Herbert Knappe: Gewalt von und an psychisch Kranken
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 07.01.2025
Herbert Knappe: Gewalt von und an psychisch Kranken. Wege aus einem Dilemma der Psychiatrie. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2025. 150 Seiten. ISBN 978-3-86321-738-9. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 16,07 sFr.
Thema
Das Buch befasst sich mit den Problemen der psychiatrischen Gegenwart. Es enthält, neben der Kritik einzelner Missstände, Vorschläge zur Abhilfe.
Autor
Der 1953 geborene Autor, Herbert Knappe, ist Konditor und Sozialpädagoge. 25 Jahre war er pädagogischer Leiter eines Wohnheims für psychisch erkrankte Menschen.
Aufbau
- Grundlagen
- Kurzer geschichtlicher Abriss der Psychiatrie
- Die sozialpsychiatrische Reformbewegung
- Die Paternalisierung des sozialpsychiatrischen Komplexes
- Stigma
- Gewalt im psychiatrischen Kontext
- Forensisch Verwahrte: Psychisch Kranke ohne Lobby
- Der Maßregelvollzug
Inhalt
Die Grundlagen befassen sich mit der Schizophrenie, einer schweren psychischen Erkrankung. Für Psychosen, von denen die Schizophrenie eine Form darstellt, werden genetische Faktoren als Ursache angenommen.
Als Faustregel gilt die Dritteleinstufung, nach welcher etwa ein Drittel der an einer Psychose erkrankten Menschen vollständig remittiert. Bei einem weiteren Drittel ist die Entwicklung der Psychose nicht absehbar. Beim letzten Drittel handelt es sich bei der Psychose um eine chronische Erkrankung.
Weder die Gabe von Medikamenten noch andere Therapiemaßnahmen können „von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreise“ (S. 27) heilen. Bei der Verabreichung von Medikamenten handelt es sich lediglich um eine Symptombehandlung.
Der geschichtliche Abriss beginnt im 17. Jahrhundert, da es bis zu diesem Zeitpunkt keine ausdrückliche Selektion von psychisch Kranken gab. Mit dem Frühkapitalismus begann das Anstaltswesen. Nach dem zweiten Weltkrieg lag die Behandlung psychisch Erkrankter „in der Verantwortung der über ganz Westdeutschland verteilten 62 Großkrankenhäuser bzw. Anstalten. Diese waren während des Krieges für die Selektion der Menschen zum Abtransport in die Tötungsstationen verantwortlich“ (S. 36).
Die sozialpsychiatrische Reformbewegung löste die Großanstalten auf bzw. reduzierte die Bettenzahl. Es wuchsen in den Städten gemeindenahe Wohnheime, regionale psychiatrische Institutsambulanzen und gemeindepsychiatrische Verbünde. Eine Forderung dieser Bewegung war ambulant vor stationär, was zur Sichtbarkeit der psychisch Kranken sorgte.
Die paternalistische Gewaltausübung (vgl. Jantzen 2001) im sozialpsychiatrischen Komplex basiert auf Franco Basaglia. Letztgenannter hat die Schließung der Anstalten zu verantworten, „ohne ein wirklich alternatives Konzept der Behandlung und Betreuung der psychisch Kranken anbieten zu können“ (S. 43).
Knappe kritisiert das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, da diese sog. UN-BRK nicht die Situation psychisch Erkrankter im Blick hat. Nach der UN-BRK ist der gesellschaftliche Kontext für das Vorliegen einer Behinderung entscheidend. Hieraus schlussfolgert der Autor, „dass in einer optimal barrierefreien Gesellschaft und unter inklusiven Idealbedingungen eine Behinderung – egal welcher Art – nicht mehr existierte“ (S. 50). Für psychisch kranke Menschen ist die Barrierefreiheit – im Sinne der UN-BRK – jedoch eine Barriere. Das Bewegen in der Gesellschaft bereitet ihnen immense Probleme.
Kritik wird am Instrument der standardisierten Hilfeplanung geübt. Die Frage nach einem erfüllten Leben, das über die individuelle Hilfeplanung erreicht werden soll, geht an der Lebenswirklichkeit psychisch Erkrankter vorbei. „Ihre Wünsche zielen meistens auf die Verbesserung bzw. Erhaltung der unmittelbaren Lebensqualität ab“ (S. 62).
Psychisch Erkrankte erfahren Stigmatisierungen, z.B. auf dem ersten Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. „Obwohl die Sozialämter für die Miete und Nebenkosten der […] Wohnungen aufkommen, die finanzielle Seite also für die Immobilienbesitzer gesichert ist, entscheiden sie sich vielfach fürt nichtkranke Mieter“ (S. 69).
Beim Thema Gewalt ist im psychiatrischen Kontext u.a. die Gewalt zu betrachten, die von psychisch Erkrankten ausgeht. Auslösender Faktor ist oftmals die vorliegende psychische Erkrankung, was die Ermittlungsbehörden aber oftmals nicht in Erwägung ziehen. Aber „wer die Vita jener Täter zurückverfolgt, wird in vielen Fällen Hinweise finden, die auf eine spätere Eskalation hindeuten“ (S. 76).
Jemand der nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt wird, hat schuldunfähig bzw. vermindert schuldfähig eine rechtswidrige Tat begangen und wird in der Klinik für forensische Psychiatrie versorgt. Die Behandlung in der forensischen Psychiatrie erfolgt auf der Grundlage eines Gutachtens durch psychiatrisch und forensisch geschulte Gutachter. In Gerichtsprozessen haben Gutachter eine Monopolstellung. Sie „entscheiden wesentlich über die Zukunft eines Menschen“ (S. 84).
Schließlich beleuchtet Knappe den Maßregelvollzug, der „sich in einem gesellschaftlich toten Winkel“ (S. 104) befindet. Hier wird u.a. „das Bedürfnis der Bevölkerung nach mehr (gefühlter) Sicherheit auf dem Rücken jener forensisch Inhaftierten ausgetragen […], die eigentlich längst hätten entlassen werden müssen“ (S. 108).
Mit dem Hinweis auf die UN-BRK wird darauf hingewiesen, dass „psychisch kranke Straftäter nur noch in Akutfällen zwangsweise medikamentiert werden (dürfen – CR). Eine psychopharmakologische Dauerbehandlung ist nicht mehr zulässig“ (ebd.).
Diskussion
Auffallend ist, dass sich die psychische Behinderung von anderen Behinderungsformen unterscheiden, was sich in der Anwendung der UN-BRK niederschlägt, denn „das Besondere an der Konvention war die eigenwillige (weil realitätsferne) Definition von Behinderung […], die lediglich in Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext“ (S. 50) zu erklären ist. Dies geht an den Bedürfnissen von psychisch kranken Menschen vorbei, denn gerade die gesellschaftliche Teilhabe ist hier das Problem. Hier wäre die Konsensfindung eine Aufgabe für die Inklusionsforschung.
Der angeführte ‚tote Winkel‘, in dem sich der Maßregelvollzug befindet, markiert eine Kultur des Schweigens. Nach Paulo Freire ist die Kultur des Schweigens eine „Kultur der Abhängigkeit, in der die beherrschte, die unterdrückte Klasse sich nicht ausdrücken kann“ (Schreiner u.a. 2007, 93).
Fazit
Wie Heribert Knappe in seinem Prolog festhält, richtet sich die Publikation an die Menschen, „die sich zu selbsternannten Fürsprechern für tastsächliche oder vermeintliche Opfer berufen fühlen“ (S. 12).
Literatur
Jantzen, Wolfgang: Unterdrückung mit Samthandschuhen – über paternalistische Gewaltausübung (in) der Behindertenpädagogik. In: Müller, Armin (Hg.): Sonderpädagogik provokant. Luzern 2001, 57–68.
Schreiner, Peter/Mette, Norbert/Oesselmann, Dirk/Kinkelbur, Dieter/Bernhard, Armin (Hg.): Paulo Freire – Unterdrückung und Befreiung. Münster 2007.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 07.01.2025 zu:
Herbert Knappe: Gewalt von und an psychisch Kranken. Wege aus einem Dilemma der Psychiatrie. Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2025.
ISBN 978-3-86321-738-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33028.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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