Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Peter Ullrich, Anna Danilina et al. (Hrsg.): Was ist Antisemitismus?

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 16.01.2025

Cover Peter Ullrich, Anna Danilina et al. (Hrsg.): Was ist Antisemitismus? ISBN 978-3-8353-5070-0

Peter Ullrich, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Jan Weyand (Hrsg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Wallstein Verlag (Göttingen) 2024. 315 Seiten. ISBN 978-3-8353-5070-0. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Reihe: Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart - Band 8.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Wissenschaftliche Ergebnisse von Antisemitismus-Konzepten anhand des Forschungsprojekts »Antisemitismus definieren«.

Herausgeber

  • Peter Ullrich ist Soziologe und Kulturwissenschaftler, Senior Researcher am Zentrum Technik und Gesellschaft und Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
  • Klaus Holz ist Soziologe und Naturwissenschaftler, arbeitet an verschiedenen soziologischen Instituten und ist Leiter des evangelischen Studienwerks Villigst und Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland.
  • Uffa Jensen ist Historiker und Professor für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
  • Jan Weyand vertritt z.Zt. die Professur für Arbeits- und Organisationssoziologie an der FAU Erlangen-Nürnberg.

Entstehungshintergrund

Angesichts der aktuellen sehr kontroversen Debatten über Antisemitismus sollen die komplexen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Reflexionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Inhalt

Nach einer Einleitung werden Grundbegriffe des Antisemitismus vorgestellt, die Problemfelder und unterschiedlichen Positionen, und zum Schluss kritisch die Probleme der Begriffsbildung und Definition.

Einleitung

Judenfeindschaft kann als historisches Phänomen und was die Ursachen anbetrifft nur kontextuell und komplex untersucht und verstanden werden. Das impliziert eine Vielzahl von Sichtweisen. Die Grundlinien der Antisemitismusbegriffe werden analysiert, um den Blick für die Vielfalt zu öffnen.

Grundbegriffe

Peter Ullrich und Uffa Jensen befassen sich mit dem Terminus Antisemitismus und Katharina von Kellenbach mit den historischen (christlichen, mythologischen, säkularen) Grundlagen des Antijudaismus. Jan Weyand beschreibt den modernen Antisemitismus nach der rechtlichen Gleichstellung der Jüdinnen*Juden: Vormals religiös geprägte und getrennte Alltagslebenswelten veränderten sich mit der zunehmenden Emanzipation. Michael Wildt thematisiert den NS-Erlösungsantisemitismus (Saul Friedländer) und Klaus Holz den sekundären Schuldabwehr-Antisemitismus nach dem Holocaust. Sina Arnold und Thomas Hauty befassen sich mit dem ‚Neuen Antisemitismus‘ als Hass gegen Israel (auch von der Linken) und Sina Arnold und Michael Kiefer mit dem muslimischen/​arabischen/​islamisierten. Postkolonialen Antisemitismus bearbeitet Jan Weyand und Vanessa Rau zum Schluss den Philosemitismus als eine Spielart des Antisemitismus.

Problemfelder

Klaus Holz und Peter Ullrich untersuchen die Kultur und Organisation des Antisemitismus unter Berücksichtigung der Einstellungen und Vorfälle. Peter Ullrich befasst sich mit Arbeitsdefinitionen wie die ‚Jerusalemer Erklärung‘ und des EU-Monitoring Centrum (EUMC), mit Debattenschwerpunkten und deren Brauchbarkeit in der Bildungsarbeit. Die Erklärung des Rassismus Monitoring Zentrum (EUMC) nimmt Entwicklungsaspekte auf und wird vor allem in der Bildungsarbeit trotz kontroverser Debatten benutzt. Antworten auf die Arbeitsdefinitionen werden am Schluss vorgestellt. – Sina Arnold und Felix Axter thematisieren Antisemitismus und Rassismus, Unterscheidungen und Gemeinsamkeiten und Peter Lintl und Peter Ullrich gehen auf reale Nahostkonflikte und Antisemitismus ein. Meron Mendel reflektiert ‚umkämpfte Sprechpositionen‘ in der Antisemitismusdebatte, historisch und aktuell, und Peter Ullrich beschreibt ‚Zwei Familien von Antisemitismusbegriffen‘ mit und ohne Juden.

Weitere Beiträge sind „Psychoanalyse des Antisemitismus“ (Ilka Quindeau), „Antisemitismus als Element von Autoritarismus“ (Jan Weyand), „Antisemitimus als Vorurteilsforschung“ (Uffa Jensen). „Einstellungsforschung zum Antisemitismus“ (Heiko Beyer), „Rationalität und Emotionalität“ (Uffa Jensen), „Antisemitismuskritische Bildungsarbeit: Definitionen und ihre Anwendungskonzepte“ (Ingolf Seidel).

Positionen

  • Annette Vowinkel: Hannah Arendts Theorie und Geschichte des Antisemitismus.
  • Jan Wyand: Max Horkheimer und Theodor Adorno: Elemente des Antisemitismus.
  • Uffa Jensen: Jean-Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage.
  • Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code.
  • Frank Engster: Moishe Postone und die »Personifizierung des Abstrakten«.
  • Detlev Claussen: Antisemitismus und Alltagsreligion.
  • Helen Fein: Latente Struktur judenfeindlicher Überzeugungen.
  • Michael Kohlstruck: Zygmunt Baumann ‚Allosemitismus, Proteophobie und Ambivalenz‘.
  • Jan Wyand: Klaus Holz ‚Nationaler Antisemitismus‘.
  • Gottfried Kößler: Astrid Messerschmidt ‚Verstrickungen‘.
  • Hans-Joachim Hahn: Judith Butler ‚Kritik instrumenteller Antisemitismusvorwürfe‘.
  • Uffa Jensen: Monika Schwarz-Friesel ‚Verbalantisemitismus‘.
  • Stefanie Schüler-Springorum: Judeophobie – ein neues Wort für flexibleres Denken.

Probleme der Begriffsbildung und Definition von Antisemitismus

Peter Ullrich: Vielfalt und Leerstellen der Debatten der Antisemitismusverständnisse gehen ursächlich auf unterschiedliche historische, politische, fachliche, methodische und praktische Kontexte zurück, die nicht allgemein verbindlich sind und es auch nicht sein können.

Es gibt den sozialen Kontext unterschiedlicher Interessen, Positionen und Betroffenheit. Auch ist der Sinn im Begriff nicht eindeutig festgelegt und in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich je nach Rückgriff auf Beispiele oder emotionale Assoziationen, d.h. es gibt unterschiedliche Gütekriterien und Begriffsbildungen. Definitionen sind Herausforderungen, können aber auch ideologische Fallstricke sein: Soviel zu den allgemeinen Problemen.

Acht Probleme der Begriffsbildung und Antisemitismus:

  1. Die Begriffs- und Bezeichnungspolitiken sind historisch geprägt (Sprachverwirrung) und in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Handlungsfeldern unterschiedlich. 
  2. Das Problem der Temporalität I: Definitionen verändern sich historisch, z.B. bezogen auf Aufklärung, Industriealisierung, Rassismus oder Moderne. 
  3. Das Problem der Spezifität: Was ist Antisemitismus und was nicht, z.B. angesichts bestimmter Konfliktsituationen (Gaza-Krieg)? 
  4. Das Zurechnungsproblem: Hass zeigt sich in Vorurteil, Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt und braucht Täter*innen. Davon abzugrenzen sind vorgängige soziale Ordnungen, die nicht konkret zuzuordnen sind, und ein intentionaler und intentionsloser Antisemitismus. 
  5. Antisemitismus ist eine Antisemit*innenfrage und nicht speziell eine Judenfrage (wie z.B. Eigenheiten von den Juden und Jüdinnen), denn Juden werden kollektiv zu ‚Juden‘ gemacht, ein Korrespondenz- bzw. Konstruktionsprinzip.
  6. Antisemitismus sitzt im Kopf oder der Psyche des Individuums, in der Gruppe, der Organisation und der Kultur. Lässt sich Antisemitismus spezifisch und charakteristisch von Rassismus abgrenzen oder ist das eine Perspektivenverengung? Es geht darum, die Spezifika herauszuarbeiten und unser Wissen zu bereichern. 
  7. Antisemitismustheorien lassen sich unterscheiden zwischen individuellen und gesellschaftlichen. Individualistische Theorien gehen aber auch von Gruppen aus, Korrespondenztheorien hingegen von sozialpsychologischen und interaktionistischen Ansätzen, die einen stärkeren Gesellschaftsbezug haben. Fast alle sind konstruktivistisch auf Eigenheiten von Jüdinnen*Juden bezogen, im Gegensatz zur Vorurteils- und Einstellungsforschung (z.B. Autoritarismus). Dem stehen konstruktivistisch-soziale Theorien gegenüber mit einer kultur- und diskurstheoretischen Perspektive. 
  8. Das Problem der Temporalität II: Ullrich knüpft an Holocaust und Postholocaust an, einen Erlösungs- und Vernichtungs-Antisemitismus, einen Tiefpunkt menschlicher Zivilisation und an die gesamte Geschichte von Judenfeindschaft als Vorgeschichte des Holocaust. Postnazistisch haben sich die Kommunikationsbedingungen verändert durch die weitgehende Abwesenheit von Jüdinnen*Juden, besonders in deutschsprachigen Ländern, und einen sekundären Antisemitismus durch Schuld- und Schamverdrängung. Einstellungsforschungen zeigen einerseits eine Kontinuität, andererseits Kommunikationstabus.

Vereinheitlichung geschieht durch Abgrenzung von universelleren gruppenunspezifischen Feindschaftsproblemen, der Bedeutung des historischen und sozialen Orts, der inhaltlich überdauernden Merkmale. Überdauernde und sich wandelnde Merkmale sind Selbst- und Fremdbilder, aber auch unintendierte Effekte. Systematische Reflexionskriterien sind realhistorische Ausgangssituationen, politisch diskursive Kämpfe, ein Kontingenzbewusstsein für die Grenzen begrifflicher Fixierung, die Komplexität sozialer Gegenstände und die historische Vielfalt der Sichtweisen. Postnazistischer Antisemitismus ist eine Herausforderung und eine leidvolle Erfahrung der Betroffenen. Antisemitismus, der negativ als etwas zu Bekämpfendes bewertet wird, widersteht sachlicher wissenschaftlicher Beschreibung; das ist ein kaum zu überbrückendes Spannungsverhältnis, da Gefühle eine Rolle spielen.

Die Vielfalt der Sichtweisen kann aber auch zum Ausgangspunkt produktiver Gespräche werden.

Diskussion

Dies ist ein notwendiges, wenn auch nicht leicht zu lesendes Buch, und schon gar nicht eins, das Rezepte zum Umgang und zur Bekämpfung von Antisemitismus gibt. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Sichtweisen und Bezüge, die sich mit dem Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven befassen, ist ernüchternd und gleichzeitig eine Warnung vor allzu kurz schlüssigen Interpretationen und Konzepten. Neben religiösen, politischen, kulturellen, sozialen Bezügen gibt es auch ganz persönliche Motive, die mehr mit dem Bild, das man sich von Juden macht, zu tun haben als mit persönlichen Erfahrungen, denn Antisemitismus gibt es auch ohne direkten Kontakt mit Juden, – ein Phänomen, das man nicht einmal bei Mobbingopfern beobachten kann. Insofern ist es verständlich, dass der Leser zunächst in einem ratlosen Zustand zurückgelassen wird, weil er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Das ist aber nur der Anfang, denn wenn man sich mit den einzelnen gründlich recherchierten Kapiteln (und der weiter führenden Literatur) beschäftigt, kommt man in einen Prozess hinein über eigene judenfreundliche oder judenfeindliche Gefühle und Vorurteile nachzudenken, deren Herkunft in der persönlichen Biographie und in kulturellen, religiösen oder politischen Prägungen zu suchen ist. Zudem stößt man wie die Menschen in Platons Höhlengleichnis auf Widerstände gegen Aufklärung, die immer mit einer Kritik des bisherigen Selbstverständnisses verknüpft sind und mit persönlichen, evtl. auch überlieferten, Vorurteilen, was einerseits Selbstzweifel und Selbstkritik bedeutet, andererseits aber auch eine gesunde Neugier an Entdeckungen und neue Sichtweisen.

Neugier ist angeboren, man kennt das von allen gesunden Kindern. Aber Neugier kann gefördert oder unterdrückt werden, was insbesondere in fundamentalistischen religiösen, politischen und sozialen Umgebungen der Fall ist, weil jeder Fundamentalismus in bestimmten Fragen Zweifel, auch Selbstzweifel, scheut wie der Teufel das Weihwasser.

In politischen und gesellschaftlichen, aber auch persönlichen oder familiären Krisenzeiten wächst das Bedürfnis nach Halt gebenden sicheren Fundamenten, auch wenn diese auf Sand gebaut sind. Das ist offensichtlich ein menschliches Phänomen, das auch bei israelischen Fundamentalisten zu finden ist, und Aufklärung scheut und Kompromisse erschwert oder unmöglich macht.

Im Judentum gibt es eine lange Tradition des Zweifels, eine Tradition die auch – siehe das Buch Hiob – vor Gott nicht Halt macht, aber gleichzeitig auch eine Tradition religiöser Orthodoxie, die Kompromisse erschwert, obgleich diese sowohl im persönlichen, sozialen und politische Bereich immer wieder gefunden werden müssen, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Das stellt allerdings die Verfügbarkeit des Anderen in Beziehungen infrage, was ein Grundproblem des Antisemitismus ist, indem über Menschen jüdischer Herkunft verfügt wird, ohne sie zu kennen oder die Augen vor der Vielfalt jüdischer Menschen zu verschließen, auf die Moshe Zimmermann hingewiesen hat: Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik sind drei verschieden Dinge, weil nicht alle Juden Zionisten sind, nicht alle Zionisten Israelis und nicht alle Israelis Juden und – nicht alle Juden religiös.

Fazit

Dieses Buch kann, auch wenn es nicht einfach zu lesen ist, zu einer Fundgrube von Selbstverständnis und Anregung zu Selbstkritik beim Nachdenken über Antisemitismus werden.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
Mailformular

Es gibt 125 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245