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Manon Mannherz, Ismene Ditrich et al.: Die Welt autistischer Frauen und Mädchen

Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. Franziska Günauer, 03.04.2025

Cover Manon Mannherz, Ismene Ditrich et al.: Die Welt autistischer Frauen und Mädchen ISBN 978-3-407-86183-2

Manon Mannherz, Ismene Ditrich, Christa Koentges: Die Welt autistischer Frauen und Mädchen. Warum sie anders genau richtig sind. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 256 Seiten. ISBN 978-3-407-86183-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

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Thema

Thema des Buches ist Autismus bei Mädchen und Frauen und wie diese lernen können, mit Autismus ein zufriedenstellendes und erfüllendes Leben zu führen.

Autor:innen

Autorinnen sind Manon Mannherz, Autistin und Heilpraktikerin, Dr. med. Ismene Ditrich, Psychiaterin und Leiterin der Spezialsprechstunde für Autismus-Spektrum-Störungen und Dr. Christa Koentges, Psychologische Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Entwicklungsstörungen und Emotionale Instabilität. Alle drei Autorinnen arbeiten in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg.

Aufbau

Das Buch besteht aus neun Kapiteln. In diesen Kapiteln werden verschiedene Aspekte rund um das Thema Autismus beleuchtet, z.B. was Autismus ist, wie er sich im Lebensverlauf zeigt, Begleiterkrankungen, Ressourcen von Autistinnen, Diagnostik, Therapie und Selbsthilfe, sowie Bewältigung des Alltags und Identitätsfragen. Gerahmt werden die Kapitel durch ein Vorwort sowie ein Adressenverzeichnis und Anmerkungen.

Inhalt

Das Werk beginnt mit einem Vorwort von Dr. med. Andreas Riedel, dem Leiter der Autismus-Ambulanz für Erwachsene der Luzerner Psychiatrie, der sich mit den (idealtypischen) Ausprägungen von Autismus bei Frauen und Männern befasst und Hinweise gibt, warum autistische Frauen oftmals später diagnostiziert werden als autistische Männer.

Daran schließt sich das erste Kapitel an, das überschrieben ist mit „Was ist Autismus?“ (S. 12). Die Autorinnen beleuchten was Autismus ist und stellen dar, dass einzelne autistische Merkmale nicht zwingend bedeuten, dass eine Person Autismus hat. Darauf folgt eine „Mathestunde“ (S. 36), in der es um die Prävalenz von Autismus geht. Eine „Geschichtsstunde“ (S. 38) zu den ersten mit Autismus diagnostizierten Mädchen und Frauen. Eine „Biologiestunde“ (S. 39) zur Entstehung von Autismus. Und eine „Physikstunde“ (S. 42) über die Auffassung von Autismus als Spektrum und Begriffe, die damit im Zusammenhang stehen, wie z.B. der Broader Autism Phenotype (S. 44). Auch die Frage, ob Autismus nun eine „Krankheit, Struktur, Störung oder Behinderung“ (S. 46) ist, sowie Konzepte der Neurodiversitätsbewegung (S. 47) werden erörtert.

Der Titel des zweiten Kapitels lautet „Autismus im Alltag“ (S. 50). Das Kapitel setzt bei der Spoon Theory an, die als „Metapher für das notwendige Energiemanagement“ steht (S. 50). „Eine Handvoll Löffel [dient] als Sinnbild für die täglich verfügbare Menge an Lebensenergie“ (S. 50). Ein weiterer Vergleich, den die Autorinnen in diesem Kapitel einführen, beschreibt, dass bei Autistinnen innere Bilder bezüglich der Zukunft in „schnell abbindenden Zement“ eingegossen werden, weshalb Veränderungen als große Irritation und Stressfaktor erlebt werden (S. 54). Nichtautistische Personen hingegen würden „eher mit Ton […] planen, der länger formbar bleibt und ihnen Flexibilität gestattet“ (S. 61). Die Autorinnen stellen dar, dass Stimmung und Routinen für Autistinnen Mittel gegen Stress sind (S. 55). In diesem Kapitel werden des Weiteren Themen wie schwache Reizfilter (S. 63), das Autistische Burn-out (S. 70), neurodivergente Familien (S. 72), Untergruppen in der autistischen Community (S. 74), die Zugehörigkeit zu Gruppen und Freundschaften (S. 76) sowie der Umgang mit „Hierarchie und Autorität“ (S. 86) u.a. angesprochen.

Das dritte Kapitel betrachtet die Zeit „Vom Kindergarten bis zur Menopause“ (S. 88). In diesem Kapitel geht es um Erfahrungen autistischer Mädchen und Frauen im Kindergarten, in der Schule, in der Pubertät, in romantischen Beziehungen, in der Ausbildung und im Studium, als Mutter, als Single und als ältere Frau. Dabei werden zentrale Lebensthemen von autistischen Mädchen und Frauen beleuchtet, z.B. das Leben zwischen „Anpassung und Einsamkeit“ (S. 99).

Im vierten Kapitel geht es um „Begleiterkrankungen bei autistischen Frauen und Mädchen“ (S. 116). Die Autorinnen stellen dar, dass „ein Großteil der autistischen Frauen und Mädchen […] an einer sogenannten psychischen Komorbidität [leidet]“ (S. 116). Dies liegt an den Stressfaktoren, denen Autistinnen ausgesetzt sind, aber auch an Lebenserfahrungen (S. 117–118). Die Autorinnen schreiben, dass die erstmalige Diagnose von Autismus oft verbunden sei mit der Hoffnung, „dass Probleme verstehbar werden, sich Lösungen finden und das Leben insgesamt leichter wird“ (S. 118). Doch Komorbiditäten könnten dies verhindern. „Manchmal kann eine Autismus-Diagnose auch erst mit Sicherheit gestellt werden, wenn Komorbiditäten […] behandelt wurden, weil sie das Bild der Symptome verzerren“ (S. 119). Im weiteren Verlauf des Kapitels werden sämtliche psychiatrische Komorbiditäten wie AD(H)S, Depressionen, Angst usw. vorgestellt. Zudem gehen die Autorinnen ein auf das „Hormonchaos“ bei Autistinnen in Bezug auf die Menstruation und die Wechseljahre (S. 143).

Das fünfte Kapitel trägt die Überschrift „Ressourcen und Stärken von autistischen Frauen und Mädchen“ (S. 146). In diesem Kapitel wird dargestellt, dass Autistinnen über eine ganze Reihe an Stärken verfügen, z.B. Genauigkeit und Präzision (S. 149), Zuverlässigkeit (S. 150), logisches Denken (S. 155) und Beharrlichkeit (S. 156).

Das sechste Kapitel widmet sich dem Thema „Diagnose und Diagnostik bei autistischen Frauen und Mädchen“ (S. 161). Ausführlich werden die Vor- und Nachteile einer „offiziellen“ Diagnostik dargestellt (S. 166–167) und es wird erläutert, wie man eine Diagnostikstelle findet und was eine gute Diagnostik umfassen sollte. Die Autorinnen gehen auch auf die Relevanz der Fremdanamnese mit einer Person, die die Patientin schon in der Kindheit erlebte, ein, denn „der Nachweis, dass Schwierigkeiten oder Eigenarten bereits ab der Kindheit vorhanden waren und nicht erst im Laufe des Lebens erworben wurden, ist […] für eine Autismus-Diagnose zwingend erforderlich“ (S. 173).

Das siebte, relativ kurze Kapitel „Identitätsprobleme und die Jagd nach dem 'wahren' Ich“ (S. 179) befasst sich mit dem Identitätserleben und dem Erleben von Selbstwert bei Autistinnen.

„Therapie für autistische Frauen und Mädchen“ (S. 189) lautet die Überschrift des achten Kapitels. Es wird erläutert, dass neben dem Zurechtkommen mit Lebensereignissen und dem Umgang mit Belastungen Themen wie Psychoedukation (S. 193), der Umgang mit autismustypischen Problemen (S. 195), Identität, Selbstkonzept und Selbstwert (S. 196) Inhalte einer Psychotherapie sein können. Zudem werden autismusspezifische Therapieansätze wie TEACCH, TOMTASS, FASTER und GATE kurz vorgestellt (S. 197–198). Auch die Themen Gruppentherapie (S. 203) und psychosoziale Unterstützungsangebote für autistische Mädchen (S. 204) werden erwähnt.

Das neunte Kapitel zeigt Wege der „Selbsthilfe für autistische Frauen und Mädchen“ auf (S. 206). Im Zentrum dieses Kapitels steht die Einladung an Autistinnen ihr Projekt „Leben als Autistin“ zu starten (S. 207). Dazu gehört vor allem ein gutes „Löffelmanagement“. Die Autorinnen bieten zum einen konkrete Übungen an, übersichtlich in rosa Kästen dargestellt. Zum anderen stellen sie dar, wie z.B. Schlafhygiene (S. 220), Essgewohnheiten (S. 221), Stimming (S. 225) und Routinen (S. 227) helfen können, als Autistin ein zufriedenstellendes Leben führen zu können. Dabei gehen die Autorinnen auch auf das Thema „Un-Masking“ ein (S. 241).

Diskussion

Kurz zusammengefasst lautet mein „Urteil“ zu diesem Buch: Super! Das Buch zeichnet sich durch mehrere Stärken aus. Zunächst wäre zu nennen, dass die verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen der Autorinnen, als Ärztin, als Psychotherapeutin und als Autistin eine absolute Bereicherung darstellen. Es werden die Fragen und Themen aufgegriffen, die in der autistischen Community, aber auch in Fachkreisen diskutiert werden.

Meinem Erleben nach klafft hier oftmals eine Lücke, weil in Teilen der (deutschen) Fachwelt konservative Vorstellungen von Autismus gepflegt werden, die mit einem progressiveren Autismusverständnis, vor allem in englischsprachigen Ländern, aber auch der zum Teil sehr belesenen, medienaffinen und des Englischen mächtigen autistischen Community kollidieren. In wohltuender und fachlich hochkompetenter Weise gelingt es den Autorinnen diese Kluft zu schließen. So stellen sie z.B. dar, wie die Lebensrealität autistischer Frauen dazu führen kann, dass Kernsymptome von Autismus auf den ersten Blick nicht (mehr) so klar erkenntlich sind (S. 61–62) und wie eine gendersensible und dennoch dem „Goldstandard“ entsprechende Diagnostik aussehen kann, die das Gewordensein der Frauen berücksichtigt.

Auch bieten sie Verstehenskonzepte an, die ich in der deutschen Fachwelt als zum Teil noch wenig etabliert erlebe. Z.B. stellte im Rahmen eines Kongresses in Deutschland eine Referentin das vermehrte Auftreten „autistischer“ Symptome bei einer Jugendlichen in den Kontext des Wunsches mit der als „attraktiv“ erlebten „Modediagnose“ Autismus diagnostiziert zu werden. Die Autorinnen dieses Buches schreiben hierzu: „Unserer Erfahrung nach liegt das [viel 'autistischer' sein] meistens daran, dass sie [die Autistinnen] sich jetzt erst [nach der Diagnose] ihrer lange vertuschten Bedürfnisse bewusst werden und wagen, sie zu äußern“ (S. 60).

Selbst bei umstrittenen Themen, wie Haltungen der zum Teil recht radikalen Neurodiversitätsbewegung (S. 47) oder dem Konzept von Pathological Demand Avoidance (PDA, S. 74) überzeugen die Autorinnen mit einer von Wertschätzung geprägten Einordnung.

Ein weiteres Highlight ist aus meiner Sicht, dass die Autorinnen Phänomene beschreiben, die mir aus dem Umgang mit Autist*innen bekannt sind, die ich aber noch nie so explizit beschrieben fand. Hierzu zählen z.B. die Ausführungen zum Kontaktabbruch durch Autistinnen (S. 83).

Für Autistinnen selbst dürften die zahlreichen Tipps wie sie z.B. mit Planänderungen besser umgehen können oder wie vorgegangen werden kann, wenn es gilt, „Neuland“ zu betreten, wertvoll sein (S. 229).

Unbedingt erwähnt werden muss auch, dass das Buch mit einer Menge Humor und Witz verfasst wurde, sodass es eine wahre Freude ist, es zu lesen.

Fazit

Das Buch „Die Welt autistischer Frauen und Mädchen“ von Manon Mannherz, Ismene Ditrich und Christa Koentges ist nicht nur ein Ratgeber und Selbsthilfebuch für Autistinnen, sondern bietet darüber hinaus auch Interessierten und Fachleuten vertiefte Einblicke und wertvolle Grundlagen für ein besseres Verständnis von Autismus bei Frauen und Mädchen.

Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. Franziska Günauer
Diplom-Sozialpädagogin, Erziehungswissenschaftlerin (MA), berufstätig als Pädagogin auf der Station für Menschen mit geistiger Behinderung, Autismus und anderen Entwicklungsstörungen des ZfAE des kbo-Isar-Amper-Klinikums, Region München
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Es gibt 14 Rezensionen von Franziska Günauer.

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ISSN 2190-9245