychosozialen Risikofaktoren werden auch Identitätskrisen sowie mögliche Folgeprobleme wie Verhaltensauffälligkeiten und Hilfekonflikte thematisiert (vgl. S. 11–12).

Kapitel 1.2 widmet sich der Biografiearbeit als Methode zur Verarbeitung kritischer Lebensereignisse. Ziel ist die Strukturierung und Neubewertung biografischer Erinnerungen, um Identitätsentwicklung zu fördern. Die Wirksamkeit dieser Methode wird durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Qualitätsstandards untermauert (vgl. S. 12–13).

In Kapitel 1.3 wird die Gruppenintervention „ANKOMMEN“ vorgestellt. Sie zielt auf eine frühzeitige biografische Auseinandersetzung mit der Fremdunterbringung ab, um Belastungsfaktoren zu reduzieren, die Akzeptanz von Hilfsangeboten zu verbessern und Abbrüche zu vermeiden. Die Intervention richtet sich an Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren und kombiniert klassische Biografiemethoden mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen. Der gruppenbezogene Ansatz wird als besonders wirksam hervorgehoben (vgl. S. 14–15).

Kapitel 1.4 beschreibt die Evaluationsstudie des Programms. Die Untersuchung wurde mit 17 Einrichtungen durchgeführt und kombinierte quantitative (Prä-Post-Fragebögen) sowie qualitative Methoden (Leitfadeninterviews). Die Intervention erstreckte sich über acht Wochen, mit einer Nachbefragung nach drei Monaten (vgl. S. 18). Als primäre Ergebnisvariable wurde die Selbstwirksamkeit gemessen; sekundäre Variablen umfassten u.a. Symptome von Depression oder posttraumatischer Belastung (vgl. S. 23–25). Zusätzlich wurde die praktische Durchführbarkeit anhand von Aspekten wie Manualtreue und Abbruchraten beleuchtet, wobei auch Herausforderungen und unterstützende Faktoren benannt wurden (vgl. S. 27–29).

2. Manual zur Intervention

Das zweite Kapitel der Veröffentlichung enthält ein praxisorientiertes Manual zur Durchführung der Intervention „ANKOMMEN“. Es richtet sich an Fachkräfte in stationären Einrichtungen und stellt die strukturierte Umsetzung des Programms sicher.

Kapitel 2.1 beschreibt grundlegende Rahmenbedingungen wie Gruppenzusammensetzung, Leitung durch zwei Fachkräfte, Einbindung von Bezugspersonen, Materialien und zeitliche Struktur. Diese Vorgaben erleichtern und stellen die praktische Durchführung sicher (vgl. S. 34).

In Kapitel 2.2 wird der Aufbau der Intervention erläutert: Das Programm besteht aus acht Sitzungen, gegliedert in drei Phasen – Vorbereitung, Biografiearbeit und Ausblick (vgl. S. 38–40).

Kapitel 2.3 beschreibt den Ablauf jeder Sitzung, der immer gleich aufgebaut ist: Begrüßung und Blitzlicht als Anfangsritual, Wiederholung der letzten Sitzung und Besprechung der Hausaufgaben, Inhalt der Sitzung, Abschlussritual (vgl. S. 40).

Kapitel 2.4 liefert detaillierte Inhalte zu jeder Sitzung – einschließlich Rational der Sitzung, Praktische Durchführung der Sitzung mit den jeweils relevanten Materialien sowie mögliche Schwierigkeiten und Tipps (vgl. S. 42–43). Exemplarisch ist Sitzung 2 zu nennen, in der mit Hilfe von Psychoedukation und dem „kognitiven Dreieck“ das Thema Emotionen bearbeitet wird (vgl. S. 56–57). Übersichten erleichtern die Planung und Durchführung jeder Einheit (vgl. S. 58–62).

3. Anhänge

Die Anhänge der Veröffentlichung sind sehr umfangreich und enthalten vielfältiges Zusatzmaterial, das für die Umsetzung der Intervention unerlässlich ist. Ein zentrales Element ist das Workbook für Jugendliche (vgl. S. 121), das integraler Bestandteil des Programms ist und während der Sitzungen aktiv von den Teilnehmer:innen genutzt wird. Darüber hinaus bieten die Anhänge eine breite Auswahl an unterstützenden Materialien, wie z.B. Kennenlernspiele (vgl. S. 203), Entspannungsübungen sowie Tools zur Stimmungsabfrage (vgl. S. 213). Diese Methodenelemente ergänzen die einzelnen Sitzungen inhaltlich und methodisch. Ihr gezielter Einsatz wird im Manual, insbesondere im Kapitel 2.4, erläutert.

Diskussion

Die Veröffentlichung überzeugt durch eine ausgesprochen detaillierte und klar strukturierte Darstellung sowohl der theoretischen Grundlagen als auch der praktischen Umsetzung der Intervention. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass mit „ANKOMMEN“ ein fundiertes Programm bereitgestellt wird, das im Alltag von Wohngruppen realistisch durchführbar ist und dabei nur einen moderaten personellen Mehraufwand erfordert. Dies macht den Ansatz für viele Einrichtungen unmittelbar zugänglich. Auch die theoretische Einbettung sowie das Studiendesign sind nachvollziehbar und überzeugend gestaltet. Der eingesetzte Methodenmix aus quantitativen und qualitativen Verfahren ist gut gewählt und ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der Wirksamkeit. Besonders sinnvoll ist zudem die differenzierte Darstellung einzelner Wirksamkeitszusammenhänge, etwa in Bezug auf die Selbstwirksamkeit der Jugendlichen oder die Verringerung belastender Symptome. Die Autoren selbst weisen darauf hin, dass zur eindeutigen Nachweisbarkeit der Effekte eine Kontrollgruppe erforderlich wäre (vgl. S. 25). Insgesamt stellt das Manual jedoch ein wertvolles Werkzeug für die pädagogisch-therapeutische Arbeit mit Jugendlichen dar. Für die Zukunft wäre es zudem begrüßenswert, ein vergleichbares Konzept auch für jüngere Kinder zu entwickeln, um biografiebasierte Unterstützung noch breiter verfügbar zu machen.

Fazit

Die Veröffentlichung überzeugt durch eine gelungene Verbindung von wissenschaftlicher Fundierung und praxisorientierter Anwendbarkeit. Die theoretischen Hintergründe werden verständlich und fundiert dargestellt, während das Manual eine klare, umsetzbare Anleitung für die Praxis bietet. Besonders hervorzuheben ist, dass „ANKOMMEN“ ein realistisches Werkzeug für Fachkräfte in der Jugendhilfe darstellt, das mit überschaubarem Aufwand in den Alltag integriert werden kann. Die differenzierte Evaluation und die anschauliche Darstellung der Intervention machen das Buch zu einer sehr empfehlenswerten Lektüre für alle, die mit fremduntergebrachten Jugendlichen arbeiten.

Rezension von
Christian Busch
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Es gibt 5 Rezensionen von Christian Busch.

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ISSN 2190-9245