Tony Attwood, Michelle Garnett: Depressionen erkunden und Trübsal vertreiben
Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. Franziska Günauer, 14.03.2025

Tony Attwood, Michelle Garnett: Depressionen erkunden und Trübsal vertreiben. Ein Leitfaden auf Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie zur Bewältigung von Depressionen bei Autismus. Autismusverlag Schweiz (St. Gallen) 2024. 241 Seiten. ISBN 978-3-03852-073-3. D: 33,00 EUR, A: 33,00 EUR, CH: 35,00 sFr.
Thema
Thema des Buches ist das Verstehen und Bewältigen von Depressionen bei Personen im Autismusspektrum. Das Buch ist angelegt als ein Manual für die Selbsthilfe, empfohlen wird aber, es im Rahmen einer Selbsthilfegruppe, mit einer therapeutischen Fachkraft oder einer anderen Bezugsperson zu bearbeiten.
Herausgeber:innen
Herausgebende sind der renommierte Psychologe und Leiter einer Klinik für autistische Menschen in Australien Tony Attwood und die klinische Psychologin Michelle Garnett. Beide haben viele Jahrzehnte mit Menschen mit Autismus gearbeitet und gelten als international anerkannte Expert*innen für Autismus.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Manual ist bereits 2016 in London publiziert worden. Es basiert auf den Erfahrungen, die die beiden Autor*innen in der Behandlung von Autist*innen mit Depressionen in der von ihnen geleiteten Klinik gemacht haben. 2024 erschien die deutsche Übersetzung des Manuals im Schweizer Autismusverlag.
Aufbau
Das Manual besteht aus zwei Teilen, die von einer Einleitung sowie Literatur- und Websiteempfehlungen und Anhängen gerahmt werden. Der erste Teil des Manuals bietet Informationen zu Depressionen und Autismus. Im zweiten Teil wird das Arbeitsprogramm von „Depressionen erkunden“ vorgestellt.
Inhalt
Das Manual beginnt mit einer Einleitung, in der die Autor*innen darstellen, dass Autismus nicht zwingend mit einer Depression einhergeht, jedoch die Depression bei vielen autistischen Menschen eine Reaktion auf schwierige Lebenserfahrungen darstellt. Attwood und Garnett erörtern, dass es Besonderheiten hinsichtlich Depressionen bei autistischen Menschen gebe. So falle es den Betroffenen schwerer, ihre Emotionen mitzuteilen, und es gäbe heftige Verzweiflungsschübe und eingeschränktere „emotionale Reparaturmechanismen“ (S. 5). Das Arbeitsprogramm basiert auf der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), die Auswahl der Aufgaben und Übungen erfolgten unter Berücksichtigung der besonderen Bedarfe autistischer Menschen.
Der erste Hauptteil trägt die Überschrift „Den Zusammenhang zwischen Depressionen und Autismus verstehen“ und bietet theoretisches Grundlagenwissen. Dieser Teil besteht aus sieben Unterkapiteln, das erste befasst sich mit „Warum wird ein autistischer Mensch depressiv?“. Die Autor*innen stellen dar, dass schon autistische Jugendliche, erst recht aber ältere autistische Menschen in besonderem Maß von Depressionen betroffen seien. Gründe für Depressionen seien u.a. „das Gefühl sozialer Isolation und Einsamkeit“ (S. 9). Zudem würden Autist*innen oft über bestimmte soziale Situationen und ihr Verhalten grübeln und hierdurch in Erschöpfungszustände geraten. Aber auch Gerüche, Geschmäcker, Licht und andere Reize könnten überfordern und bei fehlenden Vermeidungs- und Bewältigungsstrategien ebenfalls in eine Depression führen (S. 11). Weiter hätten manche Autist*innen einen „sechsten Sinn für Emotionen“ und eine „gesteigerte Empfindsamkeit“ (S. 12). Sie nähmen negative Emotionen und Stimmungen bei anderen Personen wahr, spürten diese auch in sich selbst und seien so deutlich belastet.
Weil autistische Personen ihre Sorgen, Probleme und negativen Gefühle oft für sich behalten würden und es ihnen zudem schwererfalle, positive Erfahrungen präsent zu halten könnte die Dauer und Intensität einer Depression verlängert bzw. verstärkt werden (S. 13). Frühe, körperliche und psychische Warnsignale einer Depression würden von Autist*innen mitunter nicht bemerkt werden, sodass es ihnen nicht gelänge, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen (S. 14–15). Weiter schienen Autist*innen ähnlich einer Panikattacke Depressionsattacken zu erleben. Hierbei komme zu dem emotionalen Ballast lang angestauter negativer Erfahrungen eine „Kleinigkeit“ und daraus resultiere ein so plötzlicher und starker Leidensdruck, dass es zu einer Kurzschlusshandlung kommen könne (S. 15).
Das zweite Kapitel ist überschrieben mit „Das Wesen der Depression“. In diesem Kapitel werden Fachinformationen zum Erkennen einer Depression und einer bipolaren Störung gegeben.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Frage „Wie zeigt sich eine Depression bei autistischen Menschen?“ (S. 21). Es wird dargestellt, dass die grundlegenden Symptome die gleichen seien wie bei nicht-autistischen Menschen, es jedoch ein paar Besonderheiten gäbe. Z.B. dass bei Autist*innen im Rahmen einer Depression auch Wut auftrete sowie heftige Wutausbrüche (S. 22). Weitere Besonderheiten seien, dass viele Autist*innen Alexithymie hätten, d.h. dass es ihnen schwerfalle, Gefühle wahrzunehmen, einzuordnen und zu verbalisieren. Auch Probleme mit dem Verknüpfen bestimmter Erfahrungen mit Gefühlen und Masking (d.h. sich verstellen, Gefühle verstecken) zeichneten Autist*innen aus und gingen mit Depressionen einher (S. 23–26).
Im vierten Kapitel steht die Frage „Welche Therapieform eignet sich für autistische Menschen?“ im Zentrum. Zunächst wird die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) vorgestellt. Von dieser wurden einige Komponenten in das Programm „Depressionen erkunden“ aufgenommen. Im Folgenden werden diese Komponenten sowie weitere Behandlungsansätze erläutert, z.B. dass mit Visualisierungen wie Wochenplänen gearbeitet werde.
Das fünfte Kapitel befasst sich mit „Wahrnehmungsart, Lern- und Denkstile bei Autismus“ (S. 35). Die Autor*innen stellen hier autistische Besonderheiten dar, wie z.B. Schwierigkeiten mit der Planung von Handlungsabläufen, Angst vor Fehlern, das Bedürfnis nach Berechenbarkeit sowie sensorische Probleme.
Das sechste Kapitel gibt einen „Überblick über das Programm Depressionen erkunden“ (S. 47). Es handelt sich um ein Programm, das auf zehn Wochen angelegt ist, und daher aus zehn Stufen besteht. In Stufe 1 geht es um das Erkennen der „persönlichen Stärken, Eigenschaften und Fähigkeiten“ (S. 49). Stufe 2 umfasst eine Psychoedukation zu Depression. Ab Stufe 3 werden „Werkzeuge“ erarbeitet, die bei der Vermeidung und Bewältigung von Depressionen helfen sollen. In Stufe 9 wird ein „Sicherheitsplan“ erarbeitet und in Stufe 10 wird der Blick auf positive Zukunftsperspektiven gerichtet.
In Kapitel sieben wird dazu eingeladen, zu evaluieren, wie es zur Depression gekommen ist, bevor dann im zweiten Teil das Programm beginnt.
Der zweite Hauptteil ist eine Art Arbeitsbuch mit viel Platz für persönliche Eintragungen im Rahmen der zu bearbeitenden Übungen und Aufgaben. Dabei handelt es sich zum einen um die verschiedenen „Werkzeuge“, die die Nutzer*innen im Laufe des Programms kennenlernen und praktisch erproben. Zum anderen gilt es, täglich „Selbsterfahrungsübungen“ zu machen, die dem entsprechen, was man gemeinhin als Achtsamkeitsübungen bezeichnet, sowie ein Komplimente-Tagebuch zu führen über erhaltene und selber ausgesprochene Komplimente, mit dem Ziel, das Selbstwertgefühl zu verbessern. Ebenso gehören ein Wochenplan und das tägliche Ausfüllen von Auswertungsbögen bezüglich der Anwendung des Erarbeiteten zu den Kernelementen jeder Stufe.
Diskussion
Nachdem davon auszugehen ist, dass mindestens 1 % der Bevölkerung autistisch ist (vgl. Dziobek/​Stoll 2019, S. 13) und ein Großteil dieser Personen zusätzlich von einer Depression betroffen ist, ist es höchste Zeit, dass ein deutschsprachiges Manual zur Behandlung von Depressionen bei Autist*innen veröffentlicht wird.
Die Ausführungen zu Depressionen im Kontext von Autismus im ersten Teil des Buches haben meines Erachtens eine hohe Relevanz, da es hierzu kaum Literatur gibt. Gefehlt haben mir Informationen zum „autistischen Burnout“, doch das hängt vermutlich damit zusammen, dass das Manual erstmalig 2016 erschienen ist und das Thema „autistischer Burnout“ erst danach an Bedeutung gewann.
Die Autor*innen schreiben, dass das Manual für die Selbsthilfe gedacht ist. Mir erschienen einzelne Arbeitsaufträge im zweiten Teil zu komplex für das Bearbeiten in Eigenregie. Auch die Fülle an Übungen und Arbeitsaufträgen sowohl im Rahmen der Stufen selbst als auch die tagtäglich auszuführenden Aufgaben empfand ich als zu umfangreich. Gut geeignet finde ich das Manual daher eher als Ideen-Quelle für Psychotherapeut*innen, die autistische Menschen mit Depressionen behandeln und nach Anregungen suchen, welche Übungen für ihre Patient*innen hilfreich sein können.
Fazit
Mit diesem Manual wird eine Leerstelle im Bereich der psychologischen (Selbsthilfe-)Literatur gefüllt. Das Werk besteht aus zwei Teilen. Während der erste Teil fundiertes Wissen zu Depressionen bei Autismus vermittelt, ist der zweite Teil ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe für von Depressionen betroffene Autist*innen.
Quellenangabe
Dziobek/​Stoll (2019): Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Kohlhammer-Verlag
Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. Franziska Günauer
Diplom-Sozialpädagogin, Erziehungswissenschaftlerin (MA), berufstätig als Pädagogin auf der Station für Menschen mit geistiger Behinderung, Autismus und anderen Entwicklungsstörungen des ZfAE des kbo-Isar-Amper-Klinikums, Region München
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Franziska Günauer.